Unauslöschliche Lebensfreude

Kann man in diesen Zeiten nach Israel fahren? Der Selbstversuch zeigt: Das Land ist trotz des Gaza-Krieges sicher zu bereisen und bietet gerade für Christen bereichernde Erfahrungen

Quelle
Das antike Fischerboot | Bein Harim Tours
Nachbildung von “Jesus-Boot” in den Vatikanischen Museen zu sehen – Vatican News

08.07.2024

Sebastian Moll

Je nach Kontext können Worte unterschiedliche Bedeutung haben. Benutzt in Deutschland jemand den Ausdruck “seit dem Krieg”, so meint er damit die Zeitspanne seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Verwendet hingegen jemand im heutigen Israel dieselbe Formulierung, so spricht er von der noch keineswegs beendeten Kriegsphase seit dem 7. Oktober des vergangenen Jahres. Keine Frage: Für die Israelis hat mit diesem Tag eine neue Zeitrechnung begonnen.

Daher sollten auch besser all jene verstummen, die angesichts der aktuellen Lage in Israel nur achselzuckend meinen: “Ist da nicht eh immer Krieg?” Zwar ist es richtig, dass der Nahe Osten nicht die friedlichste Region dieses Planeten ist. Aber derartige Äußerungen verkennen vollständig den emotionalen Schockzustand, den das Massaker vom 7. Oktober in Israel ausgelöst hat. Eine ältere Dame, die ich am Ufer des See Genezareth treffe, meint gar, dieser Angriff auf das jüdische Volk sei schlimmer als der Holocaust, da er in “unserem eigenen Land” stattgefunden habe.

Im Winde klirren die Fahnen

Ironischerweise ist jedoch gleichzeitig denjenigen zu widersprechen, die meinen, man müsse verrückt sein, um angesichts der aktuellen Situation nach Israel zu reisen. Im Alltag der Menschen merkt man den Krieg so gut wie nicht. Einzig die Plakate mit den Gesichtern der noch immer nicht befreiten Geiseln sind sichtbare Zeichen der aktuellen Lage, und auch israelische Fahnen sind häufiger als gewöhnlich an den Häusern zu finden. Während man in Deutschland ernsthaft darüber diskutiert, ob das Zeigen der Nationalflagge zu vertreten sei, haben die Israelis kein Problem damit, ihre Solidarität mit ihrem Land und ihrem Volk gerade jetzt deutlich zu demonstrieren. Abgesehen davon ist in Israel alles wie gewohnt: In Tel Aviv wird gefeiert, in Haifa wird gearbeitet, in Jerusalem wird gebetet.

Insbesondere in Tel Aviv fällt auf, dass sich die Bewohner ihre Lebensfreude nicht nehmen lassen. Mit Spannung verfolgt man auf großen Bildschirmen die Europameisterschaft, wenngleich das eigene Land diesmal leider nicht mit von der Partie ist. Auch sonst erinnert vieles an westliche Großstädte. Man sitzt gemütlich im Café, genießt ein gutes Essen im Restaurant oder tanzt die Nacht im Club durch. Auch die Modesünden der westlichen Welt haben es in diese Region geschafft, denn auch hier ist manchen Frauen einfach nicht einsichtig zu machen, dass man ab einer bestimmten Körperfülle vielleicht lieber keine hautenge Kleidung tragen sollte. Andererseits kommen durch die knappen Outfits natürlich die Tattoos besser zur Geltung. Derartige Körperverzierungen sind für fromme Juden zwar ein absolutes Tabu, doch in Tel Aviv sieht man das weniger eng. Tatsächlich hat die Überwindung alttestamentlicher Vorschriften hier eine gewisse Tradition, denn es war im Stadtteil Jaffa, dem biblischen Joppe, wo Petrus seine Vision gehabt haben soll, durch die ihm klar wurde, dass er auch die “unreinen” Tiere essen darf.

