Die Welt wartet auf Ausgleich

Die Welt wartet auf Ausgleich – helfen kann Max Scheler

Quelle
Max Scheler – Wikipedia
Max Scheler Gesellschaft | Willkommen auf den Seiten der Max Scheler Gesellschaft (wordpress.com)
Scheler-Philosophische.pdf (bard.edu)
Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs (Antiquariat)
Amazon.de : Max Scheler – Literatur

Vor 100 Jahren veröffentlichte der Philosoph seinen Essay “Probleme einer Soziologie des Wissens”, der an Aktualität kaum etwas eingebüßt hat.

6.03.2024

Josef Bordat

Max Scheler (1874-1928) gehört nicht zu den ganz großen Gestalten der deutschen Philosophie. Zumindest fallen einem auf Anhieb andere Namen ein. Dennoch lohnt sich der Blick auf sein Denken, zumal dann, wenn es dazu einen Anlass gibt. Und den gibt es: Vor hundert Jahren erschien sein Essay “Probleme einer Soziologie des Wissens”, der dann noch einmal in “Die Wissensformen und die Gesellschaft” (1926) veröffentlicht wurde. Scheler wird mit dieser Schrift zu einem der Begründer der Wissenssoziologie.

Doch nicht nur ein äußerer Anlass ist gegeben. Mit Blick auf das, was wir heute “Wissen” nennen, nämlich nur noch (oder zumindest in erster Linie) naturwissenschaftliche Erkenntnis, lohnt sich die Lektüre Schelers, der einen anderen Wissensbegriff vertritt, der offen ist für geisteswissenschaftliche und auch religiöse Erträge.

Max Scheler – als Jude geboren, als Erwachsener zum Katholizismus konvertiert – genoss eine umfassende akademische Bildung. Er studierte Medizin, Philosophie, Psychologie und Soziologie. Beeinflusst von seinem Doktorvater Rudolf Eucken und der Phänomenologie Edmund Husserls entwickelt er eine metaphysische Ethik, die sich offen hält für das “Gefühl” als philosophisch ernstzunehmende Kategorie und in der die objektive Geltungskraft von Werten einer “Logik des Herzens” erwächst. Scheler setzt sich intensiv mit Nietzsche auseinander, zunächst kritisch, später auch affirmativ, was ihm den Ehrentitel “katholischer Nietzsche” eintrug (nach Johannes Hirschberger geht dieser Spitzname auf Ernst Troeltsch zurück).

Vom Katholizismus gen Pantheismus

Überhaupt: Der katholische Glaube prägt den Münchner Denker in ganz unterschiedlicher Weise. Zunächst arbeitet er nach seiner Konversion (1916) mehrere Jahre für die katholische Zeitschrift “Hochland” und verfasst mit “Vom Ewigen im Menschen” (1921) ein katholisches Manifest kultureller Erneuerung nach dem Ersten Weltkrieg. Später tritt er dem Katholizismus jedoch kritisch gegenüber, entwickelt zunehmend pantheistische Vorstellungen im Sinne Spinozas, die ihn zu einer philosophischen Anthropologie führen, in der der Mensch als “Miterwirker Gottes” erscheint.

Scheler entwickelt eine Existenzphilosophie jenseits des Materialismus, die sich vielleicht am besten als “Geist-Drang-Metaphysik” fassen lässt. Der Geist, so Scheler, mache den Menschen “weltfrei” (auch das ein Gedanke, der dem Christentum nicht fremd ist), der Geist steht jedoch zunächst, also bevor er dem Menschen diese umfängliche Freiheit gewährt, in Spannung zur Faktizität der Welt, muss sich auf deren historische und soziale Gegebenheiten einlassen. Zu diesen zählt auch der Drang des Menschen, der aus der Natur herrührt und das Triebhafte verantwortet. Diese Dichotomie, bei der unser Drang zwar unterhalb des Geistes angesiedelt ist, aber gerade für die Wissensproduktion und die Entwicklung von Technik wichtig bleibt, liegt Schelers Wissenssoziologie zugrunde.

Die Einheit von Geist und Drang

Zunächst bleibt festzuhalten: Mit der Berücksichtigung der natürlich-triebhaften Determinanten des Menschen bleibt die Metaphysik bei Scheler wirklichkeitsorientiert und birgt nicht die Gefahr, in esoterische Realitätsverweigerung umzuschlagen. Doch es ist der Geist, der das Sagen hat – im Menschen, in der Gesellschaft und auch in der wissenschaftlich-technischen Produktion von neuen Werten des Fortschritts. Der Geist ist zugleich der Sinn, da er die Welt ordnet und lenkt. Insoweit entspricht er Hegels “Idee”. So steuert der Geist die Welt auf ein Ideal zu, dessen Vollendung Hegel wie Scheler in Gott erkennen. Auch wenn der 1928 verstorbene Scheler die Schrecken der kommenden Jahrzehnte nicht mehr erlebte, die diese idealistische Geschichtsphilosophie – zumindest für die innerweltliche Sicht – mit großen Fragezeichen in Gestalt des Faschismus und Kommunismus versahen, bleibt die metaphysische Vorstellung einer sich schließlich in Gott vollendenden Welt relevant, zumindest für die religiöse Perspektive.

