Das Alter veraltet
Die These meines Beitrages ist: Das Alter ist im wahrsten Sinne des Wortes veraltet
Prof. Dr. Gerhard Wegner
Die These meines Beitrages ist: Das Alter ist im wahrsten Sinne des Wortes veraltet. Die Gesellschaft wird tendenziell altersindifferenter, die Lebensmöglichkeiten der Menschen, so kann man es positiv sehen, vergrössern sich durch diese Erfahrung des dritten Lebensalters. Dies ist zweifellos eine weltgeschichtlich einmalige Entwicklung, die grosse Chancen bietet, aber auch mit Risiken verbunden ist. mehr
Mit folgenden Thesen soll diese Entwicklung vertieft werden:
These: Die Gesellschaft wird altersindifferenter
2. These: Das Alter pluralisiert sich und wird ungleicher
3. These: Bilder vom Alter wirken in der Regel verstärkend und bestätigend
4. These: Die wichtigste Zukunftsfrage ist: Wofür wird das längere Leben genutzt?
5. These: Im Alter neu werden können!
Die Herausbildung neuer Lebensmöglichkeiten im Alter
1. These: Die Gesellschaft wird altersindifferenter
Das Lebensalter wird als Indikator für Lebenszusammenhänge und Lebensorientierungen immer unwichtiger.
Deutlich wird schon in der unmittelbaren primären Lebenserfahrung, aber auch in der wissenschaftlichen Altersforschung, dass das biologisch nummerische Lebensalter immer weniger über einen Menschen aussagt. Es ist längst kein guter und treffender Indikator mehr. Früher konnte man, wusste man von einem Menschen das Lebensalter, eine ganze Menge über ihn voraussagen. Das betraf das das individuelle Verhalten, insbesondere aber auch körperliche Fitness oder Bekleidung und Lebensinteressen. In gewisser Hinsicht war die Gesellschaft von Altersstrukturen her gegliedert. Der Übergang in den Ruhestand markierte einen entscheidenden Bruch mit der bisherigen Biografie.
Alleine die Kenntnis des Alters des Menschen sagt heute so gut wie gar nicht mehr aus – bis dahin, dass man sich immer mehr bei Klassentreffen wundern kann, wie unterschiedlich die Menschen sind. Es werden immer mehr Altersgrenzen in der Gesellschaft fallen müssen. Entsprechende Diskussionen hierüber gibt es ja auch an vielen Stellen. Pauschale Altersgrenzen, die sich am Indikator Alter orientieren, werden zunehmenden als ungerecht durchschaut. Denn völlig unterschiedliche Leistungsfähigkeiten werden über einen Kamm geschert – die im Sinne der Gleichheit, aber nicht der Gerechtigkeit funktionieren. Nötig wird es in Zukunft, individuelle Lösungen zum Beispiel beim Übergang in den Ruhestand und beim Bezugsbeginn der Rente zu finden. Zunehmend wird es hier auch rechtliche Interventionen geben, da pauschale Altersgrenzen in allen Bereichen auch der Würde der Menschen nicht mehr entsprechen – und ihren Wünschen schon gar nicht.
Bestimmte Berufsgruppen haben es längst geschafft, Altersgrenzen zu durchbrechen und dies wird weiter zunehmen. Bei hochqualifizierten und selbstständig tätigen Berufen gab es diese Entwicklung schon. Bestimmte Argumentationen, die für das Einhalten solcher Altersgrenzen mit angeblichen Defiziten der Älteren argumentieren – zum Beispiel dass ältere Menschen in anstrengenden Sitzungen schneller einschlafen als jüngere (was empirisch Unsinn ist) –, werden fallen.
