Von der Wahrheit des Glaubens
Joseph Ratzingers Texte sind eine Anleitung zum Beten, weil sie strikt auf Christus ausgerichtet sind
10.09.2023
Manuel Schlögl
Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. kann sicher als einer der meistgelesenen Theologen des 20. und 21. Jahrhunderts gelten. Vielfach hat freilich seine Wirkung als öffentliche Person, als Bischof, Präfekt der Glaubenskongregation, Nachfolger des Apostels Petrus und Papa emeritus auch die Wahrnehmung seines Werkes beeinflusst, bestimmte Aspekte besonders hervorgehoben und andere Facetten seines Denkens eher in den Schatten gestellt. Nach seinem Tod ist daher ein umfassender Blick auf die Bedeutung seiner Theologie geboten. Bevor man einzelne Schwerpunkte seines Denkens beleuchtet, ist zunächst an zwei Besonderheiten von Joseph Ratzinger als Dogmatiker zu erinnern.
Zwei Facetten des Dogmatikers Josepoh Ratzinger
Zum einen ist er in den frühen Jahren seines Forschens und Lehrens vor allem Fundamentaltheologe gewesen. Als solcher musste er sich beispielsweise mit dem neuzeitlichen Atheismus und mit den Weltreligionen, besonders dem Hinduismus, auseinandersetzen. In seinen Vorlesungen in Freising und Bonn behandelte er theologische Erkenntnislehre, Religionsphilosophie, das Verhältnis von Religion und Offenbarung und die Gottesbeweise bei Thomas von Aquin. Diese Fähigkeit, den christlichen Glauben auch “von außen” zu sehen und ihn argumentativ in den Dialog mit den verschiedenen Denktraditionen der Moderne zu bringen, gab auch seiner dogmatischen Arbeit ein besonderes Profil, führte zu einer großen gedanklichen Flexibilität und machte ihn auch für Nicht-Glaubende zum interessanten Gesprächspartner.
Zum anderen hat Ratzinger trotz seines Potenzials nie eine Dogmatik geschrieben, alle Ansätze dazu blieben unvollendet, wie der Kardinal in seinem autobiografischen Essay “Aus meinem Leben” eingestanden hat – sowohl eine einbändige Dogmatik für den Wewel-Verlag, für die dann gleichsam als Ersatz die Sammelbände “Dogma und Verkündigung” (1973) und “Theologische Prinzipienlehre” (1982) erschienen sind, als auch Beiträge zu der gemeinsam mit Johann Auer herausgegebenen “Kleinen Katholischen Dogmatik” – ursprünglich sollte Ratzinger dafür die zentralen Traktate der Gotteslehre, Christologie und Eschatologie schreiben, zur Veröffentlichung kam dann bekanntlich kurz vor seiner Bischofsweihe 1977 lediglich der Band über die “Letzten Dinge”.
Dogmatik Ratzingers entzieht sich einer Systematisierung
Erst die kurz vor ihrem Abschluss stehende Edition seiner “Gesammelten Schriften” als “Ausgabe letzter Hand” präsentiert die zahlreichen und weit verstreuten Beiträge nach dogmatischen Themen geordnet und gibt so eine Vorstellung davon, wie eine “Dogmatik nach Ratzinger” aussehen könnte. Dennoch weist es wohl auf eine Eigenart seiner Theologie hin, dass sie sich einer abschließenden Systematisierung oder lehrbuchartigen Zusammenstellung zu entziehen weiß und so ihre Unmittelbarkeit, geschichtliche Deutungskraft und dialogische Offenheit behält.
Zu vier grundlegenden Einsichten ermutigt und befähigt die Dogmatik von Joseph Ratzinger. Erstens: die Wahrheit ist Person. Das, was Menschen aller Zeiten und Kulturen im Tiefsten suchen, den Schlüssel zur Wirklichkeit, die Einladung zu einem guten, erfüllten Leben, das den Tod überdauert, ist zuhöchst in der Begegnung mit der Person Jesu Christi zu finden. Diese offenbarungstheologische und christozentrische Fokussierung teilt Ratzinger mit vielen Theologen des 20. Jahrhunderts, aber selten ist sie so konsequent zur Grundlage eines ganzen theologischen Denkens geworden wie bei ihm.
Auf Beziehung und Dialog ausgerichtet
Von der Christologie aus entfaltet er eine relationale Ontologie und einen personal-geschichtlichen Zugang zu allen theologischen Themen – immer geht es um die Kategorie des Du, um Dialog, Offenheit, Begegnung, Liebe. Daher sind Ratzingers Texte auch von großem spirituellem Reichtum, letztlich auf eine betende Aneignung hin ausgerichtet. Der strenge Unterschied zwischen Dogmatik und Katechese beziehungsweise Verkündigung wird dadurch aufgehoben. Seine tausendfach aufgezeichneten Predigten und biblischen Meditationen bilden so einen wichtigen Bestandteil seines lebenslangen Ringens um eine dem Glauben angemessene Sprache.
