Aus meinem Leben: Erinnerungen (1927-1977)

Selten gibt ein hoher Würdenträger der Kirche den Blick frei auf die in ihm schlummernden Antriebskräfte, denen er die entscheidenden Impulse für das Wirken im Dienst der Kirche verdankt

Heiliger Virgil von Salzburg
Hl. Rupert von Salzburg
Hl. Korbinian
Bruder Konrad von Parzham

Selten gibt ein hoher Würdenträger der Kirche den Blick frei auf die in ihm schlummernden Antriebskräfte, denen er die entscheidenden Impulse für das Wirken im Dienst der Kirche verdankt. Welche Erlebnisse und Erfahrungen seine Kindheit prägten, wie er die einzelnen Schritte in das Amt des Erzbischofs erlebt hat, erfährt der Leser in diesem selbstkritischen und uneitlen Lebensbild.

Ratzinger besitzt nicht nur die Gabe des einfühlsamen, gleichwohl distanzierten Erzählens – er berichtet auch offen über die Zeit als Schüler während des Nationalsozialismus, später als Flakhelfer im Reichsarbeitsdienst, als Soldat. Und er verschweigt nicht persönliche Durststrecken.

Der einflussreiche Theologe beschreibt die geistigen Auseinandersetzungen mit Weggefährten aus dem kirchlichen Leben. Dabei spielt der Gedankenaustausch mit Karl Rahner und Kardinal Frings in den fünfziger und sechziger Jahren – Gemeinsamkeiten und Meinungsunterschiede – eine grosse Rolle. Als Ratzinger 1966 in Tübingen den Lehrstuhl für Dogmatik übernimmt, gerät er ins Zentrum hitziger Debatten um eine theologische Neubesinnung. Dort schlug sich in marxistisch-revolutionären Positionen aus der Lehre Ernst Blochs die Aufbruchstimmung der Studentenbewegung nieder. Das kritische Gespräch mit Hans Küng mündete in eine Sackgasse.
1969 kehrte Ratzinger der gespannten Atmosphäre den Rücken und nahm einen Ruf an die neu gegründete Universtät in Regensburg an, bevor er 1977 Erzbischof von München und Freising wurde.

Über den Autor und weitere Mitwirkende

Joseph Ratzinger wurde 1927 in Marktl am Inn geboren. Er war Professor für systematische Theologie in Freising, Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg und jüngster theologischer Berater des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965). 1977 wurde er Erzbischof von München und Freising. 1981 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Präfekten der Glaubenskongregation. Von April 2005 bis März 2013 war er als Papst Benedikt XVI. Oberhaupt der katholischen Kirche.

Leseprobe. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Alle Rechte vorbehalten.

Kindheit zwischen Inn und Salzach

Es ist gar nicht leicht zu sagen, wo ich eigentlich zu Hause bin. Mein Vater wurde als Gendarm wiederholt versetzt, so dass wir viel auf Wanderschaft waren, bis wir 1937, als er mit sechzig Jahren in Pension ging, das Haus in Hufschlag bei Traunstein beziehen konnten, das dann unsere eigentliche Heimat geworden ist. Aber auch alles Wandern vorher blieb in einem begrenzten Radius: im Inn-Salzach-Dreieck, dessen Landschaft und Geschichte meine Jugend geprägt hat. Es ist altes keltisches Kulturland, das dann Teil der römischen Provinz Rätien wurde und immer stolz auf diese doppelte kulturelle Wurzel geblieben ist. Keltische Schatzfunde weisen in weite Vergangenheit zurück und verbinden uns mit der keltischen Welt Galliens und Britanniens. Römerstrassen sind in Stücken gegenwärtig geblieben, und nicht wenige Orte können mit Selbstbewusstsein ob langer Geschichte auf ihren ehemaligen lateinischen Namen verweisen. Mit den römischen Soldaten ist das Christentum gewiss schon in vorkonstantinischer Zeit eingedrungen, und wenn es auch in den Wirren der Völkerwanderung weithin verschüttet wurde, so haben sich doch Rinnsale des Glaubens die dunklen Zeiten hindurch gerettet, an die die Missionare anknüpfen konnten, die aus Gallien, aus Irland, aus England hierhergekommen sind; manche meinen sogar, auch byzantinische Einflüsse feststellen zu können. Salzburg – das römische Iuvavum – wurde zur christlichen Metropole, die die Kulturgeschichte dieses Landes bis zur napoleonischen Ära hin entscheidend formte. Virgil, dieser merkwürdig eigenwillige und widerspenstige Bischof aus Irland, wurde zu einer prägenden Gestalt, mehr noch der aus Gallien gekommene Rupert, dessen Verehrung hier weit lebendiger ist als die des Gründers des Freisinger Bistums, Korbinian, denn erst nach den napoleonischen Wirren ist der bayerische Teil dieses Landes dem neu gegründeten Erzbistum München-Freising zugeschlagen worden. Natürlich darf man bei der Nennung dieser alten christlichen Geschichte den Angelsachsen Bonifatius nicht vergessen, der dem ganzen damaligen bairischen Raum seine kirchliche Struktur gegeben hat.

