Das religiöse Israel will eine neue Republik

Zwei Israels gab es schon immer. Befürworter eines “jüdischen Gottesstaates” stehen Anhängern einer modernen Gesellschaft gegenüber. Nun prallen beide Seiten aufeinander. Michael Wolffsohn erläutert die Ursachen. Außerdem schaut der Geschichtsprofessor auf die Veränderungen im deutsch-israelischen Verhältnis

Quelle
Chaos in Israel
‘Deutschjüdische Glückskinder’ von ‘Michael Wolffsohn’ – Buch – ‘978-3-423-28126-3’ (orellfuessli.ch)
Amazon.de : deutschjüdische glückskinder

Sebastian Sasse

Herr Professor Wolffsohn, das israelische Parlament hat die sogenannte Justizreform verabschiedet. Im Vorfeld gab es massive Auseinandersetzungen mit großen Demonstrationen und Protesten gegen dieses Gesetz. Sie sprechen mit Blick auf die israelische Gesellschaft von “zwei Israels”. Was meinen Sie damit? Welche gesellschaftlichen Konflikte, die offensichtlich schon länger unter der Oberfläche schwelen, brechen jetzt auf?

Es wurde bislang nicht die von dieser Koalition geplante Justizreform insgesamt verabschiedet, sondern nur ein kleiner, erster Teil. Der betrifft die sogenannte Unangemessenheit. Das bedeutet: Anders als bisher kann das Oberste Gericht, diesem neuen Gesetz zufolge, nicht mehr der Ernennung eines von der jeweiligen Koalition nominierten Ministerkandidaten widersprechen, sprich: die Ernennung verhindern. Die Aufregung hierüber halte ich für vollkommen übertrieben. Weder in der Demokratie der USA noch Frankreichs, Britanniens oder Deutschlands gibt es ein vergleichbares Vetorecht. Schon hier sieht man: Mehr Empörung als Wissen.

Zwei Israels: Das eine jüdische Israel will einen jüdischen Gottesstaat, also Iran auf jüdisch, das andere jüdische Israel will eine moderne, weltoffene, bunte Gesellschaft.

“Das eine jüdische Israel will einen jüdischen Gottesstaat, also Iran auf jüdisch, das andere jüdische Israel will eine moderne, weltoffene, bunte Gesellschaft”

Es gibt ja offenbar kaum noch Grundsätze, auf die sich beide Lager verständigen können? Wie tief reicht diese Spaltung und hat sie neben der politischen auch eine lebensweltliche Dimension?

Noch tiefer als tief, denn: Der Faktor Religion hängt in Israel mit diversen anderen Faktoren zusammen. Als da wären: Rechts oder links, den Palästinensern gegenüber und in Fragen des Westjordanlandes kompromissbereit oder nicht, Partnerschaft mit oder Dominanz über die arabischen Staatsbürger Israels, allgemeiner Schulkanon mit Mathe und Englisch sowie den naturwissenschaftlichen Fächern oder Talmud und Tora, Universität oder Tora-Talmud-Hochschulen.

Die Unterschiede zwischen den “zwei Israels” bestehen ja eigentlich seit der Gründung des Staates. Warum werden sie jetzt zum gesellschaftlichen Sprengstoff?

Weil die demografische Quantität der Religiösen und Orthodoxen mit den orientalischen Juden in politische Qualität umschlug. Heißt: Diese Gruppe ist heute das Zünglein an der Waage. Der Sprengstoff ist schon seit jeher vorhanden, teilweise auch bereits explodiert, aber nicht so heftig wie jetzt. Jetzt will und kann das religiös-orthodox-orientalische-jüdische Israel quasi seine neue Republik politisch durchsetzen. Bei Wahlen. Dagegen stemmt sich das bisher dominante andere, das nichtreligiöse, europäisch geprägte Israel.

Benjamin Netanjahu ist die zentrale Figur der israelischen Politik in den letzten drei Jahrzehnten. Wie groß ist sein Anteil an dieser Entwicklung?

Noch größer als groß. Mit seiner Partei, dem Likud, würden die wichtigsten Oppositionsparteien allesamt koalieren. Jedoch eben nicht mit “Bibi”. Sie alle hatten früher schon mal mit ihm koaliert und fühlten sich von ihm ausgeschmiert. Nur dumm, dass sie sich seinerzeit dafür hergaben.

Das Bild von den “zwei Israels” bezieht sich ja nur auf die jüdische Bevölkerung. Welche Rolle spielen die anderen Bevölkerungsteile? Nikodemus Schnabel, Abt der Dormitio-Abtei in Jerusalem, berichtete kürzlich, dass er fast täglich angespuckt werde, als Mönch ist er ja als Christ äußerlich zu erkennen. Wird das Klima insgesamt in der israelischen Gesellschaft aggressiver?

Sie vergessen die weitaus größere arabisch-muslimische Minderheit Israels. Die arabisch-christlichen Staatsbürger sowie die diversen christlichen Geistlichen, die als Ausländer in Israel leben, sind eine Mini-Mini-Minderheit. Aber, ja, das Klima in Israel ist insgesamt aggressiver geworden. Und gleich noch ein Aber: Nicht nur bezogen auf Muslime und Christen, sondern nicht zuletzt unter den Juden Israels. Dabei ist freilich klar, dass die nationalistisch-religiös-orthodox-orientalische Militanz dominiert, nicht die weltlich-europäische. Wer von DEN Israelis spricht, verkennt die Wirklichkeit. Wir möchten ja auch nicht, dass man die Höckes der AfD mit DEN Deutschen gleichsetzt.

