Salz auf unserer Seele
Verkannt und karikiert, aber ein Grosser: Am Sonntag wird der Konzilspapst Paul VI. seliggesprochen
Mit seinem Apostolischen Schreiben “Evangelii nuntiandi” war der Montini-Papst der theologische Wegbereiter dessen, was heute als Neu-Evangelisierung drängendste Aufgabe der Kirche wäre. Auch beim Thema Glaubensverkündigung war sein Pontifikat prophetisch.
Ein Grund mehr, den neuen Seligen neu zu entdecken.
Die Tagespost, 17. Oktober 2014,
Von Markus Reder
Einen Meilenstein setzte Paul VI. nicht nur mit seinem Auftritt vor der UNO. Er war auch ein Vordenker der Neuevangelisierung.
– Worte können vernichtend wirken. Im Falle von Paul VI. genügten fünf Buchstaben: Pille. Vom Konzilspapst, vom feinsinnigen Theologen, vom weitsichtigen Denker, prophetischen Mahner und weltoffenem Freund moderner Kunst blieb für die säkulare Nachwelt am Ende der “Pillen-Paul”. Eine böse Karikatur, die heute noch bis weit in kirchliche Kreise hinein Wirkung zeigt und dafür sorgt, dass man sich vor der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Paul VI., seiner Verkündigung und seinem Pontifikat scheut. “Pillen-Paul”: Klappe zu, Papst erledigt. Das ist allemal einfacher, als einsehen und eingestehen zu müssen, dass man sich erstens viel zu wenig mit Montini befasst und zweitens seine Texte im Original entweder gar nicht gelesen oder nur selektiv verhackstückt hat. Auch im Umgang mit Paul VI. fehlt bis heute oft jenes Mindestmass an Bereitschaft, sich vorurteilsfrei einzulassen, ohne das es kein Verstehen geben kann.
Am Sonntag spricht Papst Franziskus Paul VI. selig. Diese Seligsprechung könnte Anlass sein für eine Neuentdeckung dieses Reform-Papstes. Mit etwas Optimismus kann man das zumindest hoffen. Eine solche Neuentdeckung wäre ein Segen, nicht nur, weil damit das verzerrte Bild der von den Medien verwalteten kollektiven Erinnerung zurechtgerückt würde. Es wäre damit auch der grundsätzliche Erkenntnisgewinn verbunden, mit der eiligen Etikettierung von Pontifikaten in “konservativ” und “progressiv” vorsichtiger zu sein. Paul VI. war ein Bewahrer und ein Mann der Reform, der inneren wie der äusseren.
Der Termin der Seligsprechung bei der Abschlussmesse der vatikanischen Familiensynode am Sonntag ist kein Zufall und hat nicht nur damit zu tun, dass sich die Synode mit Ehe, Familie und Sexualmoral befasst hat – alles Themen, bei denen man an Paul VI. und “Humane vitae” nicht vorbeikommt. Es war der Montini-Papst, der 1965 die Bischofssynode als feste Einrichtung der katholischen Kirche institutionalisierte. Auch deshalb passt dieses Datum.
Als Erzbischof von Mailand gehörte Kardinal Giovanni Battista Montini zu den Vertrauten des seligen Papstes Johannes XXIII. (1958–1963). Als dessen Nachfolger führte Paul VI. das Konzil zu Ende. Geboren am 26. September 1897 als Sohn eines norditalienischen Rechtsanwalts, schlug Montini die Priester- und Diplomatenlaufbahn ein. Seit 1937 war er engster Mitarbeiter von Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli, des späteren Papstes Pius XII. (1939-1958). 1954 ernannte Pius XII. Montini zum Erzbischof von Mailand. 1963 zum Papst gewählt, setzte er das Konzil fort, die Liturgiereform ins Werk und reformierte die Kurie. Der Sturm der nachkonziliaren Entwicklungen prägte sein Pontifikat bis zu seinem Tod 1978 massgeblich.
Montini war der erste “Reisepapst” der Neuzeit. Er bereiste alle Kontinente. Als erstes Kirchenoberhaupt der Moderne pilgerte er im Januar 1964 ins Heilige Land. Mit seinem Treffen mit Patriarch Athenagoras in Jerusalem legte er den Grundstein für eine neue Ökumene. Athenagoras sprach im Anschluss an diese Begegnung von der “Morgenröte eines neuen und strahlenden Tages2. Papst Franziskus nahm den 50. Jahrestag dieses Treffens zum Anlass für seine Heilig Land-Reise in diesem Jahr.
Auch die Ansprache von Paul VI. vor den Vereinten Nationen in New York gilt als historisches Ereignis (1965). Sein damaliger Appell ist unvergessen. “Nie wieder Krieg!… Niemals mehr Hass gegen die anderen, niemals, niemals, niemals”, rief er den Delegierten der UN-Vollversammlung zu und stellte das Gewissen, die innere Erneuerung und den Glauben an Gott als Grundlage echten Friedens heraus. In seiner Sozialenzyklika “Populorum progressio” (1967) forderte er einen Ausgleich zwischen reichen und armen Ländern. Sein Satz “Entwicklung ist der neue Name für Friede” eröffnete ein neues Bewusstsein im Umgang mit den Ländern der sogenannten Dritten Welt.
