Interview mit Völkerrechtler – Demokratie gegen Despotismus

Die Ukraine dürfte sogar den Kreml angreifen, erklärt der Völkerrechts-Experte Paul Gragl

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02.11.2024

Stephan Baier

Herr Gragl, inwiefern verstieß Russland mit dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 gegen das Völkerrecht?

Einer der Grundpfeiler des Völkerrechts ist das Gewaltverbot, das in der UN-Charta verankert ist. Da es sich dabei um eine zwingende Bestimmung handelt, ist kein Abweichen davon zulässig. Diese Bestimmung besagt, dass es Staaten in ihren internationalen Beziehungen untersagt ist, Gewalt anzudrohen oder anzuwenden. Davon gibt es nur zwei Ausnahmen: die Selbstverteidigung und ein Mandat durch den UN-Sicherheitsrat. Nachdem die Ukraine Russland nicht angegriffen hat, greift der Verweis auf eine mögliche Selbstverteidigungshandlung seitens Russland nicht, weshalb es sich auf andere Gründe beruft, die aber ebenfalls nicht tragen:

Den behaupteten Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine gibt es nicht – und auch wenn, würde er auch keinen rechtlich zulässigen Rechtfertigungsgrund für die russische Aggression darstellen.

Russland beansprucht eine Form der Selbstverteidigung, weil es sich angeblich bedroht fühlte durch die Osterweiterung der NATO. Darum behauptet Putin, nicht gegen die Ukraine, sondern gegen den “kollektiven Westen” zu kämpfen.

“Auch die NATO-Erweiterung ist kein völkerrechtlich tauglicher Rechtfertigungsgrund für einen Angriff”

Das ist ein Scheinargument, das oft vorgebracht wird. Auch die NATO-Erweiterung ist kein völkerrechtlich tauglicher Rechtfertigungsgrund für einen Angriff. Zudem muss man betonen, dass die osteuropäischen NATO-Mitglieder diesem Bündnis aus freien Stücken beigetreten sind. Es würde ihrer Souveränität widersprechen, wenn Russland etwas dabei mitzureden hätte. Die russische Seite behauptet, dass es ein Versprechen gegeben hätte, keine neuen Mitglieder in die NATO aufzunehmen. Historisch betrachtet bezog sich der viel zitierte Vermerk von US-Außenminister Baker, die NATO solle sich nicht nach Osten ausdehnen, aber auf die DDR, um die deutsche Wiedervereinigung zu ermöglichen, nicht auf andere Staaten. Rechtlich hätte der US-Außenminister ohnehin weder die NATO noch die Beitrittskandidaten binden können. Dazu kommt, dass Russland faktisch bei der NATO-Osterweiterung mitreden konnte: Es gab den NATO-Russland-Rat, und noch 2005 sagten Putin und Außenminister Lawrow, sie wollten den osteuropäischen Staaten bei den Entscheidungen hinsichtlich ihrer zukünftigen Ausrichtung nicht im Weg stehen. Noch ein Gedanke: Warum hat Russland nach dem NATO-Beitritt Finnlands seine Truppen von der russisch-finnischen Grenze abgezogen, wenn es solche Angst vor der NATO hat?

Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill nennen ein weiteres Argument: Es gebe gar kein ukrainisches Volk und keine ukrainische Identität. Vielmehr seien Russen, Ukrainer und Weißrussen ein einziges Volk, verbunden durch die Taufe der Kiewer Rus 988.

Wenn wir auf Legitimationen aus dem 10. Jahrhundert zurückgreifen, können wir praktisch alle heute existierenden Staaten hinterfragen. Völkerrechtlich relevant ist nur, dass die Ukraine 1991 von Russland in seinen Grenzen – übrigens einschließlich der Krim – anerkannt wurde.

Moskau behauptet auch, auf Hilferufe russischsprachiger Separatisten aus Luhansk und Donezk reagiert zu haben, ähnlich wie einst die USA auf Hilferufe der Kosovo-Albaner.

Die Separatisten wurden 2014 nach der Annexion der Krim erst in den Donbass geschickt. Rechtlich hat das keine Relevanz, da Russland Pässe im Donbass ausgeteilt hat, um aus russischsprachigen Ukrainern russische Staatsbürger zu machen, was eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine darstellt. Zweitens ist die Zulässigkeit einer Intervention zugunsten eigener Staatsangehöriger völkerrechtlich höchst umstritten. Eine mögliche Parallele zur Kosovo-Intervention 1999 greift nicht, denn dort gab es tatsächlich einen Völkermord. Die Intervention zugunsten der Kosovo-Albaner war freilich rechtswidrig, aber zumindest moralisch begründet und wurde nachträglich durch eine Resolution des Sicherheitsrates “geheilt”.

