Russische Arktis: Auf den Spuren der Schöpfung
Wolff auf Reisen – Zum Start einer neuen Serie über die Reisen seines Lebens berichtet Uwe Wolff von einer einzigartigen Expedition in die eisigen Weiten der russischen Arktis
Quelle
Erdrutsch im Dickson-Fjord: Mega-Tsunami in Grönland war bis zu 200 Meter hoch | blue News
Sewernaja Semlja – Wikipedia
Wetterstationen in der Antarktis | Antarktis
Die Antarktis – Extreme am südlichen Ende der Welt | Umweltbundesamt
Aktualisiert am 17.12.2024
Mit dem Zerfall der Sowjetunion öffnete sich ein Zeitfenster. Der Einladung eines Freundes folgend, nutzte ich es 1995 für eine Reise in das Sperrgebiet der russischen Arktis: das Inselreich von Nowaja Semlja, Sewernaja Semlja und Franz-Joseph-Land. Wir flogen von Hamburg über Kopenhagen nach St. Petersburg. Dort startete eine Antonov An-26. Die Reisezeit wurde mit acht bis zehn Stunden angegeben. Am Ende waren es zwölf. Beim Flug nach Sibirien werden die Uhren um sechs Stunden vorgestellt, besser noch, der Reisende legt sie ab. Denn was bedeutet Zeit in diesen gewaltigen Räumen? Alles ist hier ohne Maß wie am ersten Schöpfungstag.
Das Militärlager Dickson erreichen wir nach Mitternacht. Unter Stalin war Dickson ein Gulag. Während des Kalten Krieges lebten hier 1 500 Soldaten, jetzt sind es nur noch zehn. Um zwei Uhr nachts steht die Sonne leuchtend am Himmel. Wir steigen durch eine Trümmerwüste. Eine apokalyptische Landschaft wie die Zone in Andrej Tarkowskis Film “Stalker”. Aufgeplatzte Leitungsrohre, verlassene Häuser, verrostete Kettenfahrzeuge, tonnenweise Schrott, dazwischen Hinweisschilder auf radioaktive Strahlung. Draußen auf dem Grund der Karasee liegen nukleare U-Boote. Noch verpackte Gerätschaften verwittern bereits am Straßenrand. Eine Lieferung von Heizkörpern liegt vor den Häusern und dient als Fußabtreter.
Zehn Stunden dauert der Flug mit dem Hubschrauber Mi-8 von Dickson über Kap Tscheljuskin ins Nordland. Ein gefährliches Unternehmen. Denn zwei Mi-8-Hubschrauber sollten in diesem Sommer 1995 über dem Eis abstürzen. Aus zweihundert Metern Flughöhe gleitet der Blick über endlos scheinende Tundraweiten. Kilometerweit haben sich die Spuren der Kettenfahrzeuge in den Boden gefressen. Dreißig Jahre lang werden sie sichtbar sein. Das Leben ist empfindlich und die kurzen Sommer schenken ihm nur wenig Blütezeit. Fünf Sommer dauert es, bis sich ein knospendes Blümchen entfaltet hat.
Leben im Eis
Alles Lebendige braucht Schutz. Die rotfarbene Flechte den Stein, das winzige Vergissmeinnicht die Grasnarbe, der Eisbär die Schneehöhle, der Mensch den Hund und das Gespräch. Auch wir hocken dichtgedrängt zwischen den großen Benzintanks im Innenraum des Helikopters. Der Lärm der Rotorblätter ist ohrenbetäubend, die technische Ausrüstung wirkt überaltert. Auf alles waren wir gefasst, nur nicht auf den angenehmen Komfort der Radio- und Wetterstation “Prima”. Sie liegt auf Bolschewik, der südlichsten Insel des Nordlandes Sewernaja Semlja. Ihre Entdecker nannten sie Swjataja Olga – Sankt Olga. Die Revolution löschte auch diesen Namen aus.
Vier Russen wohnen auf Prima. Die Station über dem 79. Breitengrad kann nur im Monat August von Eisbrechern aus Murmansk oder Archangelsk versorgt werden. Auf den Tischen steht der köstliche Fisch, den wir am Nachmittag geangelt haben. Oberhalb der Station befindet sich der See Osero Twerdoje. Er dient zur Trinkwasserversorgung und ist ganzjährig zugefroren. Im Sommer beträgt die Eisdichte 150 Zentimeter. Wir bohren Löcher und fangen Lachsforellen. Unsere russischen Begleiter lassen die Tiere auf dem Eis liegen, wo sie lange Maul und Kiemen bewegen. Einige von uns befremdet der Brauch und sie bitten, die Fische zu köpfen. Entsetzt weisen die Russen das Anliegen zurück. Wie könne man nur einem so edlen Tier den Kopf abschneiden!
Gut die Hälfte der Fläche von Sewernaja Semlja ist vergletschert. Rentiere, Eisbären, Schneehasen, Lemminge und Polarfüchse sind hier zu Hause. An den steilen Felswänden der Fjorde brüten Seevögel. Einige Kolonien bestehen aus zehntausend Brutpaaren. Sewernaja Semlja bietet ein abwechslungsreiches Landschaftspanorama. Sanftwellige eisfreie Hochebenen sind mit grünen Schiefertafeln bedeckt. Weder Grashalme noch Moose wachsen hier. Schwarze Flechten mit grauen Rändern bilden die ersten Spuren des Lebens zwischen den gewaltigen Brocken einer Geröllhalde. Der Frost hat die Steine aufgesprengt und steinerne Blütenornamente gebildet. Im Anorganischen prägen sie die Grundmuster des Lebens vor. Orangerot leuchtende Flechten ernähren sich von den Mineralien. Die Reise führt an den Anfang der Schöpfung zurück, als Wasser und Land gerade getrennt worden waren.
