John Henry Newman: Rückhaltlos der Wahrheit verpflichtet
Hermann Geißler führt lesenswert in das Werk des großen Theologen und Konvertiten ein
Quelle
Hl. Kardinal Newman (28)
20.03.2024
Um es gleich vorweg zu sagen: Das vom Theologen und Ordenspriester (FSO) Hermann Geißler verfasste Buch über John Henry Newman gehört in jede theologische Bibliothek. Dies nicht nur, weil darin ein präziser Überblick über Newman und seine Theologie geboten wird, sondern auch wegen der theologischen Prämissen, die von bleibender Gültigkeit sind.
Newmans Ringen um den rechten Weg
Das erste Kapitel ist dem Leben und Denken Newmans gewidmet, der als “Zeuge des Glaubens” dem Leser nähergebracht wird.
Damit wird Wesentliches über Newman gesagt, denn der Glaube war für ihn keine Meinung oder subjektive Ansicht, sondern die geoffenbarte Wahrheit, der es zu folgen gilt. Nach ihr hat er sein Leben lang gesucht, selbst dann, wenn die Ergebnisse der Suche mit Unannehmlichkeiten oder persönlichen Nachteilen verbunden waren. Vor seiner Bekehrung zum katholischen Glauben war seine Suche nach der Wahrheit von drei Prinzipien geprägt. Erstens “das dogmatische Prinzip, nach dem der christliche Glaube mit Wahrheit zu tun hat; zweitens das kirchlich-sakramentale Prinzip, gemäß dem Christus eine sichtbare Kirche mit Sakramenten gestiftet hat, durch die er seine unsichtbare Gnade vermittelt; und drittens das anti-römische Prinzip”. Das letzte Prinzip hat Newman später ausgetauscht, denn seine Vorstellung, es gäbe eine Via Media, einen Mittelweg zwischen katholischem und protestantischem Glauben – den Anglikanismus –, erwies sich als unhaltbar. Geißler beschreibt anschaulich das Ringen Newmans um den rechten Weg: “Er wusste damals nicht, wohin sein Weg führen würde. Er war aber entschieden, dem Licht der Wahrheit zu folgen: Er liebte die Wahrheit.” Bei dieser Suche spielte das Gewissen eine besondere Rolle, wie der Autor im weiteren Verlauf anschaulich darstellt.
Sieben Kennzeichen der Lehrentwicklung
Das zweite Kapitel des Buchs handelt von der Entwicklung der Glaubenslehre. Es gelingt dem Autor vortrefflich, die sieben Kennzeichen für eine tatsächliche Lehrentwicklung darzustellen. Wenn Verantwortungsträger in der Kirche mit den Ausführungen Newmans vertraut wären, wäre es zweifellos möglich, viele aktuelle Probleme zu vermeiden.
Daher lohnt es sich, die sieben Kennzeichen kurz anzuführen.
1. Erhaltung des Typus: Eine echte Entwicklung zeichnet sich dadurch aus, dass der Typus Kirche mit seinem “übernatürlichen, katholischen und römischen Charakter erhalten bleibt”.
2. Kontinuität der Prinzipien: “Während die Lehren sich entwickeln, bleiben die Prinzipien immer gleich.”
3. Das Assimiliationsvermögen: Ein gesunder Organismus kann nur gesunde Nahrung assimilieren, also jene Dinge, die der überlieferten Lehre entsprechen, andernfalls “besteht die Gefahr einer Fehlentwicklung”.
4. Logische Folgerichtigkeit: Damit ist der innere Zusammenhang zwischen den verschiedenen Glaubenslehren gemeint, die sich nicht widersprechen dürfen.
5. Vorwegnahme ihrer Zukunft: Spätere Entwicklungen waren in früheren Zeiten schon andeutungsweise sichtbar, es kann keinen Bruch in der Lehre geben.
6. Bewahrende Auswirkung auf die Vergangenheit: Dieser Aspekt scheint gegenwärtig vernachlässigt zu werden. “Wenn eine Entwicklung der ursprünglichen Idee oder früher formulierten Glaubenssätzen widerspricht, handelt es sich um eine Korruption.”
7. Fortdauernde Lebenskraft: Korruption ist nur von kurzer Dauer und führt zur Dekadenz, während echte Entwicklung bleibende Kraft und Vitalität mit sich bringt.
Vordenker einer Hermeneutik der Kontinuität
Es wäre dringend geboten, diese sieben Kennzeichen bei den aktuellen Diskussionen in Erinnerung zu rufen, ließen sich auf diese Weise doch viele Fehlentwicklungen vermeiden. Mit Recht betont Geißler, dass diese Kriterien für die Interpretation des Glaubens grundlegend sind. Davon hatte auch Papst Benedikt XVI. oft gesprochen. Ganz im Stil von Newman hatte er zwischen einer Hermeneutik der Reform in Kontinuität mit dem einen Subjekt Kirche und einer Mentalität des Bruches unterschieden, die das Vorherige nicht gelten lässt und beispielsweise eine Diskontinuität zwischen einer vor- und nachkonziliaren Kirche postuliert. Die von John Henry Newman entwickelten Prinzipien helfen zu verstehen, warum Interpretationen, die sich auf eine Hermeneutik der Diskontinuität stützen, zum Scheitern verurteilt sind.