Wie entsteht Wissen? Kurz gesagt: Dadurch, dass sich geistige Idealfaktoren und triebhafte Realfaktoren vereinen. Anders gesagt: Die Idee allein nützt nichts, wenn sie kein Interesse in der Wirklichkeit hervorruft (jede und jeder Forschende weiß nach abgelehntem Förderungsantrag, was das bedeutet). Und die Triebe – etwa die Neugier, das unbedingte Wissen-Wollen – sind zwar wichtig für Wissenschaft und Technik, aber wenn sie nicht geistig gesteuert werden, laufen sie ins Leere oder – so darf man heute nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte in den Life Science anfügen – ins Unmoralische. Geist paart sich mit Drang, Idee trifft Realität – das ist das Geheimnis wissenschaftlich-technischen Fortschritts.

Auch die Religion begründet echtes Wissen

Dafür allein hätte man Schelers hundertjährige Wissenssoziologie nicht unbedingt hervorkramen müssen. Bedeutender als die naheliegenden Mechanismen der Wissensproduktion ist sein Wissensbegriff, der entsprechend der metaphysischen Grundausrichtung seines Denkens ein weiter und offener ist, da er sich nicht nur auf naturwissenschaftliche Wissensbestände bezieht, sondern auch den Aussagen der Religion und Philosophie zubilligt, “echtes” Wissen zu begründen, zu beschreiben und zu tradieren.

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Was ist Wissen? Wissen umfasst für Scheler das Heil- und Erlösungswissen der Religionen, das Bildungswissen der Philosophie und das Leistungs- und Herrschaftswissen der Naturwissenschaften und der Technologie. Die unterschiedlichen Wissensbestände werden aus verschiedenen gleichberechtigten Motiven hervorgebracht: Heiligkeitswerte (Religion), Geisteswerte (Philosophie) und Vitalwerte (Naturwissenschaft und Technik) bestimmen die Wissensproduktion.

Dabei ist es nun nicht so, dass die drei Wissensformen im Laufe der Fortschrittsgeschichte einander abgelöst hätten. Gedacht ist also nicht an eine Sukzession, wie sie sich etwa nach dem Dreistadiengesetz des Positivisten Auguste Comte vollzogen hat erst war der Glaube (Religion), dann hat man angefangen, nachzudenken (Philosophie) und schließlich konnte man – endlich! – rechnen, messen, bauen (Naturwissenschaft und Technik); eine heute weit verbreitete Fortschrittserzählung, in der die Kirche zu den Institutionen gehört, die von der Vernunft längst überwunden wurden. Nein, bei Scheler ereignen sich die Wissensformen gleichzeitig, sie koexistieren, bedingen und beflügeln sich, so wie eben Geist und Drang zusammenwirken.

Wider die naturalistische Verengung des Wissensbegriffs

Das wiederum ist nicht deswegen wichtig, weil es gegenüber der Religion und der Theologie nette Bemerkungen macht und auf sehr wohltuende Weise die Relevanz der Geisteswissenschaften betont, sondern weil es den Begriff des Wissens offenhält für nicht-instrumentelle Aspekte unserer Wissenschafts- und Technologiekultur, die heute als auf Natur (mit Scheler: “Drang”) verengt und ganz auf “Leistung und Herrschaft” ausgerichtet erscheint. Das grundsätzliche Bedenken (mit Scheler: “Geist”), wohin das alles führt und wie und wodurch die Entwicklung gesteuert werden kann, ist nötiger denn je, wenn wir auf Life Science, KI und andere Zweige der gegenwärtigen Forschung schauen. Andererseits sollte dieses Bedenken wiederum nicht zur grundsätzlichen Verleugnung berechtigter Interessen führen, die aus Ideen erst das Wissen entstehen lassen.

Auch das legt uns die Wissenssoziologie Schelers nahe: Alle drei Wertgattungen sind wichtig und müssen kultiviert werden, um in der Welt zu einem “Ausgleich” zu kommen. Darüber schrieb Scheler 1927 einen Aufsatz: “Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs”, in dem er nicht nur zur Überwindung von Rassenspannungen und Klassengegensätzen, von Generationenkonflikten und Geschlechterdivergenzen aufruft (alles hochaktuell), sondern auch und vor allem zur Synthese von “äußeren” und “inneren” Wissensformen.

Ein Jahrhundert später stellen wir fest: Die Welt wartet auf den Ausgleich. Und: Gerade in dem Maß, wie sich unser Wissensbegriff verengt, verengt sich auch die Ausgleichsperspektive. Die Unausgeglichenheit der Welt, das zeigt Max Scheler, ist also auch ein wissenssoziologisches Thema. Insofern hat uns der kantige Katholik auch heute noch etwas zu sagen.

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