Kirchenlabyrinthe – Geheimnisvolle Reise zum Mittelpunkt
Für alle offen und doch den meisten Blicken verborgen finden sich in den Kathedralen von Chartres und Amiens Labyrinthe. Sie stehen stellvertretend für den Lebensweg des Menschen
Quelle
Reise ins Labyrinth: Unterwegs zur eigenen Mitte : Wolff, Uwe: Amazon.de: Bücher (Antiquariat)
Unterwegs im Labyrinth der Seele – Religion / Philosophie / Glauben
08.06.2025
Im Sommer 1991 fuhr ich mit drei kleinen Kindern und einem großen Hund in die Bretagne. Die Kathedralen von Chartres und Amiens lagen auf dem Weg. Warum zogen mich diese Orte magisch an? Es war nicht nur das erwachte Interesse an Kirchenbauten und Kunstgeschichte, sondern die Ahnung, dass ich dort finden würde, was ich gerade in meiner damaligen Lebensphase dringend brauchte. Was suchte ich im Gewimmel und Gewusel meines sehr reich gewordenen Lebens? Es war die Mitte, auf die sich alles zentriert.
Wir waren ein eingespieltes Team. Die Aussicht, bei McDonalds einzukehren, weckte bei den Geschwistern wahre Wunder an Engelsgeduld auf der Reise. Irgendwo außerhalb von Chartres machten wir Rast. Dann fuhren wir erleichtert ins Zentrum. Bei der heutigen Abhängigkeit von elektronischen Geräten ist es mir schleierhaft, wie wir ohne Stadtplan und Navi einen Parkplatz direkt neben dem Gotteshaus fanden. Ich hatte keine Zeit für das Studium eines Reiseführers gehabt und so betraten wir gemeinsam als Entdecker das 37 Meter hohe Mittelschiff. Die Kinder interessierten sich sogleich für ein Kleidungsstück. Seine Aura hatte sie angezogen. Es musste etwas ganz Besonderes sein, denn viele Menschen knieten davor. Ihre Gesichter waren voller Andacht. Einige hatten die Augen geschlossen, hielten Ketten mit kleinen Holzkügelchen in den Händen und murmelten dazu leise Gebete, andere entzündeten Kerzen. Vor uns war das “Heilige Hemd”, die “Sancta Camisia”. Ein Geschenk Karls des Kahlen aus dem Jahr 876. Maria soll diese Tunika getragen haben, als ihr der Engel Gabriel erschien und die Geburt Jesu ankündigte. Das “Heilige Hemd” ist eine Kontaktreliquie höchster Güte. Allerdings war von dem Kleidungsstück nur noch ein kleiner Fetzen übrig, denn andere Kirchen hatten ebenfalls einen Teil des Gewandes erhalten.
Kinder sind Reliquiensammler
Die Kinder kamen das erste Mal in Berührung mit katholischem Brauchtum. Der Sinn der Reliquienverehrung erschloss sich ihnen jedoch sogleich. Denn für sie war es nur folgerichtig, dass gläubige Menschen Erinnerungsstücke an die heiligen Frauen und Männern aufbewahrten, die ihnen ein Vorbild waren. Kinder sind auf eine besondere Art “Reliquiensammler”: von seltsam geformten Wurzeln, Muscheln und Steinen, Bildern und Fotos, zerliebten Teddys und zerfetzten Schmusetüchern. Diese Gegenstände sind ohne materiellen Wert. Nur mit den inneren Augen können sie angemessen betrachtet werden. Sie sind den Kindern heilig, nicht nur, weil sich an sie Erinnerungen an wunderbare Augenblicke knüpfen, sondern weil sie das einst Erlebte auf geheimnisvolle Weise gegenwärtig halten.
“Ist das Hemd echt? Hat es der Engel Gabriel wirklich berührt?” Meine spontane Antwort war: “Ich weiß es nicht.” Ich wusste es wirklich nicht. Haben Engel einen Körper? Können sie Gegenstände berühren? Thomas von Aquin hätte es gewusst. Aber ich hatte ihn noch nicht gelesen. Überall auf der Welt werden Kleider oder Teile der Kleidung, die Maria bei der Ankunft des Engels getragen haben soll, ausgestellt. Einen ganzen Kleiderschrank könnte man damit bestücken. Aber kam es darauf an? Selbst wenn das ausgestellte Hemd der Maria nachweislich nicht echt gewesen wäre, wäre es dann nicht durch die über ein Jahrtausend währende Verehrung von ungezählten Menschen echt geworden?
Wir zündeten Kerzen an. Erst draußen, als wir in einem Bistro saßen und ich den Reiseführer studierte, stieß ich zufällig auf das Labyrinth von Chartres. Es wurde nur kurz erwähnt. Hatten wir es übersehen? War es inzwischen aufgehoben worden? Wir gingen noch einmal in die Kathedrale zurück und fanden es nicht. Die Kinder wurden müde. Sie legten sich auf die Stühle, die im Mittelschiff der Kathedrale standen. Plötzlich rief die Tochter: “Da ist das Labyrinth!” Es befand sich in den Fußboden eingelassen, war aber kaum zu sehen, weil Stühle es bedeckten. Wir kauften eine Postkarte mit dem Labyrinth und fuhren weiter.
