Treue zum II. Vatikanischen Konzil ist Ehrensache

Zur Konstitution über die Römische Kurie («Praedicate Evangelium») sind offizielle Übersetzungen publiziert worden. Die Treue zum II. Vatikanum zeigt sich in einigen Übersetzungen deutlicher als in anderen. Gastkommentar von Martin Grichting

Quelle
Konzil (254)

Chur, kath.net, 31. August 2022

Triggerwarnung: Der folgende Beitrag enthält kleinteilige philologische Untersuchungen, die auf Gläubige, die einer klaren Sprache der kirchlichen Leitung verbunden sind, verstörend wirken können.

Der Luzerner Kirchenrechtsprofessor Adrian Loretan wusste es sofort. Zur neuen Konstitution über die Römische Kurie (“Praedicate Evangelium”) diktierte er im vergangenen März den Reportern in den Laptop: “Das ist eine Revolution – auch eine Frau kann Staatssekretärin werden”.

Und in der Tat: Unter «II. Grundsätze und Kriterien für den Dienst an der Römischen Kurie» heisst es im Unterpunkt «5. Stellvertretender Charakter der Römischen Kurie», Letztere erfülle ihre Aufgabe mit «stellvertretender Gewalt» («potestà vicaria»), die sie vom Papst erhalte. Und weiter: «Aus diesem Grund kann jeder Gläubige einem Dikasterium oder einem Organ vorstehen». Wenn der Satz an dieser Stelle zu Ende gewesen wäre, hätte man wirklich von einer Revolution sprechen können. Aber was hier vollmundig im Hauptsatz angekündigt wurde, hat ein Nachsatz gleich wieder heimlich zurückgenommen. Dieser lautet auf Italienisch, der Sprache, in der das päpstliche Dokument wohl erstellt wurde und die als einzige zwischen März und Juli 2022 verfügbar war: «attesa la peculiare competenza, potestà di governo e funzione di quest’ultimi» ‒ «’attesa’ die besondere Zuständigkeit, die Leitungsgewalt und die Aufgabe Letzterer [der Dikasterien und Organe]».

Was aber heisst «attesa»? Der Begriff kommt etwa auch in can. 366 des Codex Iuris Canonici von 1983 vor: «Atteso il carattere peculiare dell’ufficio di Legato», zu Deutsch: «Mit Rücksicht auf den besonderen Charakter der Aufgabe des Legaten». In der lateinischen Fassung steht für «atteso» der Betriff «attento». Das kommt von «attendere», was «achtgeben auf» oder «beachten» heisst.

Nun wurden auf der Homepage des Vatikans am 7. Juli 2022 mehrere Übersetzungen der Kurien-konstitution publiziert. Am 30. August 2022 folgte auch die deutsche Fassung. Diese Übersetzungen sind eine Fundgrube für den Philologen. «Attesa» wird auf Englisch übersetzt mit «depending on» – abhängend von; auf Französisch mit «étant pris en compte» – unter Berücksichtigung; auf Portugiesisch mit «no respeito» – «unter Respektierung»; auf Spanisch mit «teniendo en cuenta» – unter Berücksichtigung; auf Deutsch – wie bereits im Englischen – mit «abhängig von». Es fehlt noch die lateinische Fassung, die ja dann massgeblich ist. Sie wird wohl «attenta» lauten.

Wie sehr man sich auch immer auf Italienisch bemüht hat, die Wahrheit in Watte zu packen und sie nun in den einzelnen Sprachen mehr oder weniger deutlich zum Vorschein kommt: Der schillernde Begriff «attesa» leitet ein Rückzugssätzchen ein, das alles wieder zum Alten zurückführt. Mit ande-ren Worten: Laien können nur solchen Dikasterien oder Organen vorstehen, zu deren Leitung es keiner Leitungsvollmacht bedarf. Um Bücher für die Apostolische Bibliothek zu kaufen als deren Leiter(in) oder um Kongresse zu Ehe und Familie zu veranstalten: Dafür bedarf es keiner kirchlichen Leitungsgewalt. Um über Hierarchische Rekurse gegen Diözesanbischöfe entscheiden zu können (Dikasterium für den Klerus) oder um im Namen des Papstes Apostolische Administratoren ernennen zu können (Dikasterium für die Bischöfe): dafür bedarf es sehr wohl der kirchlichen Leitungs-gewalt. Nicht in allen Übersetzungen kommt das klar zum Ausdruck, am Kryptischsten eben auf Italienisch, am Deutlichsten auf Englisch, Portugiesisch und Deutsch. Wie auch immer: Wir sind damit trotz linguistischer Rabulistik wieder dort, wo wir mit der Kurienkonstitution des Hl. Papstes Johannes Paul II. («Pastor Bonus») schon waren. Denn dort hiess es explizit, dass Laien Mitglieder von Dikasterien sein könnten, «jedoch mit der Maßgabe, dass alles, was die Ausübung von Leitungsvoll-macht erfordert, denjenigen vorbehalten ist, welche die heilige Weihe empfangen haben» (Art. 7). Und was für die Römische Kurie weiterhin gilt, gilt folglich auch für die Diözesankurien in den Diözesen.

Viel Lärm um wenig also. Und dennoch gilt wohlgemerkt: Hinter dem Spiel mit Worten geht es um Fundamentales: Leitungsvollmacht (auch «Leitungsgewalt» genannt) kann nur an Kleriker übertragen werden. So heisst es in can. 274: «Allein Kleriker können Ämter erhalten, zu deren Ausübung Weihegewalt oder kirchliche Leitungsgewalt erforderlich ist». Das Kirchenrecht ist – auch hier – die Umsetzung in rechtliche Sprache dessen, was das II. Vatikanische Konzil in der Dogmatischen Kon-stitution «Lumen Gentium» gelehrt hat: dass Weihevollmacht und Leitungsgewalt zwar theologisch unterschieden, aber nicht mehr getrennt werden können (Nr. 21). Solches war missbräuchlich in vergangenen Jahrhunderten geschehen [LINK], indem durch blosse Ernennung Laien das Bischofsamt oder das Pfarramt übertragen erhielten, ohne die Bischofsweihe bzw. die Priesterweihe empfangen zu haben. Bekanntlich hat dies grossen pastoralen Schaden verursacht.

Es gibt also keine Revolution im Vatikan. Denn sie würde bedeuten, hinter das II. Vatikanische Konzil zurückzufallen, in vorkonziliare Missstände. Bezüglich «vorkonziliar» hat man kürzlich im Apostolischen Schreiben «Desiderio desideravi» gelesen: «Die Problematik ist in erster Linie ekklesiologischer Natur. Ich verstehe nicht, wie man sagen kann, dass man die Gültigkeit des Konzils anerkennt (…) und nicht die Liturgiereform akzeptieren kann, die aus Sacrosanctum Concilium hervorgegan-gen ist und die die Realität der Liturgie in enger Verbindung mit der Vision der Kirche zum Ausdruck bringt, die in Lumen Gentium auf bewundernswerte Weise beschrieben wurde» (Nr. 31). Wer Kohärenz von anderen einfordert, für den wird es Ehrensache sein, selbst kohärent zu sein. Denn es wäre unverständlich, die Gültigkeit des II. Vatikanischen Konzils anzuerkennen und die Kirchenrechtsreform nicht akzeptieren zu wollen, welche die Realität der kirchlichen Leitung in enger Verbindung mit der Vision der Kirche zum Ausdruck bringt, die in «Lumen Gentium» auf bewundernswerte Weise beschrieben wurde.

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