Unterwegs im wahren Syrien
Lachanfälle und Tränen der Trauer liegen in Syrien oft nahe beieinander – Ein Reisetagebuch
Von Andrea Krogmann
Syrien: Diverse Beiträge
Youtube: Syrisch Katholische Kirche
Tag 1 Beirut – Damaskus – Homs – Zaidal
Die Tagespost, 01. Juli 2016
Meinen ursprünglichen Plan, für die Zeit in Syrien kein Arabisch zu sprechen, muss ich noch bei Abfahrt aus Beirut über den Haufen werfen: Mein Fahrer Elie, Christ aus Damaskus, spricht weder Englisch noch Französisch, und auch an den diversen Kontrollpunkten bleibt mein bisschen Arabisch die einzige gemeinsame Sprachbasis. Nach einer halben Stunde Aufwärmphase und einem ersten Kaffee wechsle ich von der Rückbank auf den Beifahrersitz. Elie fährt sicher, wenn auch etwas schnell. Die Musik wird lauter, die Konversation beginnt. „Hast Du keine Angst?“, fragt Elie, und ich habe keine Antwort.
Die Grenze passieren wir in Häppchen: Sieben Stationen später sind wir auf syrischer Seite. Diskret faltet Elie an jedem Stopp ein paar kleine Scheine zwischen die Pässe und gibt sich jovial. Die Sicherheitskontrollen beschränken sich auf einen kurzen Blick auf das – ungeöffnete – Gepäck. Einzig meine Kamera – für die es eigentlich eine Genehmigung bräuchte – sorgt für eine kleine Diskussion. Nachdem ich ihren Schätzwert – deutlich zu tief – offenbar auf unterhalb der kritischen Grenze angegeben habe, dürfen wir fahren. Baschar al Assad ist überall, in Form von übergrossen Porträts, Fotos und Graffiti in allen Varianten.
Weitere neun Checkpoints, und wir sind im christlichen Damaskus. Autowechsel. Elie übergibt mich an Michel (Abu Elias), nicht ohne mich vorher informiert zu haben, dass Michel Soldat und ergo in Uniform und bewaffnet ist. „Keine Sorge! Gehört zur Familie.“ Mit uns: ein weiterer Kamerad, eine zweite Waffe. Letzte Instruktionen für Michel: „Kein Wort von Journalistin. Sie arbeitet für die Kirche. Verstanden?“
Gute 150 km trennen uns von Homs, unterbrochen in regelmässiger Wiederkehr von Militärposten und Kontrollen. Eine ausführlichere Kontrolle an Checkpoint 26 lässt meinen Stresspegel leicht ansteigen. Gut, ich neige tendenziell zu niedrigem Blutdruck. Bei Kilometer 110 km vor Homs siegt schliesslich die Müdigkeit, und erst die Mittagspause weckt mich auf. Die Waffen bleiben im Auto, (sind auch so um uns genug Gewehrläufe im Umlauf), die Kamera einmal mehr im Rucksack.