Der Bruch zwischen der christlichen Botschaft und der modernen Kultur war für Paul VI. das grosse “Drama unseres Zeitalters”. Ein Drama, durch das er sich als Pontifex Maximus der katholischen Kirche in besonderer Weise herausgefordert sah. Unter den vielfältigen Antworten, die er auf dieses Drama zu geben versuchte, ragt sein Apostolisches Schreiben “Evangelii nuntiandi” in besonderer Weise heraus. Mehr noch: “Evangelii nuntiandi” ist die Gründungsurkunde dessen, was heute als Neuevangelisierung drängendste Aufgabe der Kirche wäre. Der Text von Paul VI. verdient daher dringend erneute Lektüre. Damit würde auch der grosse Bogen deutlich sichtbar, der sich vom Zweiten Vatikanischen Konzil bis zum jetzigen Pontifikat spannt. In “Evangelii nuntiandi” (1975) analysiert Paul VI. die Schwierigkeiten der Kirche mit der Glaubensverkündigung in der modernen Welt und fordert eindringlich neue Ansätze und neuen Elan zur Überwindung des Grabens zwischen Kirche und zeitgenössischer Kultur. Nun wird man – zumindest in Europa und Nordamerika – den Traum beerdigen müssen, das Christentum könne wieder zu der kulturprägenden Grösse schlechthin werden. Die neue Herausforderung besteht darin, das Wort Gottes in einer Gesellschaft zu verkünden, die drauf und dran ist, ihre christlichen Wurzeln komplett zu kappen. Die ablehnt, was sie zu kennen meint, ohne die befreiende Botschaft des Christentums wirklich erfasst zu haben. Nicht zuletzt muss die Kirche darauf antworten, dass in ihren eigenen Reihen das Glaubenswissen in bisher nicht gekannter Weise zerrinnt.
Es gibt keine Garantien für ein Fortbestehen des Christentums in einem Kontinent, dessen Gesellschaft und Kultur einst vom Geist des Evangeliums geprägt war, und dessen Humanität ihren Bestandsschutz im Glauben an Jesus Christus hatte. Dessen war sich Paul VI. sehr bewusst. Daher rief er zur Gegenoffensive auf. Sein Apostolisches Schreiben “Evangelii nuntiandi” kann als eine Art Magna Carta der Evangelisierung gesehen werden. Auf vier Punkte legte Paul VI. besonderen Wert.
Erstens: Die Echtheit des gelebten Glaubenszeugnisses. Für Montini war das wichtiger als das Wort von Gelehrten, wie er selbst formulierte.
Zweitens: Das Miteinander von Priestern und Laien im Dienst der Evangelisierung, jeder an seinem Platz und in der ihm eigenen Zuständigkeit.
Drittens: Die Bereitschaft zum Bekenntnis als Voraussetzung für den Dialog. Dialog ist für Paul VI. kein Ersatz für das Bekenntnis, er setzt das Bekenntnis voraus.
Und viertens: Die klare Verkündigung der Lehre Christi. “Das schönste Zeugnis erweist sich auf die Dauer als unwirksam, wenn es nicht erklärt, begründet (…) und durch eine klare und eindeutige Verkündigung des Herrn Jesus Christus entfaltet wird”, schrieb Paul VI. damals in “Evangelii nuntiandi”.
Johannes Paul II. hat immer wieder auf “Evangelii nuntiandi” Bezug genommen. Ebenso Benedikt XVI. Beide haben dabei mit Nachdruck wieder und wieder die Notwendigkeit der Katechese auf dem Weg der (Neu)Evangelisierung betont. In seiner Enzyklika “Evangelii gaudium”, die über weite Strecken ein grosser und leidenschaftlicher Aufruf zur Evangelisation ist, nimmt auch Papst Franziskus ausdrücklich Bezug auf Paul VI. und “Evangelii nuntiandi”. Dabei verschärft er in der ihm eigenen Sprache und Tonart den Ruf nach einer neuen Evangelisierung, deren Dringlichkeit bereits Paul VI. laut und deutlich angemahnt hatte.
Die Leidenschaft für die Verkündigung des Evangeliums neu entfachen, Christus und die lebendige Begegnung mit dem Auferstandenen in den Mittelpunkt jeglicher kirchlichen Aktivität stellen, den Dialog mit der Welt suchen, um die Welt christlicher und damit humaner zu machen, nicht um die Kirche zu verweltlichen: Diese Aufforderung müsste wie Salz auf der Seele aller Gläubigen brennen. Leider scheint die evangelisatorische Dynamik von “Evangelii gaudium” innerhalb der Kirche vielfach auf ebenso taube Ohren zu stossen wie “Evangelii nuntiandi” von Paul VI.
Die Kirche selbst sei erster Adressat der Evangelisierung, war Paul VI. überzeugt. Jede Evangelisierung setzt die Selbstevangelisierung des Verkünders voraus. Ohne Selbstevangelisierung war für Montini gar keine Evangelisierung denkbar. Das ist das Drama der Kirche in der modernen Welt: Sie muss die Kraft zur Selbstevangelisierung finden, statt Selbstsäkularisierung zu betreiben. Gelingt ihr das nicht, verfehlt sie ihren Auftrag und verliert die Fähigkeit, das Evangelium glaubwürdig zu verkünden. Die Folgen für Kirche und Welt wären katastrophal. Das klingt alles brandaktuell. Doch neu ist es nicht. Das findet sich alles schon bei Paul VI.
Ohne Zweifel ein prophetischer Papst.
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