In dieser Richtung kann man auch über die Rente mit 67 diskutieren. Mit grosser Wahrscheinlichkeit ist damit noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. Die Rente mit 67 bietet natürlich grosse Härten für bestimmte Berufe, sofern sie gesundheitlich so anstrengend sind, dass man dieses Berufsalter überhaupt nicht erreichen kann. Hier braucht es deswegen dringend flexiblere Übergänge. Eine pauschale Rente mit 67 wird deswegen weiter differenziert werden. Einige wollen gerne bis 70 arbeiten; andere müssen bereits mit 60 Jahren in den Ruhestand gehen. Das Rentenalter muss auf die individuelle Leistungsfähigkeit und Fitness bezogen werden, auch wenn natürlich entsprechende Verfahren sehr viel schwerer zu entwickeln sind als die bisherigen pauschalen Regelungen.
Ein entscheidender Hinweis auf die nachlassende Indikatorwirkung des biologischen Alters ist die Veränderung sozialer Milieus. In der Milieuforschung sind bisher oft die Faktoren Alter und Bildung als Indikatoren für die Zuordnung zu Milieus gebraucht worden und haben auch treffsicher funktioniert. Bildung bleibt auch weiterhin ein Indikator, aber im Blick auf das Alter verschieben sich die Koordinatenkreuze deutlich. Die Sinus-Milieus 2009 können z. B. feststellen, dass die Bevölkerung zwar immer älter wird, aber dennoch der Anteil traditioneller Milieus deutlich weiter schrumpft. Er lag 1982 noch bei 47 Prozent und liegt 2009 bei 24 Prozent, hat sich also innerhalb von 30 Jahren halbiert. Das ist eine enorme Entwicklung. Gleichzeitig haben alle in der Gesellschaft, so eben auch die Alten, Anteil an die Gesellschaft insgesamt erfassenden Prozessen von Modernisierung, sprich Individualisierung.
These: Das Alter pluralisiert sich und wird ungleicher.
Das Alter wird offener, differenzierter und gestaltbarer. Vieles wird möglich – aber der Einfluss der sozialen Ungleichheit wird grösser.
Schon aus der ersten These lässt sich ableiten, dass es das Alter in Zukunft kaum mehr geben wird. Wenn sich die Lebenssituationen und die persönlichen Erfahrungswelten der Alten immer mehr differenzieren, dann pluralisiert sich das Alter insgesamt. Es wird differenzierter. Lebenssituationen werden offener und im Prinzip ergeben sich damit neue Freiheitsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten. Vieles wird für die Älteren möglich und viel mehr wird möglich. So zum Beispiel Tätigkeiten und Verhaltensweisen, die noch vor 30, 40 Jahren vollkommen undenkbar gewesen ist, weil man als alter Mensch so etwas eben nicht tat.
Hinweise hierfür sind überall anzutreffen. Insbesondere der Boom von Filmen und sonstigen Produkten, die sich auf das Thema der Sexualität im Alter beziehen, indiziert mehr als alles andere einen Wertewandel. Allerdings wird auch die Ambivalenzen speziell dieser Thematik deutlich: man muss dafür auch fit und potent bleiben! Für viele wird das Leben sinnvoller, interessanter und lustvoller, andere erleben aber auch mehr Stress und Konkurrenzdruck. Ob diese Entwicklungen zur Befreiung, zur Emanzipation der älteren Menschen beitragen oder ob sie sich neuen gesellschaftlichen Prägemustern unterwerfen, muss an dieser Stelle offen bleiben. Es ist aber kennzeichnend, dass im Blick auf die älteren Menschen ein emanzipatorischer Diskurs bisher ganz selten geführt wird. Das unterscheidet diese Situation deutlich von anderen Befreiungsbewegungen wie zum Beispiel der Frauenbewegung: sie reklamiert die Gleichstellung der Geschlechter und damit ihre spezifische De-Thematisierung als Befreiung. Entsprechendes findet sich bei den Älteren bisher nur selten.