Nach der Mittagspause: Unendliche Weite der Wüste, blauer Himmel mit Schäfchenwolken und auf dem kargen Boden Hirten, deren Schafe sich in der Farbe nur unmerklich von dem gelbweisslichen Grund abhebt. Checkpoint 34 nach gut sechs Stunden Fahrt von Beirut ist der letzte vor unserem Ziel: Zaidal, unweit von Homs, und Bischofssitz der syrisch-katholischen Kirche. Abouna Rami erinnert sich von Rom an mich, und nach ein paar Minuten sitze ich im Wohnzimmer der Ephrem-Schwestern, die mich für die nächsten beiden Tage beherbergen. Noch ein paar Minuten später falle ich aufs Bett. Die unterschwellige ständige Alarmbereitschaft hat mich offenbar geschlaucht. Als die Schwestern mich eine ganze Weile später zum Kaffee wecken, habe ich im Traum wilde Verfolgungsjagden und drei Mordversuche überlebt. Etwas benommen, habe ich Mühe der Konversation zu folgen. Der Abend endet mit viel gutem Essen und bauchschmerzverdächtigen Lachanfällen im Garten der Familie von Rima und Lina – Zwillinge und beide Ephrem-Schwestern, die eine in Beirut, in Zaidal die andere, und zusammen unschlagbar unterhaltsam. Der erste Mate-Tee meines Lebens unter kritischem Blick der Gastgeber – in Homs trinkt man Tee statt Kaffee. Rima übersetzt für mich von Arabisch zu Arabisch, und der Rest der Runde macht sich einen Spass draus, immer schwierigere Geschichten zu finden. Der Abend löst die Anspannung des Tages in Luft auf. Das, sagt Schwester Rima, „ist das wahre Syrien!“
Die goldene Regel in Nahost. Flexibel bleiben. Die Morgenmesse fällt aus, Abouna Rami schafft es nicht rechtzeitig. Die Stadtführung wird auf den Nachmittag verschoben, stattdessen kommt spontan ein Interview mit dem melkitischen Erzbischof aufs Programm.
Doch als erstes empfängt mich Mgr. Philippe Barakat, seit Samstag syrisch-katholischer Erzbischof von Homs. „Jeder, der nach Syrien kommt, sieht die Wahrheit“, sagt er zu mir, und „Du hilfst Syrien, weil Du die Wahrheit gesehen hast!“ Schwere Last auf schmalen Schultern. Sayyidna Philippe spricht klare Worte, ein Freund der internationalen Syrienpolitik ist er nicht. Später werde ich Zeugin eines traurigen Gesprächs. Eine Familie aus der Diözese ist gekommen, um mit ihrem Hirten die komplizierte Taktik ihrer Auswanderung zu besprechen. Wieder ein paar Schafe weniger in einer kleiner werdenden Herde. Dann lässt Sayyidna Philippe es sich nicht nehmen, mich persönlich eine halbe Stunde durch seinen Geburtsort und seine Kirchen zu führen.
Kein Haus hat mehr als zwei Stockwerke, Walnuss- und Mispelbäume zieren die Gärten. Dazwischen Olivenhaine und Weinstöcke. Totaler Kontrast zum 6 km entfernten Homs. Beim zweiten Interview des Tages habe ich meinen Tiefpunkt, und als der Strom planmässig ausfällt – der Rhythmus ist zwei Stunden Strom, vier Stunden ohne – schaffe ich es nur mit Mühe, nicht auf Erzbischof Arbashs Sofa einzuschlafen. Die paar hundert Meter Abendspaziergang mit Schwester Youssra lüften den Kopf. So langsam hat sich mein Ohr an die syrischen Eigenarten im Arabischen gewöhnt. Wenn ich nur nicht so müde wäre.
In der Nacht sind Schüsse und ein paar Explosionen in der Ferne zu hören. Da die Schwestern friedlich weiterschlafen und sich auch sonst keiner in der Nachbarschaft rührt, scheint es sich um keinen gravierenden Zwischenfall zu handeln. Ich versuche zu schlafen. Um sechs geht mein Bus nach Damaskus. Dachte ich. Fälschlicherweise. Die Abfahrt war um Viertel vor sechs, wie Schwester Lina und ich fünf vor sechs feststellen. Zum Glück verspricht der Fahrer, in Homs auf mich zu warten, und das Taxi von Zaidal nach Homs ist schnell. Nach einer unruhigen Nacht scheint mir der Blick des Soldaten, der am Ortseingang meinen Pass fordert, umso finsterer, und die Rangelei am Strassenrand, deren Zeuge wir werden, trägt nicht zur Entspannung bei.
Am Bab Touma, dem Eingang zum christlichen Altstadtviertel Damaskus’ steige ich aus und tauche in eine andere Welt. Immer noch ist das Militär präsent, dazwischen aber herrscht, von aussen betrachtet, dasselbe wuselige Treiben wie bei meinem letzten Besuch vor acht Jahren. Ich liefere einen Brief aus Beirut bei den Franziskanern ab und beziehe mein Quartier unweit der Altstadt.