“Das Klima in Israel ist insgesamt aggressiver geworden”

Wie sieht ihre Prognose aus: Lassen sich die Gräben zwischen den unterschiedlichen Lagern irgendwann einmal zuschütten? Was bedeutet es für Israel, wenn die Spaltung bestehen bleibt?

Wenn Netanjahu in seiner Likud-Partei entthront würde, dürfte sich das Klima schlagartig entspannen. Es käme dann zu einer breiten Koalition ohne die extremen Nationalisten und Orthodoxen. Auch die Justizreform würde durch einen breiten Konsens entschärft. Anzeichen für eine Rebellion im Likud gibt es, doch keiner hat bislang den gewaltfreien Königsmord gewagt.

Diese Konflikte spielen sich auf dem innenpolitischen Feld ab. Daneben gibt es auch immer noch die sicherheitspolitische Dimension: Wie sicher ist Israel? Wird seine Stärke durch solche internen Konflikte geschwächt? Wie schauen Israels Feinde auf diese Entwicklung?

Natürlich zersetzt die gegenwärtige Polarisierung die innere Bereitschaft, für die Politik dieser Regierung zu kämpfen, gar in den Krieg zu ziehen. Wenn jedoch die Gefahr von außen kommt, wird Israels Gesellschaft geschlossen kämpfen. Das gilt für etwaige Angriffe aus dem Iran, der libanesischen Hisbolla, der Hamas oder dem Islamischen Jihad.

Kommen wir zu dem deutsch-israelischen Verhältnis: Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte vor einigen Monaten, er sehe die damals noch in Planung befindliche Justizreform mit großer Sorge. Inwieweit illustriert dieses Statement, was sich geändert hat?

Olaf Scholz und seine Partner haben gewiss größere Sorgen. Geändert hat sich tatsächlich der allgemeine Ton in Deutschland Israel und auch den Juden insgesamt gegenüber. Heute präsentiert sich Deutschland als die moralisch überlegene Nation. Wenn ich allerdings das Bürgerengagement der gegen ihre Regierung seit nunmehr 30 Wochen demonstrierenden Israelis anschaue, halte ich die deutsche Sicht für dünkelhaft und selbstverliebt. Nicht einmal die Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre war nur annähernd so aktiv wie die jetzige Protestbewegung in Israel. Wenn ich zudem sehe, wie unfähig Politik und Gerichte Deutschlands gegenüber verbalen oder gar körperlichen Angriffen auf Juden hierzulande sind, denke ich: Hättest du geschwiegen, wärest du ein Weiser.

Sie beobachten und untersuchen seit vielen Jahrzehnten die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Was macht diesen Forschungsgegenstand so interessant?

Drei Gründe. 1) Weil und solange Christen ihr Christentum ernst nehmen, können sie Juden und damit Israel gegenüber nicht indifferent bleiben.
2) Die heutigen Deutschen sind zwar nicht schuldig und ihre Mehrheit gibt sich judenfreundlich, aber wie sicher können überall auf der Welt die Nachfahren sein, dass sie in kritischen Situationen moralischer sind als ihre Vorfahren? Nein, die Gefahr eines neuen Holocaust droht uns Juden in Deutschland und Europa wahrlich nicht, doch die Unfähigkeit oder Unwilligkeit Israel als Teil des, ich sag mal, Judenpaktes zu sehen und dementsprechend zu handeln, ist schon bemerkenswert. Im Klartext: Die Geister der Vergangenheit machen sich in der Gegenwart bemerkbar.
3) Israel und Nahost sind Brennpunkte der Weltpolitik.

In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie, wie das Verhältnis der beiden Staaten zueinander seit der Gründung der Bundesrepublik die politische Kultur dieses Landes stark geprägt hat. Kann man sagen, dass die Deutschen Israel instrumentalisiert haben, um bestimmte Grundprobleme, die sich nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes ergeben haben, zu lösen? Wurde Israel damit zu einer Art Projektionsfläche, während die Sensibilität für das wirkliche Israel und dessen politische Interessen eher gering geblieben ist?

Das ist mir zu pauschal. Wenn es so einfach wäre, hätte ich nicht 356, ich denke, lesbare Seiten geschrieben.

Wie wird sich die Beziehung zwischen Deutschland und Israel weiter entwickeln? Wie wichtig ist die Freundschaft jeweils für beide Länder?

Meine Antwort wird viele überraschen, gar erschrecken. Heute und morgen ist diese Freundschaft für Deutschland wichtiger als für Israel, denn: Deutschland braucht Israel für seine Sicherheit. Stichwort Anti-Raketen-Raketen, Drohnen und andere militärische Hardware, Präventionen und Reaktionen gegenüber Terror, IT und andere innovative Wirtschafts- sowie Wissenschaftsfelder, bei denen Deutschland hinterherhinkt.

Zur Person

Michael Wolffsohn analysiert als Experte seit vielen Jahrzehnten die internationale Politik, vor allem: die Beziehungen zwischen Deutschen und Juden auf staatlicher, politischer, wirtschaftlicher und religiöser Ebene. Wolffsohn wurde 1947 in Tel Aviv geboren als Sohn einer 1939 nach Palästina geflüchteten jüdischen Kaufmannsfamilie. 1954 siedelte er zusammen mit seinen Eltern nach West-Berlin um. Nach seinem Wehrdienst in Israel studierte er in Berlin, Tel Aviv und New York. Von 1981 bis 2012 lehrte Wolffsohn als Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Sein jüngstes Buch “Ewige Schuld” (Langen Müller) beschäftigt sich mit der 75-jährigen deutsch-jüdisch-israelischen Geschichte. Es ist eine überarbeitete Fassung der ersten Auflage von 1988 und spiegelt so auch die Veränderungen in diesen Beziehungen seither wider.

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