Jeremias Gotthelf: Der predigende Gottesknecht

Grosse Predigten der Wetliteratur – Der letzte Teil der “Tagespost”-Reihe widmet sich dem Schriftsteller und evangelischen Pfarrer

Quelle
Jeremias Gotthelf – Wikipedia
Amazon.de : Jeremias Gotthelf

25.02.2024

Gudrun Trausmuth

Es ist eine Freude, dass bei Diogenes mit dem Erzählband “Die schwarze Spinne”, dem “Bauernspiegel” sowie dem Doppelroman “Uli der Knecht” und “Uli der Pächter” die zentralen Texte Jeremias Gotthelfs neu aufgelegt wurden. 1797 als Albert Bitzius in Murten geboren, wurde Gotthelf evangelischer Theologe und lebte als Pfarrer bis zu seinem Tod 1854 in Lützelflüh im Emmenthal. Volkserzieherisch und gesellschaftspolitisch höchst engagiert, wurde seinem Einsatz mit der neuen Verfassung, die Geistlichen eine politische Betätigung verbot, ein Riegel vorgeschoben.

Pastor Bitzius war offenbar kein bezwingender Prediger, vor allem deshalb, weil er aufgrund einer Schilddrüsenvergrößerung unter starken stimmlichen Beeinträchtigungen gelitten haben soll. Doch fand Albert Bitzius als Jeremias Gotthelf mit 39 Jahren in der Literatur seine Kanzel öffentlicher Wirksamkeit: “Es ist mir fast ein Bedürfnis (…) zu schreien in die Zeit hinein, zu wecken die Schläfer, den Blinden den Star zu stechen.” Das Pseudonym “Jeremias Gotthelf” war bezeichnend: Der biblische Jeremias trat als Bußprediger, religiöser und politischer Warner und Mahner auf. Wenn Bitzius den Namen des alttestamentarischen Propheten aufgreift, umgibt ihn das mit dem Nimbus, Sprachrohr des Höchsten zu sein, was den Einsatz drastischer Mittel erlaubt. Den intensiven ersten Teil des Schriftstellernamens gleicht der im Verhältnis dazu harmlose und fromme “Gotthelf” aus. Wesen, Anspruch und Ton des schreibenden Lützelflüher Pfarrherrn kamen aber wohl eher im “Jeremias” zum Ausdruck. Denn heftige Anklage, entlarvende Darstellung aktueller Wirklichkeit, Poltern und Mahnen, gehören zum charakteristischen Ton des Jeremias Gotthelf: “Eine fast kindische, aber jedenfalls gutmütige Rücksichtslosigkeit war mir angeboren.”

Mit Literatur zu predigen ist Wirksam

Der 22 Jahre jüngere Gottfried Keller (1819-1890) bestimmte durch vier Rezensionen ein Bild seines Kollegen Gotthelf mit, das bis heute prägend ist. Dabei kritisierte Keller ausdrücklich den derben “Predigtton” Gotthelfs: “Wenn man das Buch zuschlägt, so hat man den Eindruck, als sähe man einen Kapuziner nach gehaltener Predigt sich den Schweiß abwischend hinter die kühle Flasche setzen mit den Worten: Denen habe ich es wieder einmal gesagt! Eine Wurst her, Frau Wirtin!” Jenseits dieses polemischen Blickes ist es – neben dem sympathischen Einsatz des Schweizer Dialekts – ein geistlich-pädagogischer Anspruch, der den Wesenskern der Gotthelfschen Werke ausmacht: Gotthelf möchte durch sein Wort die Menschen zum irdischen und ewigen Heil führen. In diesem Sinne ist der Dichter Prediger geblieben und der Dichter vom Prediger nicht zu trennen.