Das dritte Kapitel ist der Weitergabe der kirchlichen Lehre gewidmet. Das von Newman verwendete Konzept einer Übereinstimmung der Gläubigen (consensus fidelium) erweist sich allerdings als überholt. Es kann zwar richtig verstanden werden, wenn es aber im Sinne der modernen Demokratie interpretiert würde, wäre es irreführend. Es wäre deutlich passender, vom übernatürlichen Glaubenssinn zu sprechen, wie es die dogmatische Konstitution über die Kirche getan hat, in die sich auch die Aussagen Newmans einfügen ließen. Von großer Aktualität sind die Ausführungen über die arianische Krise. Damals war ein Großteil der Bischöfe in die Irre gegangen und “die Gesamtheit des Episkopates als Körperschaft [war] ihrem Amte untreu”, während die gläubig Gebliebenen vertrieben, verunglimpft und verleumdet wurden. Newman wusste sehr wohl, dass es eben nicht genügt, “nur” zu gehorchen, vielmehr muss der Glaube gekannt und verstanden werden. Gegen Ende des Kapitels stellt der Autor treffend fest: “Die Voraussage Newmans, dass die ungebildeten Christen entweder der Gleichgültigkeit oder dem Aberglauben verfallen, hat sich leider in unseren Tagen in erschütternder Weise bewahrheitet.”
Im vierten Kapitel wird die Entstehungsgeschichte der Autobiographie Newmans, der Apologia pro Vita Sua beschrieben, wobei tiefe Einblicke in das Innenleben Newmans gewährt werden. Aufgrund seiner Konversion hatte er viele Freunde verloren. Er schrieb dazu: “Wie war doch mein Leben einsam und kümmerlich, seit ich katholisch geworden bin.” Er wurde verdächtigt und mit Anschuldigungen belegt, verteidigte sich aber nicht. Erst als durch ihn die katholische Priesterschaft insgesamt Schaden nahm, entschloss er sich, eine Apologia als eine Art Autobiographie zu verfassen, wobei er oft 16 Stunden am Tag daran arbeitete.
Das Gewissen zehrt von der Wahrheit
Newman gewährt tiefe Einblicke in seine Suche nach Wahrheit. Unter anderem beschreibt er seine drei Bekehrungen, wodurch er jedes Mal ein Stück weiter hineingeführt wurde in die Wahrheit Gottes. Bei der letzten dieser Bekehrungen brach die Via Media – der Mittelweg, den vermeintlich die Anglikaner eingeschlagen hatten – wie ein Kartenhaus in sich zusammen, denn die Wahrheit ist der einzige Maßstab für den Glauben. Bei den Ausführungen fällt viel Licht auf das Verständnis des Gewissens. Es ist keineswegs synonym mit Subjektivität oder persönlichen Vorstellungen, sondern steht für die Wahrheitsfähigkeit des Menschen. Geißler zitiert Newman mit den Worten:
“Gewissen ist Fähigkeit zur Wahrheit und Gehorsam gegenüber der Wahrheit, die sich dem offenen Herzen suchenden Menschen zeigt.”
Von daher ist es in sich stimmig, dass das fünfte Kapitel der Bedeutung des Gewissens gewidmet ist, zumal Newman gelegentlich doctor conscientiae genannt wurde. Das von Newman entwickelte Verständnis wäre nicht nur dienlich, um zur Erneuerung der Moraltheologie beizutragen, sondern auch um jene Debatten zu erleuchten, bei denen man sich fälschlicherweise auf das Gewissen beruft. Es besteht nämlich kein Gegensatz zwischen dem Primat der Wahrheit und dem Primat des Gewissens. Wenn der Mensch seinem Gewissen gehorcht, bedeutet das, dass er jener Wahrheit folgt, die er nicht selbst macht oder erfindet. Nur so wird die Stimme Gottes im Gewissen vernehmbar. Dazu ist es notwendig, das Gewissen zu informieren und zu orientieren.
Newman musste damals in der Debatte um das Unfehlbarkeitsdogma Stellung beziehen. Im Hinblick auf Lehramt und Gewissen schrieb er:
“Spräche der Papst gegen das Gewissen im wahren Sinne des Wortes, dann würde er Selbstmord begehen. Er würde sich den Boden unter den Füßen wegziehen […]. Auf das Gewissen und seine Heiligkeit gründet sich sowohl seine Autorität in der Theorie wie auch seine tatsächliche Macht.” Der Papst steht nämlich nicht über der Wahrheit, “er ist als Nachfolger Petri Zeuge der Wahrheit, die das Gewissen der Gläubigen erleuchtet”.
Im letzten Kapitel wird die Herzenshaltung des Apostels Paulus in den Mittelpunkt gerückt, an der Newman Anteil hatte und die sich in missionarischem Eifer ausdrückte. Geißler verweist auf viele Parallelen zwischen dem Völkerapostel und John Henry Newman. Für eine zweite Auflage wäre es hilfreich, wenn am Ende ein Literaturverzeichnis hinzugefügt werden würde. Dies ändert nichts am Gesamturteil, nämlich dass das Buch eine hervorragende Quelle darstellt, um mit der bedeutenden Theologie von Newman vertraut zu werden.
Hermann Geißler FSO: John Henry Newman. Ein neuer Kirchenlehrer? Be+Be Verlag 2023, 120 Seiten, EUR 21,90
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