“Religion ist der Kultur vorgelagert”

Der ungarische Philosoph Ferenc Hörcher über das Christentum als Grundlage für einen politischen Konservatismus der Zukunft und die Bedeutung des gesunden Menschenverstandes

Quelle
Verfassungsgebung in konsolidierten Demokratien: Neubeginn oder Verfall eines politischen Systems?
Das Bedürfnis nach Schönheit und das Scruton’sche Erbe: Ein Interview mit Ferenc Hörcher
Amazon.com: The Political Philosophy of the European City: From Polis, through City-State, to Megalopolis? (Political Theory for Today)
Beschreibung: Werner und Ernst-Wolfgang Böckenförde :: IxTheo
Ernst-Wolfgang Böckenförde – Wikipedia

Sebastian Ostritsch

Herr Hörcher, Sie haben viel über politische Philosophie geschrieben. Eines Ihrer Themen ist der politische Konservatismus der Zukunft. Können Sie Ihre Position skizzieren und erläutern, wie sie sich zum Christentum verhält?

Die englischsprachige Version meiner Forschung zum Konservatismus erschien unter dem Titel “A Political Philosophy of Conservatism: Prudence, Moderation, and Tradition” (2020).

Der Untertitel gibt den entscheidenden Hinweis, denn er enthält zwei der vier Kardinaltugenden der christlichen Tradition: Klugheit und Mäßigung. Aber das sind Tugenden, die auch auf antike griechische und römische Quellen zurückgehen. Für mich sind die beiden wichtigsten Denker in diesem Zusammenhang Aristoteles und Cicero. Die großen politischen Denker des 20. Jahrhunderts haben sich vor allem für die Gerechtigkeit und ihre institutionellen Mechanismen interessiert. John Rawls und seine “Theorie der Gerechtigkeit” ist ein gutes Beispiel dafür. Ich dachte, dass die Tugend der Klugheit eine Alternative sein könnte, weil die Politik ein Teil des praktischen Lebens ist. Wenn man im politischen Bereich gute Urteile fällen will, muss man vor allem im praktischen Sinne weise sein.

Reichen christliche Tugenden und Werte für eine Wiederbelebung des Konservatismus aus, oder müssen die Menschen tatsächlich gläubig sein? Anders gefragt: Wie gehen Sie mit dem berühmten Satz von Böckenförde um, dass der “freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann”?

Böckenförde ist für meine Forschung sehr wichtig. Ich arbeite gerade als Mitherausgeber an einem Buch über die “Schule von Münster” in der deutschen politischen Philosophie, die die eigentliche Alternative zur Frankfurter Schule darstellt.

Böckenförde, der Katholik war, gehörte zu dem Kreis um Joachim Ritter, der der Professor in Münster war, um den sich diese Gruppe, das “Collegium Philosophicum”, gebildet hatte. Ich lese Böckenförde als jemanden, der die Bedeutung der Kultur für das politische Geschehen unterstreicht. Was das Verhältnis von Politik, Kultur und Religion angeht, so sind für mich die folgenden zwei Einsichten richtungsweisend: Erstens: Kultur ist der Politik vorgelagert. Das heißt, wenn man Politik verstehen will, muss man die Kultur einer bestimmten politischen Gemeinschaft verstehen. Zweitens: Religion ist der Kultur vorgelagert. Das heißt, dass die Kultur ohne ihre religiöse Grundlage nicht verstanden werden kann. Um eine geordnete, friedliche, wohlhabende und freie Gesellschaft zu haben, müssen wir also begreifen, dass sich eine solche Gesellschaft in Europa auf christlicher Grundlage entwickelt hat. Wir können nicht überleben, ohne eine Lebensweise zu pflegen, die diese Werte aufrechterhält. Dies gilt unabhängig davon, ob wir gläubig sind oder nicht. Selbst wenn man nicht gläubig ist, muss man verstehen, dass unser politisches System, zum Beispiel die Trennung von Kirche und Staat, aus der christlichen Tradition stammt. Wir können diese Tradition nicht verleugnen, denn damit würden wir unser politisches System selbst verleugnen.

Wie wird diese christliche Tradition heute in Ungarn umgesetzt?

Was den religiösen Glauben in der Bevölkerung angeht, unterscheiden sich die Ungarn nicht wirklich vom europäischen Mainstream. Der Unterschied liegt eher in unserer politischen Geschichte. Ein wichtiger Aspekt des politischen Wandels nach 1990 ist das Nationale Bekenntnis, die Präambel der neuen ungarischen Verfassung, das von der verfassungsgebenden Zweidrittelmehrheit in Ungarn nach der Machtübernahme durch Viktor Orbán eingeführt wurde. Die Präambel beginnt mit den Worten der Nationalhymne, die die Gnade Gottes für das ungarische Volk erbittet. Weiter heißt es, dass die ungarische Nation auf eine Geschichte zurückblicken kann, die bis ins Jahr 1000 n. Chr. zurückreicht, als der heilige Stephan seine Krone von Rom erhielt. Für das postkommunistische Ungarn ist es von entscheidender Bedeutung, dass der institutionelle Rahmen der legitimen politischen Herrschaft auf einem christlichen Fundament aufgebaut ist. Man muss sich vor Augen halten, dass dies die erste neue Verfassung nach dem Totalitarismus ist. Das totalitäre kommunistische Regime war ebenso wie zuvor das totalitäre Nazi-Regime gegen das Christentum und die historischen Religionen in Ungarn, einschließlich der jüdischen Religion. So kehrt die neue Verfassung zu einem früheren Zeitpunkt zurück, als das Land noch seine eigene historische Verfassung hatte. In dieser historischen Verfassung spielte die Doktrin der Stephanskrone eine besondere Rolle. Sie war das Symbol oder vielmehr die Verkörperung der Gemeinschaft unter der Gnade Gottes und der heiligen Jungfrau Maria.