Den Wechsel des Mediums sieht Hanns Peter Holl als “Säkularisationsvorgang”: “Mit Literatur zu predigen, war für Gotthelf gerade der Versuch, vom nicht mehr wirksamen theologischen Stammbereich wegzukommen zu etwas anderem, Wirksameren. Es gibt Visitationsberichte aus Gotthelfs Vikariatszeit der zwanziger Jahre, wo er feststellt: Mit der Predigt kommt man niemandem mehr bei.” Der Begriff “predigen” oder “Predigt” ist bei fast allen Gotthelf-Rezipienten schnell bei der Hand: “Predigen” oder “Predigt” ist gleichsam Synonym für belehrendes, insistierendes Sprechen. Der wiederkehrenden Evokation des Predigthaften in Gotthelfs Werk seltsam widersprechend, wurde aber lange übersehen, welch intensive Auseinandersetzung Gotthelf in seinem Werk auch mit der konkreten Textsorte Predigt führt.

Gute und böse Stimme

Im Folgenden sei nicht auf die opulenten Predigten in Gotthelfs “Geld und Geist” eingegangen, sondern auf die subtileren und doch wesentlicheren in Gotthelfs “Uli-Roman”. Dieser setzt sich aus “Uli, der Knecht” (1841) und “Uli der Pächter” (1848) zusammen, ein geplanter dritter Teil mit dem Titel “Uli der Bauer” kam nicht zustande. Für Friedrich Sengle bildet der Uli-Roman die Spitze der “klassischen Werke” Gotthelfs.

In “Uli der Knecht” machte Gotthelf erstmals einen Angehörigen der untersten Gesellschaftsschicht zum Protagonisten eines Romans. Er erzählt die Geschichte des jungen Bauernknechts Uli, der völlig zu verwahrlosen droht, sich aber unter der Leitung seines Bauern Johannes zu einem angesehenen Knecht entwickelt. Nach einigen Jahren wird Uli Meisterknecht bei Johannes?unbrauchbarem und bösen Vetter Joggeli in Üfligen, wo er auf dem heruntergekommenen Hof eine Reihe von Bewährungsproben zu bestehen hat.

In “Uli der Knecht” gibt es zwei kurze Predigtszenen, die in ihrer indirekten Bezugnahme – einmal erzählt Ulis Meister Johannes die Predigt, einmal erlebt Uli sie innerlich – und ihrem Umfang nach auf den ersten Blick nicht weiter auffallend zu sein scheinen, allerdings die zentrale Botschaft des Werkes transportieren. Beide Predigten leben wesentlich von der biblischen Erzählung des Sündenfalls in Gen 3, 1-7: Die erste Predigtszene bezieht sich inhaltlich auf das Geschehen zwischen den Stammeltern, Gott und der Schlange. Der Fokus liegt dabei auf der sprachlichen Dimension der Erzählung. Durch die Einführung des verallgemeinernden Begriffs der “Stimme” abstrahiert Gotthelf das Geschehen der Verführung vom biblischen Archetypus, in dem Gott und die Schlange sprechen, und stellt eine Kontinuität bis in die Zeit der Predigt her: “und so hätten die ersten Eltern der Schlange, der Aufweisung mit ihrer verführerischen, schmeichlerischen Rede Gehör gegeben und seien darob unglücklich geworden und hätten ihre Nachkommen mit ins Unglück gezogen.

Nun sei das sehr wunderbar, dass die beiden Stimmen alle Menschen durchs Leben begleiteten und aus Menschenmund zu ihnen kämen”. Nach Feststellung der Aktualität der Konkurrenz der “beiden Stimmen” im Leben des Menschen, legt die Predigt die Manifestation der beiden Möglichkeiten dar: “Es sei selten ein Mensch, den nicht gute Menschen zum Guten mahnen mit Liebe und Ernst, den hinwiederum nicht böse Menschen aufreißen und zum Bösen antreiben, indem sie sich mit süßer Rede als Freunde stellen oder mit Spott seine Eitelkeit erregen.” Gotthelf führt auf diese Weise die für die Architektur des Romans zentrale Opposition zwischen “guter Stimme” und “böser Stimme” ein und legt zugleich fest, in welcher Form die beiden “Stimmen” auftreten. Damit ergibt sich einerseits die strukturelle Kontinuität “Gott – gute Stimme (vertreten durch Johannes) – Uli” und andererseits jene von “Schlange/Teufel – böse Stimme (vertreten durch Joggeli) – Uli”.