Das Gewaltverbot der UN-Charta wird auch von anderen Staaten missachtet, etwa von den USA, die 2003 gegen den Irak Krieg führten.

“Der eine Völkerrechtsverstoß rechtfertigt nicht den anderen”

Richtig, auch die USA haben 2003 das Völkerrecht verletzt. Das legitimiert aber keinen russischen Völkerrechtsverstoß, zumal es hier keinen Zusammenhang gibt. Der eine Völkerrechtsverstoß rechtfertigt nicht den anderen. Auch das Denken in Einflusssphären ist völkerrechtlich kein Argument, und die Vergleiche mit dem Kalten Krieg stimmen nicht: Heute geht es nicht um Kapitalismus gegen Kommunismus oder Liberalismus gegen Kollektivismus, sondern es geht um Demokratie gegen Despotismus. Das zeigt auch der Blick auf Russlands Verbündete: China, Nordkorea, Belarus, Iran.

Das humanitäre Völkerrecht ist relevant für die faktische Kriegsführung: Russische Truppen entführen Kinder, attackieren Zivilisten, richten Kriegsgefangene hin, foltern in den besetzten Gebieten.

Das humanitäre Völkerrecht schützt Zivilisten, also erfüllen alle von Ihnen genannten Fakten den Tatbestand von Völkerrechtsverletzungen, ja sind sogar Kriegsverbrechen. Die Entführung von zehntausenden ukrainischen Kindern dient nicht der Sicherheit Russlands, sondern ist ein Verbrechen. Diese Kinder werden gewaltsam russifiziert, ihre Identität wird zerstört, weil Russland sein Imperium ausweiten will. Auch die Zerstörung ziviler Infrastruktur ist nicht mit dem humanitären Völkerrecht vereinbar. Vielmehr will Russland die ukrainische Identität vernichten.

Ist die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk ein Völkerrechtsverstoß? Und deren Angliederung an Russland?

“Es gibt kein ‘westliches Völkerrecht’, wie Russland manchmal vorbringt, weil die Sowjetunion stets einbezogen war”

Beides! Teile eines Staates als unabhängig anzuerkennen ist eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten, rechtlich verboten und politisch hochbrisant. Die spätere Annexion selbst verstößt gegen das Gewaltverbot. Die Sowjetunion, in deren Nachfolge sich Russland sieht, hat das Völkerrecht übrigens seit stark 1945 mitgeprägt, auch diese Normen. Es gibt also kein “westliches Völkerrecht”, wie Russland manchmal vorbringt, weil die Sowjetunion stets einbezogen war, allenfalls ein “nördliches”, weil der globale Süden weniger Mitsprache hatte.

Der UN-Sicherheitsrat hätte die Aufgabe der Wahrung des Völkerrechts. Da aber Russland und China ständige Mitglieder im Sicherheitsrat sind, wurde die russische Aggression nie verurteilt.

Ja, hier ist er jedenfalls dysfunktional. Das Vetorecht ist fatal für jede konstruktive völkerrechtliche Zusammenarbeit und zum Erhalt des Weltfriedens.

Die UN-Generalversammlung verlangte schon im März 2022 von Moskau die Einstellung aller Kampfhandlungen. Mit welchen Konsequenzen?

Das hat mehr als nur symbolische Bedeutung. Solche Beschlüsse sind nicht rechtsverbindlich, aber rechtlich nicht unerheblich. Wenn eine so große Mehrheit der Staaten klar Position bezieht, bekräftigt das das Völkerrecht. Diese Staaten haben sich dazu bekannt, gewaltsame Gebietsveränderungen nie anzuerkennen. Sie können nicht mehr glaubwürdig ihre Haltung ändern.

Möglicherweise wird die völkerrechtswidrige Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland irgendwann faktische Realität, mit der man sich abfindet.

Das ist faktisch leider möglich, aber das Völkerrecht ist hier eindeutig: Russland hat diese Gebiete okkupiert, aber die Ausdehnung seiner Souveränitätsrechte auf diese darf nicht anerkannt werden. Staaten, die die gewaltsamen russischen Annexionen anerkennen, würden damit selbst das Völkerrecht verletzen und vermutlich Sanktionen der EU und der USA auf sich ziehen.

Sind die westlichen Sanktionen gegen Russland völkerrechtlich gedeckt?