Gleichzeitig nimmt in all diesen Prozessen der Einfluss der sozialen Ungleichheiten zu. Dieser Einfluss wirkt unabhängig vom Alter als solchen und prägt die gesamte Gesellschaft. Die soziale Ungleichheit in Deutschland hat in den letzten 10 Jahren erheblich zugenommen und es ist keine Umkehr des Trends zu erkennen. Wer sich selbst als Kind als Selbstwirksam erlebt hat – weil er oder sie in relativ wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsen ist –, der hat auch gute Chancen, sich in die Gesellschaft produktiv einzubringen und später ein gutes Alter zu erleben. Das eigene Altersbild ist stark von den eigenen Lebenserfahrungen in der Jugend geprägt. Von einer grundsätzlich positiven Haltung zu sich selbst ist dann auch das Bild vom eigenen Alter geprägt. Sein oder ihr Altersbild wird durchaus positiv eingefärbt sein.
Wer aber früh Armut erlebt, ist in sozialer Hinsicht früher alt und, so muss man es nüchtern formulieren, sieht auch dementsprechend älter aus. Damit ist eine ganz harte Wirklichkeit beschrieben und eine harte Trennung der verschiedenen Lebenswelten. Und schliesslich ist es ja auch so, dass Armut und Reichtum ganz fundamental mit der Lebenserwartung der Menschen zu tun haben. Ein Arbeitsloser hat eine erheblich reduzierte Lebenserwartung gegenüber wohlhabenderen Menschen. Die Differenz liegt bei etwa zehn Jahren. Insofern gilt in jeder Hinsicht, dass arme Menschen schneller alt werden und vielleicht die Zeit des jungen Alters gar nicht werden erleben können. Dies unterstreicht noch einmal, wie sehr sich die Alterserfahrung vom biologischen Lebensalter abkoppelt und durch andere Faktoren, in diesem Falle eben durch die soziale Ungleichheit beeinflusst wird.
Altersarmut
Diese Situation wird sich in Zukunft auch noch durch die sich entwickelnde Altersarmut verschärfen. Es lässt sich heute schon voraussagen, dass Menschen, die im Niedriglohnbereich arbeiten auch nach jahrzehntelanger Lebensarbeitszeit keine ausreichende Rente erhalten werden. Wer heute 45 Jahre lang zu 7,50 Euro pro Stunde arbeiten würde, würde mit 67 Jahren eine Rente von etwa 600 Euro bekommen und liegt damit unterhalb des Existenzminimums. Dies alles hat auch mit der Misere unseres Bildungssystems zu tun, dem es nach wie vor nicht gelingt, die enge Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu überwinden, ja in dieser Hinsicht weitere Rückschritte macht.
In dieser Hinsicht kommt dem in der Kirche Verbreiteten defizitären diakonischen Altersbild in Zukunft eine noch viel grössere Bedeutung zu, als dies bisher schon der Fall ist. Denn es wird nötig werden, im Blick auf die betreffenden Menschen mehr Fürsorge und mehr Schutz zu aktivieren. Nur muss man sich eben klarmachen, dass der entscheidende differenzierende Faktor nicht das Alter ist, sondern die soziale Situation. Insofern ist auch in Zukunft nicht mit einem Kampf jung gegen alt zu rechnen, sondern – wenn überhaupt – mit sozialen Auseinandersetzungen von reich gegen arm. Und in diesen Auseinandersetzungen sind die Armen einfach früher alt und die Reichen bleiben länger jung. Es wird in Zukunft darum gehen, diese Situation in den Blick zu nehmen und möglichst entgegenzusteuern.
These: Bilder vom Alter wirken in der Regel verstärkend und bestätigend.
Die wichtigsten Einflussfaktoren: Bewegung, Bildung und Beziehung.
