Politikwissenschaftler: “Genozid ist von jeher eine Methode Russlands”

Der Politikwissenschaftler Jerzy Maćków meint, dass man in Russland kein allzu repressives System braucht, um ein autoritäres System stabil zu halten. Wladimir Putin sieht er als Paten eines mafiosen Machtapparates

Quelle
Historiker: “Russland kann die Ukraine nicht kontrollieren” | Die Tagespost (die-tagespost.de)
Ukraine (607)

15.03.2024

Stephan Baier

Herr Professor Maćków, hat Wladimir Putin aus Russland einen totalitären Mafia-Staat gemacht, in dem eine kleine, aus dem KGB stammende Clique sich des Staates bemächtigt hat?

Tatsächlich gibt es Ähnlichkeiten zur Mafia. Andererseits ist Russland heute, verglichen mit der Sowjetunion, kein totalitärer Staat, wenngleich Putin dafür gesorgt hat, dass totalitäre Mentalität nach wie vor das politische Bewusstsein der Russländer bestimmt. Russland hat aber inzwischen kein totalitäres, sondern ein autoritäres System, mit starken despotischen und autokratischen Zügen.

Kritiker und Konkurrenten werden erschossen, vergiftet, eingesperrt. Der Kreml selbst wählt aus, wer gegen Putin auftreten darf. Oligarchen dürfen wirken, solange sie dem System gegenüber devot sind. Ist das denn nicht totalitär?

Sie nennen Kennzeichen einer autoritären Ordnung: Meinungsfreiheit und Pluralismus werden mit zuweilen harten Mitteln eingeschränkt, aber es gibt einige autonome gesellschaftliche Akteure, vor allem die genannten Oligarchen, sowie eine schwache politische Opposition. Im Totalitarismus gibt es hingegen offiziell nur Meinung und Politik einer Partei. Angesichts dessen, was in der Sowjetunion war oder was in den 1990er Jahren in Russland an Chaos herrschte, halte ich an der These fest, dass die Russländer noch nie so frei lebten wie unter Putin. Was die angesprochene Repression angeht, so besteht das Problem darin, dass man in Russland kein allzu repressives System braucht, um ein autoritäres System stabil zu halten. Menschen wie Alexej Nawalny oder Kara-Mursa standen – wie Sophie Scholl samt der Weißen Rose im nationalsozialistischen Deutschland – fast allein da.

Woran liegt das?

An dieser totalitären Mentalität, die den Dissens nicht akzeptiert. Im Westen ist es nur in Krisensituationen oder im Krieg normal, dass Meinungsfreiheit eingeschränkt, Abtrünnige bestraft und Kritiker diszipliniert werden. Die meisten Russländer halten aber eine solche Herrschaftsbeschaffenheit für normal. Sie haben eine mickrige Tradition der politischen Opposition, nur eine der Rebellion. Trotzdem gibt es vereinzelt Menschen mit dezidiert oppositionellen Einstellungen, aber nur Alexej Nawalny mit dem Anprangern der Korruption und Jewgenij Prigoschin sowie Igor Girkin, die den Krieg gegen die Ukraine befürworteten, aber öffentlich gegen die miserable Kriegsführung ins Feld zogen, ist es gelungen, sich einen Namen zu machen. Deshalb verbrachten Nawalny und Girkin ihre Zeit in einer Strafkolonie und Prigoschin ist “verunglückt”. Das und die Bestrafung einiger hundert Kriegsgegner reichen aus, um die Opposition in einem Land mit 144 Millionen Einwohnern bedeutungslos zu halten. Die extreme Schwäche der Opposition spricht gegen die verbreitete Meinung, dass das autoritäre System in Russland ausgerechnet auf Repression aufbaut.

Was findet am 17. März in Russland statt: eine Wahl oder eine Show mit vorgegebenen Rollen?

Präsidentschaftswahlen in Russland sind Ausdruck des Wandels vom Totalitarismus zum Autoritarismus: Anders als die Kommunisten braucht Präsident Putin glaubwürdige demokratische Legitimation. Dennoch sind die Wahlen eine Farce, denn die Rollen sind vorgegeben. Das einzige Risiko ist, dass die Untertanen lachen, wenn der Wahlausschuss zu hohe Zustimmungswerte zum Präsidenten bekanntgibt. Darum muss das auf über 80 Prozent gefälschte Wahlergebnis halbwegs glaubwürdig sein; der Präsident soll in der Realität schon 60 bis 70 Prozent erhalten. Dafür arbeitet im Wahlkampf eifrig der ganze Staatsapparat.