Zweitens: die Begegnung mit Jesus Christus eröffnet das Geheimnis der Liebe als das Geheimnis des Menschen. Auch die “anthropologische Wende”, die Ratzinger durchaus mitvollzieht, bleibt bei ihm ganz an die Christologie gebunden und deshalb vor allen Einseitigkeiten bewahrt. Ratzinger spricht häufig von der “Selbstüberschreitung” oder vom “Exodus”, von einer existenziellen “Bekehrung”, die es braucht, damit der Mensch sein wahres Wesen erkennen und entfalten kann. In Jesu Anweisung an die Jünger, das eigene Leben um seinetwillen zu verlieren und es in diesem Sich-Verschenken erst wahrhaft zu finden, sieht er ähnlich wie Romano Guardini das Grundgesetz des christlichen Lebens, ja, des Menschseins überhaupt.
Kreuz und Auferstehung sind zentral
Dogmatik zielt für Ratzinger wie für die Theologen der Ostkirche ab auf Verwandlung und Vergöttlichung, sie geht nicht so sehr von der Inkarnation aus wie etwa bei Thomas von Aquin, Martin Luther oder Karl Rahner, sondern ist stärker von Kreuz und Auferstehung her konzipiert.
Deswegen spricht er auch einmal von der Gnade als dem “Kreuz der Natur” – der Mensch findet seine Vollendung nicht einfach, indem er sich erkennend auf Gott bezieht oder sich frei für ihn entscheidet, sondern indem er sich von Gottes Gnade anziehen und so befreien und verwandeln lässt. Ratzingers Dogmatik ist von Paulus und Augustinus ebenso geprägt wie von Johannes und Bonaventura. Der existenzielle Ernst, der aus einer Erfahrung der Bekehrung durch die größere Liebe stammt, gehört wesentlich zu seinem Denken.
Öffnung für das Wir der Kirche
Drittens: diese Bekehrung führt aus dem reinen Ich-Du-Verhältnis des Glaubenden hinaus in die universale Öffnung für das Wir der Kirche. Die vielleicht größte Leistung von Ratzingers Dogmatik ist es, gezeigt zu haben, dass die Kirche schon immer im Akt des Glaubens mit enthalten ist, dass die Heilige Schrift und die dogmatische Überlieferung bereits Ausdruck von Kirche sind und es deshalb weder einen Glauben ohne Kirche noch eine Kirche ohne Glauben geben kann.
Darin liegt sicher auch eine zentrale Einsicht für die Erneuerung der katholischen Kirche als Aufgabe dieses Jahrhunderts: sie muss von innen her, aus der ungeteilten Hingabe an Jesus Christus erfolgen, damit auch aus einem vertieften Bewusstsein dessen, was Kirche als “Leib” und “Braut” Christi, als sakramentale Wirklichkeit ist – sonst laufen alle Reformbestrebungen ins Leere.
Ratzinger weitete den Horizont des theologischen Austauschs
Das führt zu einer vierten Einsicht: Joseph Ratzinger hat, besonders als Leiter der Glaubenskongregation und als Papst, zu einer Vielzahl von aktuellen Fragen der Gesellschaft Stellung genommen und so die Dogmatik von einer “theologia perennis” (wie ein kritischer Aufsatz des jungen Theologen aus dem Jahr 1960 heißt) zu einer Wissenschaft von der Geschichtlichkeit des Glaubens umgeformt. Aus seiner reichen Kenntnis der Kirchenväter, der mittelalterlichen Theologie und der Spiritualitätsgeschichte heraus hat er immer wieder Maßstäbe, Orientierungen, Differenzierungen in die Diskussionen der Gegenwart eingebracht und so den Horizont des theologischen Austauschs geweitet.
Diese erschließende und vertiefende Kraft wohnt seinem Werk auch weiterhin inne. Und damit nicht zuletzt der Impuls, die Dogmatik in eine Praxis des Glaubens zu übersetzen, die Wahrheit des sich selbst mitteilenden Gottes Jesu Christi zur Wahrheit des eigenen Lebens werden zu lassen, wie der kürzlich verstorbene Ratzinger-Schüler Wolfram Schmidt einmal sagte: “So, wie uns Joseph Ratzinger den Glauben dargestellt hat, war es für uns eine Einladung, mitzugehen.”
Der Verfasser lehrt Dogmatik an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie.
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