Hauptsächlich erfolgt die formale Sicherung der zweiten Predigtszene als Predigt dadurch, dass Gotthelf sie in unmittelbare Nachbarschaft einer Sonntagspredigt stellt beziehungsweise die Sonntagspredigt durch die referierte “Stimmenpredigt” ersetzt. Der Leser erfährt aus der Perspektive Ulis nichts über Inhalt, Raum oder Prediger der Sonntagspredigt, doch er erfährt, dass sie stattgefunden hat. Dieses quasi negative Erzählen schafft die formale Vorgabe einer Predigt, die aber durch ein inhaltliches Vakuum gekennzeichnet ist, das später die Botschaft der zweiten “Stimmenpredigt” füllt: Uli überhört die eine Predigt und hört innerlich dann dafür eine andere. Durch dieses Ersetzen wiederum, tritt die inhaltliche Botschaft gleichsam auch formal in die Rechte der Sonntagspredigt ein und wird solchermaßen in ihrer Identität als Predigt narrativ abgesichert.

Der Mensch hat zu wählen

Der Predigttext der zweiten Predigt besteht im engeren Sinne aus einer einzigen Frage, mit der zunächst kurz jene “beiden Stimmen” in Erinnerung gerufen werden, um dann näher auf die Vorgangsweise der “bösen Stimme” einzugehen: “Weißt du noch von den zwei Stimmen, die einen begleiten im Leben, einer aufweisenden und einer mahnenden, und weißt du, wie die aufweisende, schmeichelnde Stimme vom Versucher kömmt, der Schlange im Paradiese, und wie sie einem den Kopf groß machen, ableiten will vom rechten Pfade und hinterher auslachet, wenn sie einen in Unglück und Schande gebracht, wie man die von sich weisen und sagen muß: Weiche von mir, Satanas! Wie sollte ich ein so großes Übel tun und wider dem Herrn, meinen Gott, sündigen!”

Die Neuheit der zweiten “Stimmenpredigt”, besteht in der konkreten Handlungsanweisung betreffend die Reaktion auf die “böse Stimme”: Die Predigt endet nun nicht gleichsam mitten in der tractatio, den Ausführungen, sondern zieht eine Konsequenz daraus, enthält demnach auch eine probatio. Nimmt man die gesamte zweite Predigtszene in den Blick, so scheint neben der Genesis als zentralem biblischen Fundament, eine weitere biblische Szene durchzuschimmern: Interferenzen hinsichtlich Inhalt und Handlungsablauf lassen vermuten, dass Gotthelf der zweiten “Stimmenpredigt” das Gepräge einer Emmaus-Erfahrung verleihen wollte und sie diskret mit entsprechenden Signalen unterlegt hat. In beiden Fällen ist jemand, verwirrt und in düsterer Stimmung, unterwegs zwischen zwei Orten; ein anderer tritt hinzu, der Weg wird gemeinsam fortgesetzt. Das Wort des Hinzugetretenen führt schließlich in beiden Fällen zu einer entscheidenden Erkenntnis und hat aufbauende Wirkung.

Die eigentliche Wichtigkeit der zweiten “Stimmenpredigt” besteht aber darin, dass das, was unmittelbar zuvor Außengeschehen war, die Konkurrenz des Geredes der Leute und der substanziellen Rede, nun als Inhalt der von Uli vernommenen Predigt wiederkehrt. Allerdings in ihrer auf das Seelenheil bezogenen Dimension, zurückgeführt auf ihr Gewicht in der Beziehung des Menschen zu Gott: Der Mensch hat zu wählen, ob er auf die “aufweisende, schmeichelnde Stimme vom Versucher, der Schlange im Paradiese” oder auf die “mahnende Stimme” Gottes hört. Die Wahl dessen, worauf der Mensch hört, wird durch die Predigt in Gotthelfs “Uli-Roman” als jenes Kriterium vorgestellt, welches über Heil und Unheil des Menschen entscheidet.

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