Lasst euch nicht verwirren

Worte der Orientierung von Robert Kardinal Sarah

Quelle
Im Amazonas versenkt
Commonitorium – Vinzenz von Lérins
Heiligenlexikon

Worte der Orientierung von Robert Kardinal Sarah, 1. September 2019

Lasst euch nicht verwirren!

Das Lehramt der katholischen Kirche ist der Garant für die Einheit der Christen.

Wer von aussen einen oberflächlichen Blick auf die Kirche wirft, mag überrascht sein, wenn von einer Kirchenkrise die Rede ist. Aus menschlicher Sicht betrachtet, erlebt das Christentum in manchen Teilen der Welt eine grosse Expansion. Aber ich will von der Kirche nicht wie von einem Unternehmen sprechen, dessen Leistung numerisch abzählbar ist. Die Krise, in welcher die Kirche steckt, ist viel tiefer, sie gleicht einem Krebsgeschwür, das den Leib im Inneren zerfrisst. (…)

Gefahr der Säkularisation

Wenn wir die Kirche nicht aus der Perspektive des Glaubens wahrnehmen, hat das all die bekannten Säkularisations-Symptome zur Folge: Das Gebet wird durch Aktivismus angefressen, echte Nächstenliebe wird zu humanitärer Solidarität, die Liturgie wird entsakralisiert, Theologie verwandelt sich in Politik, selbst der Begriff des Priestertums gerät in eine Krise. Die Säkularisation ist ein furchtbares Phänomen. Wie sollen wir es beschreiben? Man könnte sagen, es bestehe aus einer freiwilligen Blindheit. Christen wollen sich nicht mehr durch das Licht des Glaubens erleuchten lassen. Sie beschliessen, zuerst einen Teil der Wirklichkeit auszublenden, dann einen anderen. Schliesslich ziehen sie vor, ganz im Dunkeln zu leben.

Darin besteht das Übel, welches die Kirche angreift. Wir wollen in der Praxis ebenso wie in der Theorie auf das Licht des Glaubens verzichten. Wir studieren Theologie und machen dabei aus Gott eine schlichte, rationale Hypothese. Wir lesen die Heilige Schrift, als sei sie ein Buch wie jedes andere und nicht von Gott inspiriertes Wort. Wir gestalten die Liturgie als Theater und nicht als geheimnisvolle Erneuerung des Kreuzesopfers. Immer mehr Priester und Gottgeweihte leben ganz und gar weltlich. Bald werden selbst die Christen so leben, „als gäbe es Gott nicht“. (…) Wenn wir von einer Kirchenkrise sprechen, müssen wir klarstellen, dass die Kirche als mystischer Leib Christi auch weiterhin „einig, heilig, katholisch und apostolisch“ ist.

Theologie, Lehramt und Moral bleiben unverändert

Theologie, Lehramt und Moral bleiben unverändert, unumstösslich, unverrückbar. Die Kirche als solche, nämlich als Fortführung und Weiterführung Christi in der Welt, befindet sich nicht in der Krise. Ihr wurde ewiges Leben verheissen. Die Pforten der Unterwelt werden sie niemals überwältigen. Wir wissen und glauben fest, dass es in ihrem Inneren stets genügend Licht für diejenigen geben wird, die aufrichtig Gott suchen.

Die Aufforderung des heiligen Paulus an seinen geistigen Sohn Timotheus ergeht an uns alle: „Ich gebiete dir bei Gott, von dem alles Leben kommt, und bei Christus Jesus, der vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis abgelegt hat und als Zeuge dafür eingetreten ist: (…) Bewahre, was dir anvertraut ist! Halte dich fern von dem gottlosen Geschwätz und den Widersprüchen der fälschlich sogenannten Erkenntnis! Einige, die sich darauf eingelassen haben, sind vom Weg des Glaubens abgekommen.“ (1 Timotheus 6,13.20–21)