“Präsidentschaftswahlen in Russland sind Ausdruck des Wandels vom Totalitarismus zum Autoritarismus. Anders als die Kommunisten braucht Präsident Putin glaubwürdige demokratische Legitimation”

War die Entwicklung ab 2000, also seit Putins Präsidentschaft, notwendigerweise so? Hätte es nach den chaotischen 1990er Jahren nicht ganz anders laufen können?

Russland war in seiner ganzen Geschichte nicht einen Tag lang demokratisch oder rechtsstaatlich. Auch nicht unter Jelzin, selbst wenn deutschsprachige Politologen die Schwäche seines autoritären Staates zu einer “noch nicht konsolidierten Demokratie” verklärten. Nach Rückkehr aus der DDR ist der Politiker Putin in diesem Staat groß geworden. Später, schon als Regierungschef und Präsident hat er es geschafft, das autoritäre System zu stärken und zu stabilisieren, indem er Leute des Geheimdienstes zur zentralen Gruppe des mafiosen Machtapparates erhoben und sich selbst zum Paten gemacht hat. Sieht man von einzelnen Oligarchen ab, traf er dabei auf keinen nennenswerten Widerstand. Seine Tragik besteht freilich darin, dass sein Vorgänger samt seiner Familie vielleicht 100 oder 200 Millionen US-Dollar gestohlen hat und fern der Politik in Freiheit sterben konnte; demgegenüber hat sich Putin illegal um 20 oder 40 Milliarden US-Dollar bereichert und kann nicht als freier Mensch sterben. Er muss Präsident bleiben bis zum Ende seiner Tage oder sich in Handschellen aus dem Kreml führen lassen.

Wie versteht Putin sich und seine Rolle in der Geschichte?

Putin ist ein russländischer Patriot, der – wie alle Herrscher Russlands – willkürlich, nach seinem Gutdünken überall eingreifen kann. Einen solchen Machthaber nennt man Despot. Dieser kann gütig oder gewaltsam sein – Putin versucht sich meist als ein gütiger, zumal er mitnichten auf beträchtlichen Widerstand trifft. Darüber hinaus ist Putin ein gewöhnlicher russländischer Imperialer. Er weiß, dass seine Landsleute im Gegensatz zu Westeuropäern keine Grenzen ihres Staates kennen und nicht für einen Nationalstaat geschaffen sind. Nationalstaaten dehnen sich territorial aus, wenn sie stark sind, und sie streben nach Hegemonie, aber sie sind letzten Endes an eine Ethnie und deren Kernland gebunden. Dagegen erachten die Russländer die Expansion ihres Staates als ebenso legitim wie das Halten von Kolonien. Seit Peter dem Großen ist Russland ein Imperium. Den Mix aus Despotie und imperialem Expansionsdrang hat es in Russland trotz des Übergangs vom religiösen Zarenreich zur kommunistischen Sowjetunion und zur “demokratischen” Russländischen Föderation von heute immer gegeben. Auch Putin sieht ein Russland, das schrumpft, also Kolonien verliert, als Katastrophe. Aber die echte Katastrophe besteht darin, dass er ein Imperium zu retten versucht, das seit den späten 1960er Jahren, als sich China von ihm abzuwenden begann, im Sterben begriffen ist. Heute wollen weder Putin noch seine Landsleute die Tatsache akzeptieren, dass sogar zwei russische Völker – Ukrainer und Belarussen – nicht imperiale Russen sein wollen. Sobald die Russländer diese Tatsache zur Kenntnis nehmen, hat Russland ein unlösbares Identitätsproblem.

Sind also Putins Begründungen für den Krieg 2014 und die Invasion 2022 unwahr? Hat beides nichts mit dem Agieren des Westens zu tun?

Ich sehe hier keinen Widerspruch. Für Putin ist die Ukraine ein unverzichtbarer Teil der russischen Welt. Doch seit 2014 ist er in einer ausweglosen Situation: Je mehr er auf die Ukraine einschlägt, desto nationaler werden die Ukrainer. Selbst jene Ukrainer, die es nie getan haben, wollen seit 2022 die ukrainische Sprache sprechen und Teil des Westens werden. Die Russländer hingegen wollen glauben, dass Amerikaner oder “Faschisten in der Kiewer Regierung” die Ukrainer verdummen, indem sie ihnen einreden, sie seien eine Nation. Wenn aber die Russländer verstehen, dass die Ukrainer tatsächlich eine selbstständige Nation darstellen, dann erkennen sie, dass sie selbst nicht das sind, was sie mit Vorliebe zu sein vorgeben: das Hegemonialvolk, dessen starker Staat und großartige Kulturwelt das natürliche Recht auf Expansion haben.