Sie haben sich auch mit der Idee des Naturrechts in der christlichen Tradition beschäftigt. Welche Rolle spielt das Naturrecht in Ihrer politischen Philosophie?

Ich habe ein Buch mit dem Titel “Prudentia Iuris: Towards a pragmatic theory of natural law” (2000) geschrieben. Wenn wir die Natur des Menschen verstehen wollen, müssen wir begreifen, dass er mit einer besonderen Fähigkeit ausgestattet ist, die “sensus communis” oder “recta ratio” oder auch “gesunder Menschenverstand” genannt wird. Diese Begriffe sind nicht streng synonym, aber sie hängen zusammen und weisen alle darauf hin, dass der Mensch sich in der Welt zurechtfinden kann, wenn er einfach das berücksichtigt, was ihm der gesunde Menschenverstand vorschlägt. Wenn wir uns auf diese Art von gesundem Menschenverstand verlassen, können wir erkennen, was für den einzelnen Menschen wie auch für die Gemeinschaft richtig und gut ist. Und in dieser Hinsicht sind wir nicht auf unsere subjektiven Intuitionen angewiesen, denn die praktische Rationalität entspringt dieser gemeinsamen Quelle. Dies wurde im 20. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung, als totalitäre Regime argumentierten, dass das positive Recht keiner weiteren Begründung bedürfe und es ausreiche, dass ein legales Verfahren zu einem bestimmten Gesetz geführt habe. Die als Naturrecht bezeichnete Tradition behauptet, dass dies nicht der Fall ist. Ein vermeintliches Gesetz ist nur dann gültig, wenn es mit der rechten Vernunft, mit dem menschlichen Gewissen und damit mit dem Naturrecht übereinstimmt. Das Naturrecht ist der äußere Maßstab jenseits der menschlichen Subjektivität, aber es wird von den Menschen durch das Wirken ihres inneren Sinns in einem jahrhundertelangen historischen Prozess erlernt.

Wenn wir uns die heutige Gesellschaft ansehen, dann grassiert eine extreme, gegen den gesunden Menschenverstand gerichtete Ideologie, nämlich der “Wokeismus”. Gleichzeitig ist das Christentum im Westen auf dem Rückzug, während sich der Islam durch Einwanderung ausbreitet. Was sagen Sie zu dem Szenarium, dass wir in fünfzig Jahren den gesunden Menschenverstand und unsere christlichen Wurzeln völlig verloren haben werden?

Das ist eine skeptische Sichtweise. Und ich mag diese skeptische Sichtweise, weil ich denke, dass der Mensch fragil ist und immer an der Schwelle zum Scheitern steht. In diesem Sinne ist Skepsis notwendig. Das steht nicht im Widerspruch zum Christentum. Es gibt eine Strömung innerhalb der katholischen christlichen Tradition – man kann sich auf den heiligen Augustinus berufen –, die der menschlichen Natur gegenüber sehr skeptisch ist. Andererseits ist die Hoffnung auch ein zentraler Begriff des Christentums. Sie ist eine theologische Tugend. Denken Sie an den Aufruf des heiligen Johannes Paul II: “Habt keine Angst!”. In meinen stärkeren Momenten neige ich dazu, nicht das pessimistische Szenarium zu teilen, das meine westlichen Freunde malen, so wie Sie es tun.

Warum ist das so?

Ich habe eine andere Erfahrung mit der Vergangenheit und daher eine andere Vision für die Zukunft. Mein Interesse an politischer Philosophie stammt aus meiner Jugend. Ich wurde 1964 in Budapest geboren, das damals noch ein kommunistisches Land war. Als ich 26 Jahre alt war, kam der Übergang vom Kommunismus zu einem freien System. Ich denke jedoch, dass es auch heute noch zwei Seiten Europas gibt, die durch den früheren Eisernen Vorhang getrennt sind. In gewissem Sinne sind die Gesellschaften, die Teil der so genannten freien Welt waren, viel pessimistischer als die Gesellschaften auf der anderen Seite. Der Grund dafür ist, dass wir in unserer Jugend gelernt haben, wie ein wirklich schlechtes Regime aussieht, und deshalb können wir zum Beispiel einfach die freie Ausübung unserer politischen Urteilskraft schätzen. Wir haben auch gelernt, dass die Zukunft nicht determiniert ist. Ich schließe mich Böckenförde und dem heiligen Johannes Paul II. an, um auf die persönliche Verantwortung und auch auf die Verantwortung unserer Gemeinschaften hinzuweisen. Unsere christlich-abendländische Tradition basiert auf der Idee der persönlichen Verantwortung. In irdischen Angelegenheiten kommt es auf die eigenen Entscheidungen an. Soweit ich sehe, gibt es auch einen Unterschied zwischen den Ansichten der Eliten in den westlichen Ländern und den Ansichten der normalen westlichen Bürger: Letztere haben sich noch viel von ihrer rechten Vernunft bewahrt. In Europa gibt es jetzt sogar ein Momentum für einen christlichen Konservatismus, und es liegt in unserer Verantwortung, das Beste daraus zu machen. Was wir brauchen, ist harte Arbeit für unsere Gemeinschaften und gegenseitige Hilfe, damit jeder von uns gute Urteile fällen können.

Ferenc Hörcher ist Direktor des “Research Institute of Politics and Government” an der Ludovika Universität in Budapest.

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