Ja, durch die vorhergehende Rechtswidrigkeit des russischen Vorgehens. Allerdings müssen Sanktionen zielgenau sein. Eine Sippenhaftung – wie etwa gegen die Mutter von Prigoschin – darf es nicht geben, wie etwa der EuGH erst kürzlich entschieden hat. Auch das Einfrieren von Geldern der russischen Zentralbank und staatsnaher Oligarchen ist gedeckt. Ebenso die Verwendung der daraus resultierenden Zinserträge für die Unterstützung der Ukraine. Nicht allerdings des Geldes selbst, denn das wäre im Fall der Oligarchen eine Enteignung, im Fall der russischen Zentralbank ein Verstoß gegen die staatliche Immunität. Enteignet werden können jedoch nach einer neuen EU-Richtlinie Erträge aus der Umgehung von Sanktionen: Wenn Sanktionen umgangen werden, handelt es sich um aus einem Verbrechen resultierende Güter, und diese “Tatwaffen” können enteignet werden.

Ist die militärische Unterstützung des Westens für die Ukraine im Einklang mit dem Völkerrecht?

Absolut, das ist kollektive Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta: Man steht einem Staat bei, der einer Völkerrechtsverletzung ausgesetzt ist.

Obwohl die Ukraine den Krieg nach Russland getragen hat: durch die Kursk-Offensive und Angriffe auf militärische Ziele im russischen Hinterland?

“Die Ukraine darf alles tun, was verhältnismäßig und notwendig ist, um den Angriff zu stoppen und die eigene Souveränität wiederherzustellen”

Das darf die Ukraine, weil Russland den Krieg begonnen hat. Die Ukraine darf alles tun, was verhältnismäßig und notwendig ist, um den Angriff zu stoppen und die eigene Souveränität wiederherzustellen. Sie dürfte auch den Kreml angreifen, weil Putin der Oberbefehlshaber der russischen Armee und damit ein legitimes militärisches Ziel ist. Rechtlich werden die westlichen Waffen zu ukrainischen Waffen, sobald sie übergeben wurden.

Kann der Westen der Bitte Selenskyjs um weitreichende Waffen, mit denen er militärische Ziele in Russland angreifen kann, entsprechen, ohne selbst Kriegspartei zu werden?

Ja. Völkerrechtlich darf die Ukraine militärische Einrichtungen und Soldaten in Russland angreifen. Der Rest ist eine rein politische Diskussion. Durch Waffenlieferungen alleine wird der Westen nicht zur Konfliktpartei. Alle gegenteiligen Äußerungen aus Moskau sind Teil der psychologischen Kriegsführung.

Iran, China und Nordkorea liefern dem Aggressor Waffen und militärische Technologie. Was sagt das Völkerrecht dazu?

Diese Waffenlieferungen sind völkerrechtswidrig, weil diese Staaten Russland bei seiner Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbotes unterstützen; sie werden analog gesehen zu Beitragstätern. Diese Staaten werden dadurch aber auch nicht automatisch zu Konfliktparteien. Dies geschieht aber, wenn sie wie Nordkorea eigene Soldaten entsenden. Damit dürfte auch Nordkorea angegriffen werden, wenn dies notwendig und verhältnismäßig ist, um den Angriff auf die Ukraine zu beenden.

Die Ukraine hat die NATO eingeladen, die Sicherung ihres Luftraums zu übernehmen. Wäre das rechtlich möglich?

Ja, eine Einladung zur Intervention ist völkerrechtskonform. Auch Russland stützt sich darauf, insbesondere seine Einladung durch Syrien seit 2015. Die NATO oder einzelne Staaten könnten der Einladung der Ukraine Folge leisten. Dadurch aber würden solche Staaten zur Konfliktpartei, weil bei der Luftraumsicherung ja sehr wahrscheinlich geschossen werden muss.

Russland ist keine Vertragspartei des Internationalen Strafgerichtshofs. Dieser hat dennoch einen internationalen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten erlassen. Wie ist das möglich?

“Vor dem Internationalen Strafgerichtshof würde Putin seine Immunität als Staatsoberhaupt nicht schützen”

Die Ukraine hat sich 2013 ad hoc der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs unterworfen. Damit fallen alle relevanten auf dem Territorium der Ukraine begangenen Handlungen im Sinne des Statuts des Strafgerichtshofs – Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Aggression – in die Zuständigkeit des Strafgerichtshofs. All diese von russischen Staatsbürgern begangenen oder befohlenen Verbrechen auf ukrainischem Gebiet, unterliegen nunmehr dieser Zuständigkeit. Jeder Vertragsstaat müsste Wladimir Putin im Fall seiner Einreise auch festnehmen und an den Strafgerichtshof überstellen. Vor dem Internationalen Strafgerichtshof würde Putin seine Immunität als Staatsoberhaupt nicht schützen.

Wie könnten Kriegsverbrechen von Tätern und Befehlshabern verfolgt werden?

Das würde voraussetzen, dass Russland eine Niederlage erleidet und es zur Aufarbeitung durch einen hybriden Gerichtshof oder den Internationalen Strafgerichtshof kommt.

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