Putin zerstört also zwei Länder: die Ukraine in ihrer Infrastruktur, aber Russland in seiner Identität?

Sein Schurkenstaat vernichtet nicht nur die ukrainische Infrastruktur, sondern tötet hunderttausende und vertreibt Millionen Ukrainer, was zeigt, mit welch unerträglicher Leichtigkeit Russland Völkermord begehen kann. Soldaten der Russländischen Föderation haben in Butscha gut 400 Zivilisten erschossen, nachdem sie einigen von ihnen Hände auf den Rücken gebunden haben. Zu Ihrer Frage: Nach den Reformen, die 2014 begannen, nahm der ukrainische Staat endlich Steuern ein und baute Straßen, die Wirtschaft wuchs. Paradoxerweise schien seit 2014 die Zeit trotz des andauernden Krieges für die Ukraine zu spielen. Deshalb sah sich Putin gezwungen, sie anzugreifen und die ukrainische Nation zu vernichten. Ich wiederhole, was oft vergessen wird: Genozid ist von jeher eine Methode der Politik Russlands.

Der Westen, der Russland in die G7 und den Europarat integriert und sich in Energieabhängigkeit begeben hatte, sieht in Putin nun nie wieder einen Partner. So gerät Russland durch den Krieg in eine einseitige Abhängigkeit von China.

Nicht der ganze Westen handelte so verantwortungslos wie Deutschland oder Österreich. Polen oder Litauen haben sich rechtzeitig vom Gas aus Russland unabhängig gemacht. Aber das mit China stimmt. Obwohl die Chinesen hinter vorgehaltener Hand über die schwache russländische Wirtschaft lachen, wollen sie in ihrem Rücken das verbündete Russland haben, wenn sie eines Tages mit den USA wegen Taiwan in einen kriegerischen Konflikt treten sollen.

Wie kann der Krieg um die Ukraine enden?

Für den Kreml geht es nicht um Territorien, sondern um Herrschaft über die Ukraine und auch um verstärkten Einfluss auf die EU-Länder. Deshalb würde ein Frieden als Einigung auf einen territorialen Kompromiss im ukrainischen Osten lediglich die Verlegung des russländischen Militärs 100 oder 200 Kilometer in Richtung Kiew legalisieren. Die einzige Lösung, die nach dem Sicherheitsprovisorium der vergangenen 30 Jahre Europa eine stabile Friedensordnung verspricht, ist die NATO-Aufnahme der Ukraine. Nur das gäbe der Ukraine und – nach einer darauffolgenden Westintegration von Belarus – ganz Europa Sicherheit. Ich nehme aber an, Deutschland und Frankreich werden aus nationalem Egoismus und falscher Lageeinschätzung heraus gegen die NATO-Aufnahme der Ukraine sein. Damit wäre alles in den Händen der Amerikaner. Sie können auch gegen die europäischen Mittelmächte selbst entscheiden.

“Für den Kreml geht es nicht um Territorien, sondern um Herrschaft über die Ukraine und auch um verstärkten Einfluss auf die EU-Länder”

Hätte die NATO die Ukraine aufnehmen sollen, als Kiew darum bat?

Deutschland und Frankreich haben 2008 das Anvisieren der NATO-Aufnahme der Ukraine verhindert. Damals, aber auch 2014, hätte es zur Verhinderung des volldimensionalen Krieges wahrscheinlich gereicht, wenn die EU die Reform der ukrainischen Streitkräfte finanziell unterstützt hätte. Dagegen trat aber Deutschland 2015 vehement auf. In diesem Jahr unterzeichnete Berlin mit Moskau den Vertrag über Nord Stream 2. Für Frankreich wiederum war der Verkauf seiner Schiffe an Russland wichtiger als die ukrainische Verteidigungsfähigkeit. Und die außenpolitisch handlungsfähige EU gab es damals so wenig wie heute.

Kann Russland seinen Krieg verlieren?

