Benedikt XVI.: Über Sünde
Das theologische Gespräch über Sünde und das Böse scheint relativiert oder fast nivelliert zu sein
Von Thorsten Paprotny, 23. November 2020
Das theologische Gespräch über Sünde und das Böse scheint relativiert oder fast nivelliert zu sein. Von Veränderungsprozessen und kirchenpolitischen Anpassungsstrategien an die Moderne ist oft die Rede, selten von der Verkündigung des Evangeliums. Betreiben Zeitgenossen, die in bester Absicht “Strukturen der Sünde” in der Kirche ausmachen oder auch über das “Männerbündische” räsonieren, theologische Aufklärung? Oder leisten sie – möglicherweise ungewollt – einen Beitrag zu neuen Nebelbildungen? Wer die Neuausrichtung der Lehre der Kirche an die im Umfeld der 1968er-Bewegung neu belebten wie goutierten Lebensformen und Lebensethiken der “sexuellen Revolution” fordert, wirbt für etwas, was der noch immer gültige Katechismus der katholischen Kirche ganz einfach Sünde nennt. Sünde ist und bleibt eine bestimmende Lebenswirklichkeit. Nehmen wir die Realität der Sünde noch ernst?
Benedikt XVI. hat auf dem Flug nach Portugal und Fátima am 11. Mai 2010 wie so oft mit einfachen und klarsichtigen Worten die Botschaft der Gottesmutter an die Seherkinder weiter gefasst und gedeutet als der heilige Johannes Paul II. Das dritte Geheimnis – der Mordanschlag auf den in Weiss gekleideten Bischof – hat Benedikt zunächst auf seinen Vorgänger bezogen, zugleich aber festgestellt, dass mit der Person des Papstes auch die Kirche getroffen sei, weil der Papst für die Kirche stehe. Angekündigt seien damit “Leiden der Kirche”, entsprechend dem Wort des Herrn, dass Verfolgung und Leiden bis zum Ende der Welt fortdauern würden. Die Botschaft der Gottesmutter ziele auf die “ständige Umkehr”, auf “Busse” und “Gebet” sowie auf die göttlichen Tugenden, auf Glaube, Hoffnung und Liebe. Jeder Einzelne sei dazu aufgerufen. Ist uns das bewusst? Oder sind wir längst müde geworden, erschöpft und resigniert, so als ob uns das nichts angehen würde? Wir gehen auf den Advent zu, eine Zeit der Busse und Umkehr. Über Sünde spricht kaum jemand noch. Das ist ein bedenkliches Zeichen der Zeit.
Benedikt XVI. erinnerte 2010 daran, dass etwas Neues in der Botschaft von Fátima erkennbar werde, nämlich “die Tatsache, dass die Angriffe gegen den Papst und die Kirche nicht nur von aussen kommen, sondern die Leiden der Kirche kommen gerade aus dem Inneren der Kirche, von der Sünde, die in der Kirche existiert”. Das sei nicht grundsätzlich neu, wohl aber die Dimension, in der dies zutage trete: “Die größte Verfolgung der Kirche kommt nicht von den äusseren Feinden, sondern erwächst aus der Sünde in der Kirche.”
Die Sünde ist damit keine abstrakte Grösse oder keine strukturelle Vorbedingung, sondern der Einzelne, der sich von Gott entfremdet und abwendet. Die Sünde, ja das Böse ist in der Kirche gegenwärtig – nicht in anonymen Strukturen, sondern in Personen. Wir denken natürlich an den Missbrauchsskandal und dessen Vertuschung, an die Täter und an jene, die die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen hatten, die sie nicht sahen oder nicht sehen wollen. Wir denken heute auch an die Formen des “geistlichen Missbrauchs” und an die Notwendigkeit, diese Abhängigkeitsverhältnisse klar zu benennen und darüber aufzuklären.
Gott, so Benedikt, habe das “letzte Wort in der Geschichte”. Darauf dürfen wir vertrauen, auch auf dem Weg in ein neues Kirchenjahr. Wenn wir Gott ernstnehmen, dann besinnen wir uns nicht auf irgendwelche Neuerfindungen des Glaubens, sondern auf Umkehr, Gebet, Busse und die göttlichen Tugenden. Die Gegenwart der Sünde und die Versuchungen des Zeitgeistes dürfen wir nicht verkennen. Benedikt XVI. sagte weiter: “Seien wir realistisch darauf gefasst, dass das Böse immer angreift, von innen und von aussen, aber dass auch die Kräfte des Guten immer gegenwärtig sind und dass letztendlich der Herr stärker ist als das Böse.” Wer Gott und der Kirche des Herrn treu bleibt, wird nicht über die Rede von der Sünde und vom Bösen zu schmunzeln oder zu lachen beginnen.
In dem bekannten Aufsatz über die Kirche und Skandal des sexuellen Missbrauchs hat der emeritierte Papst mit Nachdruck diese Realität neu benannt. Zugleich hat er aber auch an die Hoffnung erinnert, die uns erfüllt: “Die Idee einer von uns selbst besser gemachten Kirche ist in Wirklichkeit ein Vorschlag des Teufels, mit dem er uns vom lebendigen Gott abbringen will durch eine lügnerische Logik, auf die wir zu leicht hereinfallen. Nein, die Kirche besteht auch heute nicht nur aus bösen Fischen und aus Unkraut. Die Kirche Gottes gibt es auch heute, und sie ist gerade auch heute das Werkzeug, durch das Gott uns rettet. Es ist sehr wichtig, den Lügen und Halbwahrheiten des Teufels die ganze Wahrheit entgegenzustellen: Ja, es gibt Sünde in der Kirche und Böses. Aber es gibt auch heute die heilige Kirche, die unzerstörbar ist. Es gibt auch heute viele demütig glaubende, leidende und liebende Menschen, in denen der wirkliche Gott, der liebende Gott sich uns zeigt.
Gott hat auch heute seine Zeugen (»martyres«) in der Welt. Wir müssen nur wach sein, um sie zu sehen und zu hören.”
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