In diesem Gefüge des längeren Lebens mit guten Chancen für viele, aber einem sich verstärkenden Einfluss der sozialen Ungleichheit, wirken auch die Altersbilder, die es in einer Gesellschaft gibt. In der Regel wirken sie allerdings auf die eigenen Lebenserfahrungen vor allem bestätigend und verstärkend. Gegebenenfalls kann es auch sein, dass sie in einem gewissen Ausmass korrigierend oder auch kompensatorisch wirken. D. h. entsprechende in der Gesellschaft propagierte defizitäre oder positive Altersbilder können durchaus einen spezifischen, so eben begrenzten Einfluss auf die eigene Selbstwahrnehmung haben und können sie positiv oder auch negativ beeinflussen. Dass Altersbilder aber eine autonome sozusagen selbstwirksame Funktion hätten, die unabhängig von sozialen Situationen auf Menschen wirken würde, scheint nicht der Fall zu sein. Deutlich ist: wer eine insgesamt defizitäre und die eigene Entwicklung beeinträchtigende Jugend und Kindheit erlebt, der wird auch ein eher negatives Altersbild entwickeln. So wie er oder sie insgesamt ein eher negatives Lebensbild – das Leben möglicherweise insgesamt eher als Last oder gar als Strafe – ausbilden wird. Alles hängt an der Erfahrung eigener realer Chancen, im Leben etwas beginnen zu können, Antreiber seiner eigenen Entwicklung zu sein und sich in dieser Hinsicht in irgendeiner Weise „verwirklichen“ zu können. Solche Selbstverwirklichung ist der Massstab unserer Gesellschaft und wer davon ausgeschlossen oder beeinträchtigt ist, leidet an mangelnder Teilhabe und infolge dessen an Anerkennung.
Es ist so, dass heute in der Wirtschaft die Personalverantwortlichen und Manager in der Regel ein durchaus aufgeklärtes und das heisst in der Tendenz eher positives Altersbild haben. Dies war nicht immer so. Es ist noch nicht lange her, da war es Common Sense, dass man auf jeden Fall Jüngere einstellen müsse, weil Ältere pauschal nicht so leistungsfähig seien. Heute ist man weitgehend der Meinung, dass ältere Arbeitnehmer nicht per se defizitärer sind als jüngere. Die Durchsetzung dieses positiveren Altersbildes ist jedoch deutlich abhängig von der „Marktlage“ auf den Arbeitsmärkten und der sie beeinflussenden Politik. Solange mittels politisch gewollter Instrumentarien wie Vorruhestand, Altersteilzeit und anderen Formen, ältere Menschen aus den Betrieben relativ komfortabel hinauskomplimentiert werden konnten, gab es keinerlei Anlass, das defizitäre Altersbild zu verändern. Im Gegenteil: diese Massnahmen unterstützen und stellten es sozusagen alterspraktisch unter Beweis. All diese Regelungen waren ja als das Alter schützende Massnahmen gedacht und von daher beruhten sie logischerweise auf einem negativen Altersbild. Indem sie praktiziert wurden, bestätigten sie es. Die Rente mit 67 enthält demgegenüber zunächst einmal kein negatives Altersbild, sondern fordert die Älteren in ihrer Leistungsfähigkeit für die Gesellschaft heraus. Ob es sich dabei nun allerdings um eine Überforderung handelt – in der Undifferenziertheit der Regelung ist das sicherlich der Fall – bleibt zu diskutieren.
An dieser Stelle kann man noch einmal die Frage stellen, ob nicht der Begriff „Altersbild“ ohnehin generell falsch ist, weil die 60- bis 75-Jährigen pauschal als Gruppe eben im Grunde genommen gar nicht „alt“ sind. Es wird für diese Gruppe von Menschen ein neuer Begriff, ein neues Leitbild, ein Ideal gesucht. Die bisher hier angebotenen Beschreibungen von den fitten Alten, den jungen Alten, dem dritten Lebensalter oder was auch immer sonst noch, scheinen nicht mehr zu passen. Auch die Rede, die wir nach wie vor in der Kirche in vielen Bereichen haben, von den Jungsenioren oder der Seniorenakademie treffen nicht unbedingt das Lebensgefühl dieser Menschen. Entscheidend ist die Bedeutung, die das gefühlte eigene Alter aufweist. Es hat sich innerhalb der letzten 30, 40 Jahre rasant nach „hinten“ verschoben.
