Ein Arzt und ein Priester berichten aus Syrien

Pater Georges Aboud aus Syrien zu Gast im Wallis – 25. – 29. Oktober 2023

Quelle
Patriarch em. Gregorios III. Laham aus Syrien zu Gast in der Deutschschweiz
Israel/Palästina: Wie wirkt sich der Konflikt zwischen Israel und Palästina auf die Christen aus?
Syrische Christen doppelt in Not | Gommiswald (linth24.ch)
News | Kirche in Not (kirche-in-not.ch)
Pater Georges Aboud aus Syrien zu Gast im Wallis

Syrien gerät aus dem Blick der Weltöffentlichkeit. Dabei spitzt sich auch dort die Lage zu. Kirche und internationale Gemeinschaft hätten zwar geholfen, doch es droht eine neue Fluchtwelle. Ein Arzt und ein Priester berichten.

KNA: Doktor Antaki, Monate nach dem Erdbeben, wie entwickelt sich die Situation?

Antaki: Die ohnedies katastrophale humanitäre Lage hatte sich zuvor bereits wegen Covid-19 und Cholera massiv zugespitzt. Nach dem Erdbeben wurde es noch schlimmer. Tausende Menschen wurden durch das Beben getötet, zudem Tausende vom Krieg schon beeinträchtigte Gebäude völlig zerstört. Die Sanktionen verbieten uns ja den Wiederaufbau.

Viele Familien haben daher ihr Haus verloren und wurden zur Flucht in andere Landesteile gezwungen.

Nabil Antaki

“Es herrscht absolute Perspektivlosigkeit.”

Die Menschen sagen jetzt, dass man nicht mehr überleben kann. Selbst Brot und Treibstoff sind rationiert. Strom haben wir maximal zwei Stunden pro Tag. Die Familien sind zu Bettlern geworden, die ständig bei Hilfswerken um Hilfe nachsuchen müssen. Unsere Wirtschaft erholt sich nicht. Es herrscht absolute Perspektivlosigkeit. Deshalb fordere ich die Wiederaufnahme der syrischen Bevölkerung in die internationale Gemeinschaft und ein Ende der Sanktionen.

KNA: Was bedeutet das für die Kinder in Syrien?

Antaki: Der Preis von Milchpulver für Säuglinge ist derart gestiegen, das niemand das bezahlen kann. Der Preis von den monatlich benötigten sechs Packungen übertrifft bereits den Monatslohn eines durchschnittlichen Syrers. Dazu kommt natürlich, dass die Schulen weitgehend zerstört sind. 2,2 Millionen Kinder haben keinen Zugang zu Bildung. Hier ist unsere Hilfe auch benötigt.

Durch die Inflation hat die syrische Währung 99 Prozent ihres Wertes verloren. Die Preise sind massiv gestiegen – und die Gehälter nicht in der Höhe der Preisentwicklung. 80 Prozent der Menschen leben nun unter der Armutsgrenze und 90 Prozent sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Nichtregierungsorganisationen sorgen für notwendige Lebensmittel oder absolut notwendige medizinische Versorgung.

KNA: In Deutschland wird viel für Syrien gespendet. Humanitäre Hilfe soll zugenommen haben. Kam die Hilfe an?

“Hunderte Hilfsflüge landeten in der Türkei; in Syrien kam wenig an.”

Antaki: Ja – aber in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten kam wenig Hilfe aus Europa an. Unsere Menschen fühlten sich als Opfer zweiter Klasse. Hunderte Hilfsflüge landeten in der Türkei; in Syrien kam wenig an. Westliche Regierungen möchten wenig zwischen humanitären und politischen Erwägungen differenzieren. Immerhin wollte die EU die Sanktionen senken – aber in der Praxis änderte sich nichts, da auch vorher humanitäre Ausnahmen von den Sanktionen nicht umgesetzt wurden.

KNA: Aber es gibt doch weitere Akteure?

Antaki: Ja. Auf einem zweiten Level helfen uns Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sehr großzügig sind, etwa Kirche in Not, Christian Solidarity International oder Missio. Von denen bekamen wir viel – aber die Regierungen haben sich in Europa schon sehr zurückgehalten, uns in Aleppo zu helfen.

KNA: Monsignore Kassar, Sie sind Generalvikar der syrisch-katholischen Erzdiözese Damaskus. Wie sieht es für Ihre Seelsorge aus?

Amer Kassar

“Mittlerweile sind mehr Priester meiner syrisch-katholischen Kirche in westlichen Ländern als bei uns.”

Kassar: Unsere Kirche, unsere Gläubigen leiden sehr unter dem Krieg und den Sanktionen. Die Seelsorge wird schwieriger, da viele versuchen, das Land zu verlassen und zu emigrieren. Wir haben kaum mehr Pfadfinderleiter oder Katechisten. Berufungen werden auch immer weniger. Mittlerweile sind mehr Priester meiner syrisch-katholischen Kirche in westlichen Ländern als bei uns.

KNA: Wie sieht das Leben momentan in Damaskus aus?

Antaki: Für die Familien ist die Auswanderungswelle aufgrund der furchtbaren Versorgungslage die größte Herausforderung. Dazu kommt natürlich noch der Militärdienst der Jugend, der offiziell zweieinhalb Jahre dauert; wegen des Kriegs sieht das natürlich nun anders aus. Aber auch die Jugendlichen in Ausbildung oder an der Universität stellen sich die Frage, ob sie in diesem Land unter diesen Bedingungen bleiben können. Über den jungen Leuten schwebt natürlich die Gefahr, in diesem Land keine Arbeit zu bekommen. Und wenn junge Menschen bei uns Arbeit finden, erzielen sie manchmal höchstens 25 Euro im Monat. Für eine Familie reicht das nie – und damit heiraten die jungen Menschen auch nicht. Jeder versucht, das Land zu verlassen.

KNA: Doktor Antaki, was hat es mit den sogenannten Blauen Maristen auf sich?

Nabil Antaki

“Für uns sind die Menschen keine Nummern.”

Antaki: Unser Motto ist, “Leben in Solidarität mit den Hilfsbedüftigsten, Leiden zu lindern, den Menschen zu entwickeln – und zu hoffen”. Wir sind also zunächst eine solidarische Aktion und nicht zunächst eine Charity-Organisation. Für uns sind die Menschen keine Nummern. Wir sorgen uns um jedes Individuum. Wir behandeln die Menschen mit Würde, und wir begegnen ihnen auf einer menschlichen Ebene – gerade wenn wir ihnen Gutes tun wollen. Das ist Solidarität.

Wir unterschützen die Leidenden. Zum Beispiel die alten gebrechlichen Menschen, die keine Verwandten mehr in Aleppo haben und ihre Häuser nicht mehr verlassen können. Menschen, die seit vielen Jahren die Sonne nicht mehr gesehen haben. Wir besuchen sie, organisieren kleine Ausflüge und bringen ihnen warme Mahlzeiten und ein Lächeln.

KNA: Sie sind Arzt. Sind die Blauen Maristen auch medizinisch aktiv?

Antaki: Wir versuchen eine gewisse Grundversorgung zu ermöglichen, etwa mit der oben genannten Babymilch und natürlich auch mit Medikamenten. Medikamente zur Krebstherapie in Syrien beispielsweise kosten wegen der Sanktionen teilweise das Zehnfache und können nur auf dem Schwarzmarkt beschafft werden.

Das Interview führte Simon Kajan.

Quelle:

KNA

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