Dann mache ich mich mit Schwester Yola zurück auf den Weg nach Bab Touma. Fadia, Medienstudentin aus Damaskus und Freundin eines Freundes, hat sich angeboten, mich durch die Stadt zu führen. „Ich will dir mein Damaskus zeigen“, sagt sie, „mein Damaskus, das man riechen, schmecken, hören und fühlen muss!“ Stolz und Trauer liegen in ihrer Stimme. „Ich liebe mein Damaskus, und deshalb tut es so weh“ – den Satz wird Fadia heute noch manches Mal wiederholen.
Fadias Damaskus, das ist das süsse Brot der Orthodoxen, die geeiste Zitronenlimonade aus dem alteingesessenen Laden, vor dem die Leute ebenso Schlange stehen wie vor dem Bäcker mit den besten Käse- und Schokoladencroissants. Es ist der Klangteppich im überdeckten Souk und der abendliche Wind in den Blättern. Das wirtschaftliche Zentrum und das schier endlose Sammelsurium von Antikem und Kuriosem im Ghazi-Palast, die kaum zwei Schultern breiten Seitengassen, in die sich verliebte Pärchen gern zurückziehen. Der Duft von frischem Kaffee und der Ladenbesitzer, der seine letzten Fremdsprachenkenntnisse hervorkramt, um mich in seinem Land willkommen zu heissen. Mit jedem Schritt wird Fadias liebevoller und kritisch-optimistischer Blick auf ihre Stadt Teil „meines“ Damaskus. Wo immer uns Menschen ansprechen, ist Fadia ganz Ohr, fast so, als sammle sie die Geschichten, die die Stadt ihr erzählt.
Mit der wohl traurigsten von ihnen beschliessen wir den Tag: Besuch in der Familie von Reem, die bei Verteidigungskämpfen vor Damaskus an einem Tag den Mann und den Schwager verloren hat. Die jüngste Tochter Reems ist zwei Wochen später geboren. Ihr Name ist Sham, der Name, den die Bewohner Damaskus gegeben haben.
Zurück im Konvent, sinke ich in den Sessel an der Rezeption und kann die Tränen nicht zurückhalten. „Wie oft kann ein Mensch für sein Vaterland sterben“, hat Fadia gesagt. Und: „Ich bin in den letzten fünf Jahren oft gestorben.“
Zwei Aspirin und sechs Stunden später geht es meinem Kopf wieder einigermassen, dafür ist der Magen nicht ganz so glücklich. Abouna Anton nimmt mich mit auf eine kleine Tour durch die Altstadt, dann ziehe ich alleine weiter. Die Kamera bleibt einmal mehr im Gepäck, auf Diskussionen mit Soldaten habe ich heute keine Lust. Ich versuche mein Glück beim armenisch-katholischen Bischof, und er empfängt mich auch unangemeldet sehr herzlich. Nach (offenbar bestandenem) Test über die wichtigsten Theologen des 20. Jahrhundert steht er mir bereitwillig Rede und Antwort.
Auf meinem Rückweg durch den Souk finde ich, wonach ich gesucht habe: einen intarsienverzierten Buchständer. Händler Ayman verzaubert mich mit seinem Damaszener Akzent – lang gedehnte Silben, die am Satzende mit einem feinen Glissando nach oben gezogen werden. Während er den Staub der Jahrhunderte von meinem Liebhaberstück poliert, sitze ich im Halbdunkeln des Ladens und lausche der Melodie. Zum „Pranzo“ finde ich mich am Tisch mit vier Franziskanern wieder, mein Magen überfordert vom Essen, mein Hirn vom erneuten Wechsel in eine Fremdsprache, die ich nicht wirklich beherrsche. Statt wie geplant bis zum nächsten Interview zu arbeiten, schlafe ich über meinem Text ein.