Urzeitliches Farbenspiel
Himmel, Erde und Wasser fließen ineinander über. Farben und Formen wechseln in Minutenschnelle. Türkisblau und grauschwarz bricht der Gletscher auf. Jahrtausendelang wurde das Land von seinen Eismassen geknetet. Jetzt hat das Eis den fruchtbaren Lehm der Schöpfung freigegeben, einen Erdenkloß, dem zum Lebendigwerden nur noch der Anhauch Gottes fehlt. Keine Kamera kann das Farbenspiel des Urschlamms einfangen. In braunroten, ockergelben und lindgrünen Linien stürzen Berge den Canyon hinab. An ihren Rücken sind die Spuren des Walkens und Knetens deutlich sichtbar. Unten in den Schluchten murmelt rostfarbenes Wasser über rosigen Gipsplatten.
Nur laufend können wir in dieser Landschaft bestehen. Wer stehen bleibt, versinkt bis zu den Knien im Boden. Vor Jahrmillionen war die Arktis eisfrei. Käme heute tatsächlich ein dauerhafter weltweiter Umschwung des Klimas, hier oben wäre bereits der fruchtbare Boden für eine neue Entfaltung des Lebens gegeben. Die Arktis geht mit jedem Klimawandel kreativ um.
Auf Nowaja Semlja haben russische Wissenschaftler Atomversuche durchgeführt und große Teile der Insel verstrahlt zurückgelassen. Während wir die Überreste des Winterlagers “Het Behouden Huys” von Willem Barents (1550–1597), dem Entdecker Spitzbergens, an der Nordspitze dieser Insel besuchen, wird gerade weltweit gegen die geplanten französischen Atomversuche im Pazifik protestiert. Seltsame Gedanken überfallen den Reisenden. Es ist, als werde hier im Nordland bereits eine neue Schöpfung vorbereitet. Die arktische Landschaft ist weder schön, gewaltig noch erhaben, ihre Größe übersteigt alles Begreifen. Sie ist ein heiliger Raum, vor dem der Eindringling zurückschreckt. Es kommt offenbar auf den Menschen nicht an, selbst die von ihm geschaffenen Katastrophen und Zerstörungen scheinen bedeutungslos vor der Erfahrung einer unergründlichen Schöpferkraft.
Der einsamste Ort der Arktis
Nach zwei Stunden Flug besuchen wir den einsamsten Ort der Arktis, die verlassene Station Uschakova. Zwei Holzhäuser inmitten des Eismeeres auf einem Gletscher. Ziegelsteine sind vor einem Haus gestapelt, ein moosiger Eisbärenschädel liegt zwischen alten Zeitungen und leeren Flaschen. Lebensmittelreste in der Vorratskammer. Wäsche hängt noch an der Leine und ein Feuerlöscher an der Wand. Mit weißem Pinselstrich sind die Umrisse eines nackten weiblichen Körpers an die Eingangstür gemalt. Doch schon beginnt eine dicke Eisschicht den Fußboden der Häuser zu überziehen. Über dem Hauptgebäude sind noch die Funkdrähte gespannt. Doch kein Mensch sendet aus diesem Eiland Botschaften und auch die große Antenne empfängt keine Signale mehr. Auf ihren Drähten spielt der Polarwind das Lied von Nacht und Eis.
Stille herrscht in der arktischen Landschaft, aber kein Schweigen. Das ruhige Gespräch beim Eisangeln ist noch in weiter Ferne zu vernehmen. Aus den Fjorden steigt das Geschrei der Möwen empor. Die Walrosse grunzen und rülpsen am Meeressaum. Wer könnte die Worte des Windes übersetzen und den Gesang der treibenden Eisberge? Wer entziffert die Frostmuster der Steine? Die eisige Stille der Arktis bricht Felsen und versteinerte Seelen auf. Nach jahrelangem Schweigen beginnt mancher Pilger wieder das Gespräch mit Gott.
Auf der Jackson-Insel erinnert eine Gedenktafel in russischer und norwegischer Sprache an Fridtjof Nansen und Fredrik Hjalmar Johansen, die hier vor genau einhundert Jahren neun Monate in Nacht und Eis überwinterten. Nach zwei Jahren Eisdrift mit der “Fram” (“Vorwärts”) hatten sie auf 84° 4?nördlicher Breite das Schiff verlassen, um zu Fuß den Nordpol zu erreichen. Trotz unglaublicher Willensstärke scheiterte der Versuch; nur einem guten Geschick hatten es die beiden zu verdanken, dass sie auf ihrem Rückweg Franz-Josef-Land erreichten. Auf Jackson ist noch der Fichtenstamm zu sehen, der als Firststück für ihre Winterhütte aus Stein, Eis- und Walrossfellen diente. Neun Monate dunkle Nacht, neun Monate, in denen nichts passiert, die Gedanken nichts mehr denken und das Herz im Schweigen versinkt.
Was ist der Mensch? “Nur ein Staubkorn ist er vor der Macht, die alles, was wir sehen und nicht sehen, erschaffen hat, der Macht, die von Ewigkeit her alles regiert und in Ewigkeit alles nach ihren uns unfassbaren Gesetzen regieren wird, der Macht, die uns auf dieser Reise so oft vom Untergange errettet hat!”, notiert Hjalmar Johansen in seinem Reisebericht. Die Eiswüste der Arktis ist ein Ort der Selbstbegegnung und der Berührung mit dem Geheimnis der Schöpfung. Wieder eine verlassene Forschungsstation. Ein Kunstdruck hängt an der Wand. Andrei Rubljows Dreifaltigkeitsikone. Ich beuge die Knie und bekreuzige mich.
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