Freunde der Vernunft: Zeigt Gesicht!
Noch stärker, als es Joseph Ratzinger und Jürgen Habermas vor 20 Jahren taten, muss in Zeiten “gefühlter Wahrheiten” die Vernunft öffentlich gestärkt werden
Quelle
Ratzinger und Habermas: Gipfeltreffen zweier Giganten
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19.01.2024
Als Joseph Kardinal Ratzinger am 19. Januar 2004 in München seine mittlerweile berühmt gewordene Diskussion mit Jürgen Habermas über Glaube und Vernunft führte, war er seit über 20 Jahren Präfekt der römischen Glaubenskongregation (heute Dikasterium für die Glaubenslehre) und dachte möglicherweise bereits darüber nach, wie er nach dem Ende des Jahrhundertpontifikats von Johannes Paul II. seinen Ruhestand gestalten würde.
Ein knappes Jahr später war vom Ruhestand keine Rede mehr: Wir – und nicht zuletzt er – wurden Papst. Und nicht nur das: Während seines Pontifikats als Papst Benedikt XVI. war es ausgerechnet die Ausformulierung des richtigen Verhältnisses von Glaube, Vernunft und Politik – also letztendlich das Referatsthema von München 2004 – welches zu so etwas wie einem Hauptanliegen seines päpstlichen Wirkens avancieren sollte.
Glaube und Vernunft bedürfen einander
Dies begann bereits mit seiner während des Konklaves 2005 gehaltenen – und von nicht wenigen Beobachtern als “Regierungserklärung” interpretierten beziehungsweise missverstandenen – Predigt zur “Diktatur des Relativismus” und wurde mit der “Regensburger Vorlesung“ (2006), in den Reden vor den Parlamenten in London (2010) und Berlin (2011) sowie der aufgrund von radikalen Studenten und Akademikern nicht gehaltenen Rede an der römischen Universität La Sapienza (2008) fortgesetzt. Die große Gemeinsamkeit all dieser Reden: Die Erkenntnis, dass Glaube und Vernunft einander bedürfen; dass der moderne Staat sich seiner geistig-ideellen Wurzeln besinnen muss, zu denen selbstverständlich der christliche Glaube gehört sowie die Notwenigkeit des Dialogs zwischen Kirche, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und den Religionen.
Gleichzeitig warnte der bayerische Papst, wie schon im Dialog mit dem ihm in der Sache zustimmenden nachmetaphysischen Denker Habermas, dass sowohl die persönliche als auch die öffentliche Vernunft zahlreichen Gefährdungen ausgesetzt ist und es gerade Aufgabe der Theologie sowie der Philosophie als wissenschaftlicher Disziplinen sei, sich gemeinsam für die Vernunft stark zu machen beziehungsweise für diese einzutreten.
Öffentlich für die Vernunft eintreten
Wer jedoch 20 Jahre Jahre nach der Ratzinger-Habermas-Diskussion in München zu Beginn des Jahres 2024 auf weite Teile der Welt mit ihren zahlreichen Krisen und Konflikten blickt, muss wohl zu der Erkenntnis gelangen, dass nicht nur Philosophen und Theologen, sondern schlichtweg auch der große Rest der Menschheit dem Papst entweder schlecht oder schlichtweg gar nicht zugehört haben. Denn wie sehr eine Mischung aus instrumenteller Vernunft, irrational-pathologischem Glauben zuzüglich der kompletten Abwesenheit von alldem die heutige Welt noch viel stärker als zu Papst Benedikts Wirkungszeit in einen Ort der grassierenden Unvernunft verwandelt hat, ist augenscheinlich. Seine mahnenden Worte waren keine akademischen Spitzfindigkeiten, sondern verdienen mit Blick auf unsere aus den Fugen geratene Gegenwart nichts weniger als das Prädikat “prophetisch”.
Es ist somit an der Zeit, im Sinne Ratzingers und Habermas’, öffentlich für die Vernunft einzutreten. Denn, liebe Thomisten, Kantianer, kritische Rationalisten, Neo-Stoiker oder zahlreiche andere Freunde der Vernunft: Die Zeiten sind zu ernst, als diese gegeneinander mit althergebrachtem Lagerdenken sowie dem Schlagen alter Schlachten zu verschwenden. Stattdessen müssen Ideologiehörigkeit, Antisemitismus, Aberglaube und Nihilismus bekämpft werden. Nicht bald – sondern jetzt.
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