Noch vor 30 Jahren war die Mehrheit der Bevölkerung der Meinung, dass man etwa um die 60 herum, eben mit dem Übergang in den Ruhestand, alt wäre. Heute wird dieser Übergang erst mit 71, 72 Jahren verortet. Das zeigt, dass der Begriff des Alters für das dritte Lebensalter nicht mehr passt und hier tatsächlich eine Altersindifferenz eingezogen ist. Nun ist der Begriff junge Alte zwar schön paradox, sagt aber inhaltlich wenig. Wäre es deswegen nicht klug, zukünftig ganz auf die Terminologie Alter zu verzichten? Entsprechende Folgerungen werden im 6. Altenbericht angedeutet. Gefordert wird, dass in Zukunft nicht mehr die Zuständigkeit für Alter in einem Ministerium angesiedelt wird, sondern dass der ganze jetzige Bereich Familien, Jugend und Alter als Teil einer übergreifenden Generationspolitik betrachtet werden soll und das Ministerium dementsprechend benannt werden sollte.
Was bedeutet das für die Kirche? Nach wie vor sind viele Begrifflichkeiten lebendig, die auf Alter, Senioren u. ä. abzielen. Wie rufen wir in der Kirche – in Seelsorge, Bildungsarbeit, theologischer Reflexion – in Zukunft diese Menschen an? Ohne ein verändertes Altersbild wird es nicht gehen. Aber deutlich ist auch, dass die kirchlich-diakonische Tradition des Altersschutzes nicht einfach abgestreift werden kann. Sie hat auch weiterhin ihre Bedeutung Zumindest für das hohe Alter.
Wir sollten ein realistisches – positiveres – Altersbild von zumindest drei grundsätzlichen Lebensebenen oder Lebensdimensionen her entwickeln. Man könnte dies dann auch als Lebensbild, in das alle Lebensphasen eingeordnet sind, begreifen – weniger als Altersbild. Die verschiedenen Ebenen oder Aspekte des Lebens, die ich für wesentlich halte, lassen sich durch die drei Begriffe Bewegung, Bildung und Beziehung – oder auch Laufen, Lernen, Lieben, Lachen – zusammenfassen. Ein gutes Leben – gerade in christlicher Hinsicht – realisiert sich in diesen drei Beziehungen und Dimensionen. Es hat mit Bewegung, auch gerade körperlicher Aktivität zu tun. Sie ist, wenn man so will, die Grundlage für ganz Vieles, auch für Beziehung und für Bildung. Man weiss das aus der frühkindlichen Entwicklung, aber es gilt ebenso für die Zusammenhänge zwischen Bewegung und Bildung bis hin zur mentalen Vorsorge gegen Demenz ins hohe Alter hinein. Dabei geht es nicht um totale körperliche Fitness, sondern ganz einfach um körperliche Aktivität. Und die ist nötig, um sich selbst wohl zu fühlen und auch möglichst lange seine Gesundheit zu erhalten. An dieser Stelle greift aber wiederum das Thema soziale Ungleichheit. Sie setzt sich besonders nachhaltig in diesem Bereich um, indem sie Menschen auf den Körper schlägt und sie an ausgreifender Bewegung im Sinne von Aktivität und Teilhabe hindert. Die Bedeutung der beiden weiteren Bereiche Bildung und Beziehung liegt auf der Hand. Wer sich selbst in diesen drei Beziehungen Bewegung, Bildung und Beziehung betätigt – wer läuft, lernt und liebt und dabei vielleicht auch noch lacht – der hat gute Chancen, ein hohes Alter zu erreichen.
These: Die wichtigste Zukunftsfrage ist: Wofür wird das längere Leben genutzt? Leitbild „Sich-Einbringens in die Bürgergesellschaft“ statt Leitbild „Kreuzfahrten“
Was fangen die Menschen mit dem gewonnenen längeren Leben an? Wofür nutzen sie die neuen Möglichkeiten? Die Debatte hat längst begonnen und schlägt sich auch im Deutungskampf über das Dritte Alter nieder. Im Grossen und Ganzen ist man sich aber einig: Die Alten sollen sich stärker einbringen, sollen Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen. Ohne eine bessere „Nutzung“ der Ressourcen der Älteren wird es in einer von der demografischen Entwicklung so heftig geprägten Gesellschaft wie Deutschland auch tatsächlich kaum gehen können. Die Diskussionen darüber, welche Erwartungen in Zukunft an ältere Menschen herangetragen werden, was sie mit ihrem längeren leben tun, werden deswegen zunehmen.