Russland verlor die meisten seiner Kriege: 1812 schlug Napoleon die Zaren-Armee in allen Schlachten, um später vom Winter besiegt zu werden. Danach verlor Russland den Krim-Krieg, den Krieg gegen Japan, einen kleinen Krieg gegen Estland und einen großen gegen Polen, dann – schon die Sowjetunion – auch noch gegen Finnland und schließlich in Afghanistan. Augenblicklich ist Russland freilich am längeren Hebel, aber das nicht wegen der russländischen Stärke, sondern wegen des Versagens der EU. Denn Nordkorea liefert alleine mehr Munition an Russland als die EU an die Ukraine. Sollte die Ukraine den Krieg verlieren, dann in erster Linie wegen des Geizes und der strategischen Blindheit der Westeuropäer.

Wie kann Russland den Krieg gegen die Ukraine verlieren?

Prigoschin hat gezeigt, was die Unzufriedenheit in der Elite für Russland bedeuten kann. Als er im Juni 2023 von Rostow am Don Richtung Moskau marschierte, floh die Regierung. Es lief auf einen Bürgerkrieg zu. Russland wird verlieren, wenn in seinen Eliten Unmut über die Sinnlosigkeit des Kriegs sichtbar wird, dessen Ziel – die Unterwerfung der Ukraine – nicht erreichbar ist. Dazu kann die Heimkehr von Soldaten in Särgen beitragen, wie beim Afghanistan-Krieg. Und auch Putins Tod.

Was passiert, wenn Putin plötzlich stirbt?

Er muss nicht “plötzlich” sterben – der Mann ist ja alt. Er hat sich unersetzlich gemacht, was für einen Autokraten im autoritären System nicht ungewöhnlich ist. Für die meisten Russländer ist Putin Russland. Ich vermute, dass das auch der Grund ist, weshalb Prigoschin letztlich aufgab. Denn es gibt niemanden in Russland, der den heutigen Präsidenten ersetzen kann, nicht den Schein eines Nachfolgers. Nach seiner Entmachtung oder seinem Tod muss also ein ruinöser Machtkampf entfacht werden – damit wäre für Russland der Krieg verloren.

Russland kann die Ukraine noch zerstören, aber nicht mehr erobern. Gibt das den Russen nicht zu denken?

Was wir im Westen Mittelschicht nennen, umfasst in Russland rund 20 Prozent der Bevölkerung. Von diesem Fünftel können fast ausschließlich die Einwohner von Moskau und St. Petersburg ab und zu politisch bedeutsam werden, alle anderen sind passive Untertanen. Diese Minderheit, ohne die das Land nicht funktionieren würde, muss verstehen, warum der Krieg sinnlos ist: Selbst wenn Russland Kiew einnehmen sollte, wird es die Ukraine nicht besitzen.

“Selbst wenn Russland Kiew einnehmen sollte, wird es die Ukraine nicht besitzen”

Warum?

Es wäre ein Pyrrhus-Sieg. Die Russländer könnten Völkermord praktizieren: Offiziere erschießen, Intellektuelle umbringen, aus dem Land jagen und den verbliebenen Rest unterwandern, die Bevölkerung terrorisieren, Schulen russifizieren, die Geschichte umschreiben und anderes, was wir aus der Geschichte von Russlands Eroberungen kennen. Aber die ukrainische Nation würde dadurch nicht vernichtet werden. Es gäbe Widerstand und Partisanen, die motiviert sein würden durch die Erinnerung daran, wen der Kreml alles umgebracht oder eingesperrt oder zur Emigration gezwungen hat. Es kommt hinzu, dass Russland der Modernisierungsversager schlechthin ist und darüber hinaus nicht über die kulturelle Stärke verfügt, um eine europäische Nation von 30 bis 40 Millionen – je nachdem, wie viele Ukrainer aus dem Exil zurückkommen – zu integrieren, selbst unter Anwendung massivster Repression.

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Die Ukrainer haben also ein zerstörtes Land und eine gefestigte Identität. Aber die Russen steuern auf eine Identitätskrise zu?

Ja, auf eine Existenzkrise. Die Ukraine wird zerstört überleben, weil sie nicht an Selenskyj hängt. Aber das unzerstörte Russland bewegt sich auf eine Katastrophe zu, weil es fröhlich im Putinschen Chauvinismus plantscht, statt den unaufhaltsamen Untergang des Imperiums zu meistern. So schafft sich Russland selbst ab, und das unauffällig, bisher ohne ethnische Zentrifugalkräfte!

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