Geboren bin ich am Karsamstag, dem 16. April 1927, zu Marktl am Inn. Dass der Geburtstag der letzte Tag der Karwoche und der Vorabend von Ostern war, wurde in der Familiengeschichte immer vermerkt, denn damit hing es zusammen, dass ich gleich am Morgen meines Geburtstages mit dem eben geweihten Wasser in der zu jener Zeit am Vormittag gefeierten “Osternacht” getauft worden bin: Der erste Täufling des neuen Wassers zu sein, wurde als eine bedeutsame Fügung angesehen. Dass mein Leben so von Anfang an auf diese Weise ins Ostergeheimnis eingetaucht war, hat mich immer mit Dankbarkeit erfüllt, denn das konnte nur ein Zeichen des Segens sein. Freilich – es war nicht Ostersonntag gewesen, sondern eben Karsamstag. Aber je länger ich nachdenke, desto mehr scheint mir das dem Wesen unseres menschlichen Lebens gemäss zu sein, das noch auf Ostern wartet, noch nicht im vollen Licht steht, aber doch vertrauensvoll darauf zugeht. Da wir Marktl bereits zwei Jahre nach meiner Geburt – 1929 – verlassen haben, ist mir keine eigene Erinnerung daran geblieben, nur die Erzählungen meiner Eltern und Geschwister. Sie haben mir von dem tiefen Schnee und der klirrenden Kälte berichtet, die an meinem Geburtstag herrschten, so dass die beiden älteren Geschwister zu ihrer grossen Betrübnis nicht mit zu meiner Taufe kommen durften, um der Erkältungsgefahr entgegenzuwirken. Es war keine leichte Zeit, die die Familie in Marktl verbrachte:

Arbeitslosigkeit herrschte, die Reparationen lasteten auf der deutschen Wirtschaft, der Streit der Parteien brachte die Menschen gegeneinander auf, Krankheiten suchten die Familie heim. Aber es gab auch viele schöne Erinnerungen an Freundschaft und an gegenseitige Hilfe, an kleine Feste in der Familie und an das kirchliche Leben. Und ich darf nicht vergessen anzumerken, dass Marktl ganz nah bei Altötting liegt, dem altehrwürdigen Marienheiligtum aus karolingischer Zeit, das seit dem späten Mittelalter zum grossen Wallfahrtsort für Bayern und das westliche Österreich geworden ist. Altötting empfing gerade in jenen Jahren neuen Glanz, als der ehemalige Pförtner Bruder Konrad von Parzham selig- und dann heiliggesprochen wurde. In diesem demütigen und grundgütigen Menschen fanden wir das Beste unseres Stammes verkörpert und durch den Glauben zu seinen schönsten Möglichkeiten geführt. Später habe ich oft nachgedacht über diese merkwürdige Fügung, dass die Kirche im Jahrhundert des Fortschritts und der Wissenschaftsgläubigkeit sich selbst am meisten dargestellt fand in ganz einfachen Menschen, in Bernadette von Lourdes etwa oder eben in Bruder Konrad, die von den Strömungen der Zeit kaum berührt schienen: Ist das ein Zeichen, dass die Kirche ihre kulturprägende Kraft verloren hat und nur noch ausserhalb des eigentlichen Geschichtsstroms angesiedelt ist? Oder ist es ein Zeichen, dass der helle Blick für das Wesentliche gerade auch heute den Geringen gegeben ist, der den “Weisen und Verständigen” so oft abgeht (vgl. Mt 11,25)? Ich denke schon, dass gerade diese “kleinen” Heiligen ein grosses Zeichen an unserer Zeit sind, das mich um so mehr berührt, je mehr ich mit und in ihr lebe.

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Aus meinem Leben: Erinnerungen (1927-1977)

Autor: Joseph Ratzinger Papst emeritus Benedikt XVI
Herausgeber ‏ : ‎ Deutsche Verlags-Anstalt DVA; 5. Edition (1. Februar 1998)
Sprache ‏ : ‎ Deutsch
Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 192 Seiten
ISBN-10 ‏ : ‎ 3421051232

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