Kein Navi in Haifa

Von Tel Aviv aus führt die Reise zunächst an der Küste entlang nach Haifa, wo wir uns allerdings ein wenig verfahren, denn das GPS wird in dieser Region gestört, um die Stadt vor Angriffen durch Lenkwaffen oder Drohnen zu schützen. Von dort geht es zur beeindruckenden Kreuzfahrerstadt Akko, anschließend zu den biblischen Schauplätzen im Landesinneren und schließlich nach Jerusalem. Einzig Bethlehem fehlt auf unserer Liste, denn organisiert wird die Reise vom israelischen Tourismusministerium, und da Bethlehem zu den palästinensischen Automomiegebieten im Westjordanland gehört, liegt es jenseits der entsprechenden Zuständigkeit.

Das Auffälligste an sämtlichen touristischen Schauplätzen ist, wie verlassen diese sind. An der (beziehungsweise einer möglichen) Taufstelle Jesu am Jordan berichtet ein Mitarbeiter, dass für gewöhnlich etwa 650.000 Besucher jährlich an diesen Ort kommen, in diesem Jahr habe man hingegen noch nicht einmal 10.000 erreicht. Für Israel ist der Einbruch des Tourismus eine wirtschaftliche Katastrophe, bildet er doch den fünftgrößten Wirtschaftsfaktor des Landes. Umso deutlicher ist die Dankbarkeit der Menschen zu spüren, wenn sich dann doch einmal ein Tourist auf den Weg macht. Überall wird man mit großer Dankbarkeit, ja fast schon Bewunderung dafür empfangen, dass man das Risiko der Reise auf sich genommen habe. Ein nicht zu leugnender Vorteil für den aktuellen Touristen: Nirgendwo muss man Schlange stehen.

Im Jesus-Boot auf dem See

Eine Fahrt auf dem See Genezareth gehört natürlich dazu. Der Zufall wollte es, dass an diesem Sonntag als Evangeliumslesung die Stillung des Sturms vorgesehen war: “Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm und die Wellen schlugen in das Boot, sodass es sich mit Wasser zu füllen begann” (Mk 4,37). Uns bleibt dieses Schicksal erspart, und das, obwohl wir in einem sogenannten Jesus-Boot unterwegs sind, einer Nachbildung eines archäologischen Fundes aus dem Jahre 1986. Seither ist das geborgene Wasserfahrzeug, dessen Überreste in etwa auf die Zeit des Wirkens Jesu datiert werden konnte, unter der Bezeichnung “Jesus-Boot” bekannt.

Rund um den See liegen zahlreiche Schauplätze des Wirkens Jesu, und fast an jedem befindet sich eine Kirche zu Ehren des jeweiligen Ereignisses: Die Verkündigungskirche in Nazareth, die Basilika der Verklärung auf dem Berg Tabor, die Brotvermehrungskirche in Tabgha, die Kirche der Seligpreisungen an der Nordküste des Sees. Beachtlich ist jedes Gebäude für sich, doch sind es die kleinen Details, die das Christenherz höher schlagen lassen. “Verbum caro factum est” (“Das Wort ist Fleisch geworden”) – diesen Satz kennt wohl jeder Katholik. Aber bei der lateinischen Inschrift in der Verkündigungskirche findet sich ein kleiner Zusatz, das Wörtchen “hic”. Das Wort ist HIER Fleisch geworden, genau hier an dieser Stelle, wo es der Erzengel Maria verkündete. Es ist nicht nur eine Erinnerung an das Ereignis selbst, sondern auch daran, dass sich christlicher Glaube nicht in mythologischer Phantasie, sondern in geschichtlicher Wirklichkeit abspielt.

In der Brotvermehrungskirche habe ich das Glück, auf Nikodemus Schnabel zu treffen, den Abt der deutschsprachigen Benediktinerabtei in Jerusalem. Er berichtet betroffen von der schwierigen Lage der katholischen Migranten in Israel, die mitunter als moderne Arbeitssklaven fungieren. So sei beispielsweise der Flughafen von Tel Aviv “fest in katholischer Hand” – nämlich jener der katholischen Reinigungskräfte aus Indien. Was die politische Lage angeht, so sehe er gute Gründe, sich für die eine oder die andere Seite zu positionieren, jedwede Form von blinder Solidarität sei aber gefährlich.