Glaube bleibt übernatürliches Geschenk Gottes

Der Glaube bleibt ein übernatürliches Geschenk Gottes. Doch wir, die wir auf den Tod Christi getauft sind, wehren uns dagegen, dass unsere Gedanken, unsere Werke, unsere Freiheit und unser ganzes Wesen in jedem Augenblick erleuchtet und geführt werden durch das Licht des Glaubens, den wir bekennen. Leider herrscht eine tragische Zweiteilung, eine dramatische Inkohärenz zwischen unserem Glaubensbekenntnis und der Umsetzung im Alltag. Georges Bernanos schrieb einmal in einem Brief: „Ihr behauptet, die Steine des Tempels zu sein, welcher Gott ist, Mitbürger der Heiligen, Kinder des Himmlischen Vaters. Aber ihr müsst zugeben, dass dies nicht immer auf den ersten Blick sichtbar ist!“

Die Kirchenkrise ist mittlerweile in eine neue Phase eingetreten: in eine Krise des Lehramts. Zwar kann das wahre Lehramt, im Sinne seiner übernatürlichen Funktion als mystischer Leib Christi, der auf unsichtbare Weise vom Heiligen Geist bewahrt und geführt wird, nicht in eine Krise geraten. Stimme und Wirken des Heiligen Geistes bleiben sich gleich, und die Wahrheit, zu welcher Er uns führt, ist fest und unerschütterlich. Jesus sagt uns im Johannesevangelium: „Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in der ganzen Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird reden, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird. Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden. Alles, was der Vater hat, ist mein; darum habe ich gesagt: Er nimmt von dem, was mein ist, und wird es euch verkünden.“ (Johannes 16,13–15)

Missklang in den Lehren der Hirten

Heute herrscht allerdings ein regelrechter Missklang in den Lehren der Hirten, der Bischöfe wie der Priester. Sie widersprechen sich offenkundig. Jeder stellt seine eigene Meinung als Gewissheit dar. Daraus ergibt sich Verwirrung, Mehrdeutigkeit und Glaubensabfall. Viele bekennende Christen wurden mit der gewaltigen Desorientierung infiziert, mit grossem Chaos und zerstörerischen Ungewissheiten. Der Philosoph Robert Spaemann brachte diese Verwirrung mit einem Zitat aus dem ersten Brief des heiligen Apostels Paulus an die Korinther eindeutig auf den Punkt: „Und wenn die Trompete unklare Töne hervorbringt, wer wird dann zu den Waffen greifen?“ (1 Korinther 14,8)

Wir wissen, dass das Lehramt der Garant für die Einheit des Glaubens ist. Unsere Fähigkeit, die Lehre der Kirche mit Gehorsam und Demut in einem Geist der Jüngerschaft aufzunehmen, ist der wahre Ausdruck unserer Kindschaft zur Kirche. Leider vermischen einige Hirten die göttliche Wahrheit, die sie eigentlich mit höchster Vorsicht weitergeben sollten, bedenkenlos mit gängigen Meinungen, mit gerade vorherrschenden Ideologien. Wie sollen wir da unterscheiden? Wie einen sicheren Weg durch diese Wirrungen finden?