So langsam habe ich mich akklimatisiert, und so nehme ich für den Weg zur Nuntiatur ein Taxi. Zurück laufe ich zu Fuss, durchs Botschaftsviertel, entlang des Barada, zur Altstadt. Mein Magen dankt es mir und so wage ich einen zweiten Besuch bei Bakdash, der berühmten Eisdiele im Souk. Zurück im Kloster, ist gerade das Mariengebet vorbei und so finde ich mich rasch umgeben von Flüchtlingsfrauen, die mich neugierig ausfragen.
Meine Müdigkeit hat einen Grad erreicht, bei dem ich selbst mit Wecker nur noch mühsam aus dem Bett komme. Jeder Versuch, am Computer zu arbeiten, scheitert binnen wenigen Minuten, weil mir die Augen zufallen. Also Plan B. Ich schmeisse mich in mein Sportzeug und gehe zum ersten Mal seit Tagen laufen. Ein paar Sprints zum Abschluss, und die Erschöpfung weicht einer gesunden Müdigkeit.
Am Nachmittag ein spannendes Interview mit einem iranischstämmigen Franzosen, der seit einem Jahr hier eine kleine Hilfsorganisation leitet. Ich bin erstaunt zu hören, dass er regelmässig junge Freiwillige aus Frankreich bei sich beherbergt. Wir quatschen uns fest, ich frag ihn über Aleppo aus, er mich über Gaza. Wenn ich wiederkomme, verspricht er, nimmt er mich mit nach Aleppo und Latakia.
Danach lasse ich mich treiben, sitze mit dem einen und anderen Händler zusammen, die sich einen Spass draus machen, mein palästinensisches Arabisch nachzuahmen. Bakdash hat mittlerweile auch bei mir Tradition. Ich werde wiedererkannt, und auf die bestellte Portion arabisches Eis kommen mit breitem Lächeln noch zwei Löffel andere Sorten. „Für eine Ausländerin ist Dein Arabisch ganz passabel“, sagt der junge Mann, der mir mein Natelguthaben auflädt, und ein paar Strassen weiter fragen mich zwei Musliminnen nach dem Weg.
Zurück im Konvent, schaffe ich noch die zweite Hälfte des Artikels – und auch Internet und Strom halten den Abend lang durch. Ich denke darüber nach, wann es mir wohl gelingt, wiederzukommen.
Zum ersten Mal in dieser Woche wünsche ich mir, einfach tun und lassen zu können, was ich will. Die Besetzung am Frühstückstisch hat gewechselt, und diesmal bin ich sprachtechnisch wirklich verloren: Um mich herum spricht man syrisch, die Sprache vieler syrischer Christen.
Der Strom hält für ein paar Stunden, so dass ich wenigstens ein Interview abarbeiten kann. Als schliesslich der Akku leer ist, mache ich mich auf die Suche nach einer Flasche Wasser. Es ist Freitag, die meisten Geschäfte sind geschlossen. Stattdessen entdecke ich einen kleinen Markt gleich hinter den Häuserblöcken auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Knoblauch hat Saison, und der Duft der teils kunstvoll gebundenen Zöpfe füllt die Strasse. Schon eigenartig, wie schnell man – ich – sich auf den immer gleichen Wegen bewegt, wo doch auch links und rechts davon viele kleine Perlen versteckt liegen…
Nach dem Mittagessen ist der Akku wieder aufgeladen. Ich verbringe den Nachmittag in der lateinischen Pfarrei, zusammen mit 50 Familien aller katholischen Konfessionen. „Wie in Zeiten des Kriegs besser kommunizieren“, lautet eine der Fragen des Studiennachmittags. Als ich beim Aufnehmen des Gruppenfotos den halblaut gemurmelten Spekulationen über meine Herkunft auf Arabisch antworte, habe ich die Lacher auf meiner Seite.
Beim Abschied von Schwester Davida kommen mir erneut die Tränen. Es berührt mich, dass sie in mir die Heldin sehen, weil ich hergekommen bin. Dabei sind Sie meine Helden: weil sie bleiben. Und Tag für Tag diese Situation erleben.
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