Gleichheit vor dem Gesetz

Jerusalem bildet das Ziel meiner Reise. Bevor es jedoch in die historische Altstadt geht, machen wir einen Abstecher in das Hadassah Krankenhaus. In der hauseigenen Synagoge sind die berühmten zwölf Buntglasfenster von Marc Chagall zu bestaunen, welche die zwölf Söhne Jakobs symbolisieren. Noch beeindruckender aber ist die harmonische Vielfalt an diesem Ort. Juden und Muslime mischen sich hier, beim Personal wie bei den Patienten. An diesem Ort zählt nur eines: der Mensch.

Etwas weniger friedfertig wirken die zahlreichen Militärs in der Stadt, aber das ist ein vertrauter Anblick in Jerusalem. Auffällig für europäische Augen sind die zahlreichen weiblichen Uniformträger, denn Ausnahmen für das vermeintlich “schwache” Geschlecht gibt es in Israel beim Dienst an der Waffe nicht. Just an diesem Tag wird aber auch noch eine weitere Ausnahme aufgehoben. Der Oberste Gerichtshof beschließt, dass ultraorthodoxe Juden nicht länger vom Militärdienst befreit werden dürfen, ein Urteil, das für einigen Gesprächsstoff in der Bevölkerung sorgt.

Den Höhepunkt in Jerusalem bildet der Besuch der Grabeskirche, erbaut an den Stätten, an denen Jesus gekreuzigt und begraben wurde. Seit konstantinischer Zeit pilgern Christen an diesen heiligen Ort. Ab dem 19. Jahrhundert hat sich noch ein anderer Ort als vermutete Stelle von Kreuzigung und Grablegung Jesu etabliert, die vor allem von evangelischen Christen aufgesucht wird. Doch wo auch immer man das historische Grab Jesu vermutet, die Ironie bleibt dieselbe: Man reist einen weiten Weg, um ins Leere zu schauen. “Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier” (Mk 16,6).

Ein fünftes Evangelium?

Die Reise ins Heilige Land wird gerne als “fünftes Evangelium” bezeichnet. Allerdings geht diese Formulierung nicht – wie oft behauptet – auf den heiligen Hieronymus zurück. Dieser sah das Aufsuchen von Orten zum Zwecke der Glaubensförderung eher kritisch: “Die Stätten der Auferstehung und der Kreuzigung werden nur denen nützen, die ihr Kreuz tragen, täglich mit Christus auferstehen und sich einer solch erhabenen Wohnstätte würdig machen. Jene aber, die sprechen: ‘Der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn’ mögen das Wort des Apostels beachten: ‘Ihr seid der Tempel Gottes, und der Heilige Geist wohnt in euch.’ Der himmlische Hof steht sowohl von Jerusalem wie von Britannien aus in gleicher Weise offen; denn das Reich Gottes ist in uns.”

Ein Besuch im Heiligen Land ist für Christen keine Pflichtübung. Christus ist nicht nur an historischen Plätzen präsent. Er ist gegenwärtig im Sakrament, in der Schriftlesung, in jeder Versammlung von zwei oder drei Gläubigen. Das bedeutet freilich nicht, dass eine Reise zu den ursprünglichen Wirkstätten des Menschensohns nicht lohnenswert wäre. Ohne Zweifel sieht man das Neue Testament mit anderen und verständigeren Augen, wenn man die Orte und Landschaften gesehen hat, von denen es handelt. Der Weg dorthin steht jedem offen, auch in diesen Zeiten.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Hier kostenlos erhalten!

Themen & Autoren

Sebastian Moll
Altes Testament
Apostel
Evangelische Kirche
Holocaust
Jesus Christus
Katholikinnen und Katholiken
Marc Chagall
Nikodemus Schnabel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien

Die drei Säulen der röm. kath. Kirche

monstranz maria papst-franziskus

Archiv

Empfehlung

Ausgewählte Artikel