Idealtypisch gesehen gibt es in dieser Hinsicht zwei Möglichkeiten:
Das eine ist die des konsumorientierten längeren Lebens, für das hier das Symbol der Kreuzfahrten bzw. des Traumschiffs stehen soll. Hier geht es darum, dass Menschen im Sinne des Erfahrens noch einmal etwas für sich selbst tun wollen. Sie müssen keine entfremdete Tätigkeiten mehr ausüben und können das Leben geniessen und wollen konsumieren. Diese Entwicklung muss nicht, sie kann aber in eine Haltung ausarten, die nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“ funktioniert. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn sich diese Lebenshaltung auch noch mit der in der Gesellschaft diskutierten Möglichkeit, sein Leben selbsttätig beenden zu können, trifft. Man geniesst sein Leben, solange man kann, und sobald man dann abhängig und in diesem Sinne wirklich alt wird, gibt es die legitime Perspektive, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen. Solche auf das Leben im Hier und Jetzt zielenden Haltungen werden in der Gesellschaft auch angesichts zunehmender sozialer Spannung mit grosser Wahrscheinlichkeit zunehmen. Das kann sich mit zynischen Debatten über die Zukunft Deutschlands verbinden, ganz nach dem Motto „Was soll das alles überhaupt noch, wenn es ohnehin keine Zukunft gibt, weil die Deutschen keine Kinder mehr bekommen?“ In gewisser Hinsicht wäre dies eine völlig säkularisierte Haltung.
Oder aber die andere, die in diesem Sinne christliche Vision eines aktiven Alters für andere und mit ihnen. Hier ginge es darum, sich zu engagieren, sich ein- und auszusetzen und die eigenen Ressourcen nicht nur für sich selbst zu nutzen und sozusagen alle Ressourcen nur aufzuessen, sondern mit anderen zu teilen. Und sie auch im Sinne einer Zukunftsorientierung des Lebens einzubringen. An dieser Stelle greift der Beitrag der Kirchen, der die älteren Menschen in dieser Hinsicht an ihre Berufung erinnert und ihnen vom Glauben her Mut macht, sie auch auszuleben und sich für eine auch in Zukunft lebenswerte Gesellschaft einzusetzen.
Die Alternative ist überzogen. In der Wirklichkeit wird es Grau- und Zwischentöne geben. Es geht auch nicht darum, Menschen mit ihren Lebenshaltungen zu diskriminieren. Aber es hängt schon sehr viel davon ab, dass überhaupt eine Debatte über die Möglichkeiten und Verpflichtungen geführt wird, die sich aus dem längeren Leben ergeben. In christlicher Hinsicht kann sie geradezu klassischen theologischen Argumentationsmustern folgen: Aus dem unverdienten Geschenk der Lebensjahre folgt die Verpflichtung, es nicht nur für sich selbst sondern stets zumindest auch für die Gemeinschaft aller zu nutzen. Die Gabe führt zur Gegengabe. Gerade dieses Denken eignet sich ohnehin gut für eine solidarisch zwanglos verpflichtende Gestaltung der Generationenzusammenhänge. Allerdings, in einer vielleicht gar nicht mehr so fernen Gesellschaft des ganz langen Lebens (120 Jahre Lebenserwartung sind im Prinzip heute schon möglich) – ohne generative Reproduktion, d. h. ohne Kinder – stellen sich all diese Fragen ganz anders.
These: Im Alter neu werden können!
Wandel des religiösen und kirchlichen „Altersbild“: von einer Mortalitäts- zu einer Natalitätsorientierung
Die theologische Herausforderung ist bereits deutlich geworden: Was ist mit dem neuen Alter eigentlich theologisch anzufangen? Wie lässt sich der Lebensgewinn, die Gesellschaft des langen Lebens, theologisch begreifen? Hybris? Geschenk? Von den bisher für das Alter greifenden seelsorgerlichen Vorstellungen eines „Hinfliessens zum Tode“ bzw. überhaupt eines Bestimmt-seins durch eine grosse Nähe zum Tode kann so einfach nicht mehr geredet werden.