Commonitorium des heiligen Vinzenz von Lérins wirft klares Licht

Der heilige Vinzenz von Lérins wirft in seinem Werk Commonitorium ein klares Licht auf die Frage nach Fortschritt oder Veränderung im Glauben: „Wird es also in der Kirche Christi keinen Fortschritt der Religion geben? Gewiss soll es einen geben, sogar einen recht grossen. Denn wer wäre gegen die Menschen so neidisch und gegen Gott so feindselig, dass er das zu verhindern suchte? Allein es muss in Wahrheit ein Fortschritt im Glauben sein, keine Veränderung. Zum Fortschritt gehört nämlich, dass etwas in sich selbst zunehme, zur Veränderung aber, dass etwas aus dem einen sich in ein anderes verwandle. Wachsen also und kräftig zunehmen soll (sowohl bei den Einzelnen als bei allen, sowohl bei dem einen Menschen als in der ganzen Kirche, nach den Stufen des Alters und der Zeiten) die Einsicht, das Wissen und die Weisheit – aber lediglich in der eigenen Art, nämlich in derselben Lehre, in demselben Sinne und in derselben Bedeutung. […] Unsere Vorfahren haben vor Zeiten auf dem Saatfelde der Kirche die Samen des Glaubensweizens ausgestreut. Es wäre nun sehr unrecht und unpassend, wenn wir, ihre Nachkommen, statt der echten Wahrheit des Getreides den untergeschobenen Irrtum des Unkrautes einsammelten. Im Gegenteil, es wäre das Richtige und Entsprechende, dass wir, da Anfang und Ende sich nicht widersprechen dürfen, von dem Wachstum der Weizenunterweisung auch die Frucht des Weizendogmas einernten, so dass, wenn sich etwas von jenem uranfänglichen Samen im Laufe der Zeit entwickelt, dasselbe jetzt grünt und zur Reife gelangt, an der Eigentümlichkeit des Keimes sich aber nichts ändert.“

„Ich flehe die Bischöfe und Priester an, den Glauben der Gläubigen zu hüten!“

Ich flehe die Bischöfe und Priester an, den Glauben der Gläubigen zu hüten! Vertrauen wir nicht ein paar Kommentaren, die angebliche Experten auf die Schnelle im Internet gepostet haben. Das Lehramt aufzunehmen und es gemäss der Hermeneutik der Kontinuität zu deuten, erfordert Zeit. Lassen wir uns nicht den Rhythmus der Medien aufzwingen, die so schnell über Veränderung, Umschwung oder Revolution berichten. Das Zeitalter der Kirche dauert lange. Es ist ein Zeitalter, in dessen Verlauf um die Wahrheit gerungen wurde, ein gewaltiger Zeitraum der inneren Sammlung, welcher reiche Früchte trägt, wenn man das Erkannte ungestört im Boden des Glaubens keimen lässt.

„Entsprechend der Natur des menschlichen Geistes ist Zeit notwendig für das volle Verständnis und die Vollendung grosser Ideen“, schrieb der selige John Henry Kardinal Newman in der Einleitung seines Werkes Über die Entwicklung der Glaubenslehre. „Und die höchsten und staunenswerten Wahrheiten können, wiewohl sie in der Welt ein für allemal durch inspirierte Lehrer mitgeteilt wurden, nicht mit einem Mal von den Empfängern verstanden werden. Da sie vielmehr von nichtinspirierten Geistern durch menschliche Media empfangen und weitergegeben wurden, erfordern sie nur umso längere Zeit und tieferes Nachdenken zu ihrer vollen Erhellung.“

An dem feshalten, was sicher und stabil ist

Wenn über einem Schiff der Sturm wütet, ist es wichtig, sich an dem festzuhalten, was sicher und stabil ist. Es ist unklug, den neuen Trends nachzulaufen, die sich sehr wahrscheinlich verflüchtigen, bevor wir sie erreichen. Wir müssen ohne Abweichungen den Kurs behalten und warten, bis der Horizont sichtbar wird. Ich möchte die Christen ermutigen: Lasst Euch nicht verwirren! Ihr haltet in Euren Händen den Schatz des katholischen Glaubens. Er wurde Euch vermacht durch viele Jahrhunderte der geistigen Durchdringung, in der ununterbrochenen Lehre der Päpste. Dieser überlieferte Glaube ist die beste Grundlage für Euer Glaubensleben.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags: Kardinal Robert Sarah und Nicolas Diat: Herr, bleibe bei uns – Aus dem Französischen von Hedwig Hageböck, fe-medienverlag, Kisslegg, ab 6. September im Handel erhältlich, 440 Seiten, gebunden,

ISBN 978-3863572426, EUR 19,80

Dieser Artikel ist der Tagespost vom 29. August entnommen.

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