Im Labyrinth gibt es wie im Leben nur einen Weg
Vier Wochen später fuhren wir aus der Bretagne über die Normandie zurück. Wir wollten die Nacht in Amiens verbringen. In der Kathedrale von Amiens waren wir fast allein. Von irgendwoher erklang mittelalterliche Musik. Anders als in Chartres war hier das Mittelschiff von Stühlen freigeräumt. So lag das Fußbodenlabyrinth in voller Größe vor uns. Es hat einen Durchmesser von zwölf Metern und wurde 1288 errichtet. Das wusste der Reiseführer. Als zwischen 1894 und 1897 der Marmorboden der Kirche erneuert werden musste, legten die Baumeister ein neues achteckiges Labyrinth.
Die Kinder hatten es längst betreten und begannen einen Wettlauf durch den Gang. Im Labyrinth gibt es wie im Leben nur einen Weg, und der führt über viele Wendungen und Umwege zur Mitte. Im Labyrinth des Lebens kann man nicht verloren gehen. Man muss nur auf der Spur bleiben. Bald verteilten sich die Kinder über die ganze Fläche des Labyrinthes. Mal nach rechts, dann nach links gehend, umkreisten sie die Mitte wie Planeten die Sonne. Immer wieder führte sie der Weg aufeinander zu. Dann ging jedes in eine andere Richtung. Vor meinen Augen entstand das Bild einer großen Einheit. Sie hatte ich wohl gesucht. So wurde ich ruhig. Die Bilder des Sommers zogen vorbei: die steinzeitlichen Alignements von Carnac mit ihren gewaltigen Granitsteinen, der sagenumwobene Wald Brocèliande, wo König Artus und die Ritter der Tafelrunde lebten und liebten, wo Parzival den Gral und Gawan das Abenteuer suchten und wo der Zauberer Merlin begraben wurde. Ich sah den Engel golden leuchtend auf der Abteikirche des Mont-St.-Michel, die gestickten Bilder von der Eroberung Englands durch die Normannen auf dem Teppich von Bayeux, das Elternhaus der heiligen Thérèse von Lisieux. Eine freundliche Schwester hatte hier meiner Tochter ein Bild der Heiligen geschenkt. “Tout est grâce! Alles ist Gnade!”, stand darauf. Es begleitete sie durch die Kindheit und hängt heute in meinem Arbeitszimmer neben dem Schreibtisch meines Lehrers Hans Blumenberg.
Unterwegs zur Mitte
Im Labyrinth des Lebens sind wir gemeinsam unterwegs zur Mitte. Jeder Mensch geht auf seine Weise, folgt seinem Rhythmus und seiner Bestimmung. Wir haben keine Wahl. Dennoch gehören wir zusammen und bilden eine Einheit. Sie verbindet auch die Lebenden und die Toten weit über alle Grenzen und Verluste hinaus. Das Labyrinth ist ein Ort der Gnade. Wenn alles Gnade ist, dann auch der Schmerz, der Verlust, das Leiden und der Tod. Das Labyrinth ist ein Weg der Heiligung, aber auch des Scheiterns, der Erlösung und auch der Sünde. Am Labyrinth des Lebens scheiden sich die Geister. Eben war alles Vorfreude. Dann kommt die Enttäuschung, der Unmut, die Trennung. Der vielfach gewundene Gang zur Mitte schenkt immer neue Blickrichtungen. Doch weckt er auch die Ungeduld des Herzens und den Überdruss. Der Weg dauert zu lange. Das Ziel scheint immer ferner zu rücken. Das Schachbrett mit seinen Figuren kann der enttäuschte Spieler umwerfen, den Labyrinthweg zur gemeinsamen Mitte verlassen. Die Tür am Westportal der Kathedrale steht immer offen. Hier befinden sich die Bilder vom Jüngsten Gericht und der großen Unterscheidung der Geister.
Die französischen Kirchenlabyrinthe schrieben sich in mein Leben ein. Ich erforschte ihre Geschichte und sammelte Geschichten von Labyrinthgängern. Bald gab ich Seminare über Irrgärten und Labyrinthe. Dann kam Schweden. Die Kinder waren groß geworden, und ich suchte ein Refugium in der Abgeschiedenheit der nordischen Wälder. Hier wollte ich meine Bücher schreiben. Ich kaufte ein Haus am See Viken. Ein wunderbarer Ort. Wie konnte man ihn nur verlassen? Der Besitzer hatte Haus und Grund von seiner Mutter geerbt. Nach einer Krise als CEO bei einem großen schwedischen Unternehmen in Älmhult hatte er das Haus in zweijähriger Arbeit mit seiner jungen Frau renoviert. Als er die Arbeit abgeschlossen hatte, ließ er das Erbe hinter sich und zog in die Heimat seiner Frau nach Norrland. Die Vergangenheit war aufgehoben in einem neuen Leben.
Aus den vielen Feldsteinen, die auf dem großen Grundstück lagen, wollte ich das Labyrinth aus Chartres nachbauen. Es sollte mir nicht gelingen. Ich hatte eine Lichtung im Wald entdeckt und die Steine zusammengetragen. Mein Labyrinth hatte nur sieben Gänge. Immerhin konnte ich eine junge Birke in der Mitte pflanzen. Ob sie gewachsen ist, weiß ich nicht. Ich habe mein Labyrinth nie wiedergesehen. Der Weg im Labyrinth führt über viele Wendungen zur Mitte. Es ist ein Weg der Wandlung und Umkehr. Das schwedische Labyrinth führte mich zu einer neuen Mitte. Ich hatte sie nicht gesucht. Sie hatte mich gefunden.
Der Autor ist habilitierter Kulturwissenschaftler. In “Wolff auf Reisen” erzählt er von den prägenden Reisen seines Lebens.
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