Die Debatte wird, wenn sie überhaupt geführt wird, durchaus kontrovers. Nach wie dominiert eine Reaktualisierung der überkommenen alterseelsorgerlichen Vorstellungen. Von ihnen her gibt es eine theologische Kritiklinie, die den Protagonisten eines aktiven Alters und eines in diesem Sinne positiv-fordernden Altersbildes vorwirft, die alten Menschen sozusagen im Interesse einer ausbeuterischen neoliberalen Gesellschaft zu missbrauchen. Der „Terror des gelingenden Lebens“ setze ein, wenn das Alter unter den Zugriff einer entsprechenden Ökonomie gerät. Der Imperativ sei dann: Das Leben müsse um den Preis aktiver Teilhabe – ja sozialstaatlicher Versorgung überhaupt – „gelingen“, d. h. alle Regungen müssten sich entsprechend formatieren. Die Scholarisierung des Alters, letztlich ein entfremdender Selbstzwang, dominierten die Diskussion. Die letzten Freiheiten des Alters – den Zwängen kapitalistischer Verwertungsimperative wenigstens ein wenig entronnen sein zu können, wären dahin.
Dieser Diskussionsbeitrag ist für die Zukunftsorientierung von ausserordentlicher Bedeutung. Er greift aber „neben“ die wichtige Diskussion, was Menschen eigentlich mit ihrem längeren Leben machen wollen. Denn die produktiven Altersbilder reagieren auf dieses längere Leben, sie verarbeiten Erfahrungen mit ihm und kommen deswegen immer plausibler zum Tragen. Sie fragen nach einer gesellschaftlichen Gestaltung dieser neuen Lebensphase, zu der auch die Kirchen aufgefordert sind, Antworten zu liefern. Demgegenüber scheint mir die kritische theologische Diskussionslage dieses neue Phänomen nicht wirklich angemessen zur Kenntnis zu nehmen. Sich aber der Debatte um die Gestaltung der Chancen schlicht zu verweigern und sozusagen die Alten in Ruhe lassen zu wollen, reicht in keiner Weise mehr aus. Wenn man den Terror des gelingenden Lebens abwehren will, dann müsste man positive Lebensbilder für die neue Lebensphase entwickeln. Man müsste vor allem zur Kenntnis nehmen, dass das Ideal eines gelingenden Lebens – im Sinne des Sich-Schliessens von Lebenskreisen – heute für immer mehr Menschen nicht nur ein erstrebenswertes Ideal sondern Realität zu werden scheint. Wenn Menschen immer älter werden, wächst die reale Chance, der Fragmentarität zu entkommen und sein Leben zu Ende oder vielleicht sogar zur Vollendung zu bringen. Das grosse Projekt der Moderne: die unendliche Verlängerung des Lebens näherst sich seiner Erfüllung.
Dieser grossen Herausforderung wird in der EKD-Denkschrift zu Fragen des Alters dadurch versucht gerecht zu werden, dass hier das Alter nicht mehr von der Mortalität, sondern von der Natalität her gedacht wird. Natürlich bleibt der Tod und die Nähe zum Tod im Alter von Bedeutung – aber sie ist in der Lebenserfahrung längst nicht mehr so prägend wie in früheren Zeiten. Will man folglich religionskonstitutive Erfahrungen – Erfahrungen der Kontingenz des Lebens – abrufen, so funktioniert dies immer weniger über den Bezug auf die letztendliche Begrenztheit des Lebens zu seinem Ende hin – aber es bleibt der Beginn. Dieser Wechsel in der Blickrichtung ist von entscheidender Bedeutung. Denn Religion und christlicher Glaube hängt herkömmlich ganz stark an den Erfahrungen der Mortalität als der entscheidenden Kontingenzerfahrung der Menschen. Im EKD Text wird nun versucht, die Natalitätserfahrung als eine andere Form der Kontingenzerfahrung in die Diskussion einzuführen.
Damit ist nicht geleugnet, dass das Alter mit Mortalität zu tun hat und dass es hier im hohen Alter natürlich darum geht, seelsorgerliche und sonstige Hilfen anzubieten, um den Weg in die Arme Gottes zu ermöglichen. Aber es bleibt dabei, die Lebenszeit vorher in den Blick nehmen zu müssen. Deswegen wird die Perspektive im EKD-Text auf Natalität hin gedreht. Die Erfahrung ist nun, dass Menschen in der gewonnenen Lebenszeit etwas Neues beginnen können, eine neue Art von Freiheit erleben. Diese Erfahrung sollte christlich qualifiziert, religiös begründet und dann eben auch zivilgesellschaftlich gestaltet werden. Das Reden von der Möglichkeit zum Neuen reagiert hier auf die neuen Chancen, die es heute real in der Lebenswelt für viele Menschen gibt. Es wird versucht, sie in Richtung auf ein sich neues Öffnen für Liebe, Laufen, Lernen zu prägen. Genau dazu muss Kirche also verhelfen: sich aufzumachen, sich auf ein weites Feld zu stellen, neu leben zu können und in dieser Hinsicht eine hoffnungsvolle Perspektive auf die gewonnenen Lebensmöglichkeiten zu gewinnen. Diese Deutung verarbeitet auch produktiv die Dilemmata um die neoliberalen Nutzungen des Alters und stellt ihnen die religiöse Perspektive eines Lebens aus geschenkter Freiheit – aktualisiert durch die Erfahrung geschenkter Lebenszeit – entgegen.
Fazit Noch ist es so, dass die älteren Menschen religiöser und kirchlicher geprägt sind als jüngere. Dies hat jüngst noch einmal das Institut für Demoskopie Allensbach in einer Umfrage bestätigt. Religiöse Praxis ist ausgesprochen altersgebunden. Von Leuten über 60 Jahren beschreiben sich 57 Prozent als religiös, von den Personen unter 30 dagegen nur 28 Prozent. „Alle Indikatoren für Religiosität – auch Glaubensinhalte, der subjektive Stellenwert von Religion im eigenen Leben, das Interesse an religiösen Fragen über die religiöse Praxis – zeigen die ausgeprägte Altersgebundenheit.“ Vermuten lässt sich – und darauf deuten erste Ergebnisse aus dem Sl-Altersprojekt hin – dass sich insgesamt der Level von Kirchlichkeit und Religiosität bei den Älteren senkt. Es würde auch sehr wundern, wenn sich die geradezu zwangsläufig aus der Situation ergebenden Säkularisierungsanreize nicht bemerkbar machen würden. Mit dem älter werden des Alters veraltet auch die (christliche) Religion.
Diese Situation hat, so lässt sich plausibel vermuten, mit der herkömmlichen Deutung des Alters als näher zum Tode und damit näher zur grundlegenden Kontingenzerfahrung im Leben zu tun. Aber es ist auch zu erwarten, dass sich angesichts der Veränderungen und der Öffnung einer neuen Lebensphase gerade in dieser Hinsicht eine ganze Menge verändern wird. Die Frage ist, was tritt in dieser Lebensphase an die Stelle einer ausgeprägten Religiosität? Bleiben die Alten so religiös, wie sie bisher waren, oder tut sich hier eine neue Ebene säkularisierter Welterfahrung auf, die für Theologie und Christentum zu einer massiven Konkurrenz werden Wird?
Wenn man so will sind die innerweltlichen Verheissungen der Moderne nun endlich auch bei den Alten angekommen. Der Kirche bleibt keine Zeit mehr, angesichts dieser Entwicklung weiterhin auf die Loyalität der Alten zu setzen. Sie muss sich in die Gemengeklagen der Deutungen dieser neuen Situation begeben und die Chancen für eine christliche Perspektive reklamieren. Sonst wird es bald zu spät sein.
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