Kolumbiens Ringen um Frieden
Kolumbiens Ringen um Frieden: “Wie David gegen Goliath”
Quelle
Fidesdienst – Kolumbien
Kirche in Not – Kolumbien
Kolumbiens Ringen um Frieden: “Wie David gegen Goliath”
Angesichts erneuter Gewalt in Kolumbien hat der Papst am Wochenende zu Frieden für das lateinamerikanische Land aufgerufen. Geht es mit dem Friedensprozess in Kolumbien, das Papst Franziskus 2017 besuchte, bergab? Mit Pessimismus sei jedenfalls nicht geholfen, betont Adveniat-Expertin Monika Lauer Perez – so viele Menschen kämpften für das Abkommen, man müsse auch heute alles tun, um seine Umsetzung zu unterstützen.
Anne Preckel – Vatikanstadt
Papst Franziskus hat am Samstag die Gewalt in Kolumbiens Pazifikregion verurteilt und allen Betroffenen dort seine Nähe ausgedrückt. Zuvor hatten verschiedene Bischöfe der Gegend bereits zu einem Waffenstillstand in Chocó und Antioquia aufgerufen.
Was vor Ort vor sich geht – darüber hat Radio Vatikan mit der Monika Lauer Perez gesprochen, die in diesen Tagen in Kolumbien unterwegs war. Lauer Perez ist Leiterin des Referats Kolumbien/Paraguay beim Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat.
Im Interview mit Radio Vatikan erzählt sie über verschiedene Gewaltherde und Akteure im Land, über eine Politik, die ihren Pflichten nicht nachkommt, vielfältige Macht- und Wirtschaftsinteressen und ein Volk, dass sich Rechte und Frieden hart erkämpfen muss, Schrittchen für Schrittchen, wie „David gegen Goliath“, wie Lauer Perez formuliert.
Gewaltherde und viele Akteure
Radio Vatikan: In Kolumbien hatten bereits Bischöfe zu einem Waffenstillstand in Chocó und Antioquia aufgerufen, wo vor allem indigene und afrokolumbianische Gemeinden unter Übergriffen leiden. Was passiert dort gerade und was sind die Hintergründe?
Lauer-Perez (Adveniat): Das sind Regionen, die auch traditionell immer sehr von Gewalt betroffen waren, sie sind nicht neuerdings, sondern wieder von Gewalt betroffen, kann man sagen, nachdem kurz nach Abschluss des Friedensabkommens 2016 etwa für zwei Jahre etwas Ruhe eingekehrt war. Der Staat hat dann aber versäumt, dort und auch in vielen anderen Regionen, Präsenz zu zeigen und Institutionen aufzubauen und mit der Umsetzung des Abkommens zu beginnen. Das wiederum hat anderen bewaffneten, neuen bewaffneten Gruppierungen zum Teil die Chance geben, sich zusammenzurotten und mit alteingesessenen bewaffneten Akteuren um die Vorherrschaft im Territorium zu kämpfen. Also die Pazifikküste, Chocó zum Beispiel, ist eine traditionelle Route des Drogenhandels und daher ein ungeheuer wertvolles Gebiet als Territorium, weil es eben den Zugang zum Pazifik ermöglicht. Das ist so unübersichtlich, mit riesen Mangrovenwäldern, tausenden von kleinen Flüssen. Also ideal, wenn man jetzt dem Staat in Gestalt des Militärs entkommen will und die Drogen ausser Landes bringen will. Das Territorium ist also strategisch sehr wichtig und darum heiss umkämpft. Und überall im Land, also z.B. an der Grenze zu Ecuador, an der Grenze zu Venezuela, überall dort, wo es strategisch wichtig ist, ist im Moment die Gewalt sehr auf dem Vormarsch.
Radio Vatikan: Mit welchen bewaffneten Akteuren haben wir es dann im Land zu tun? Da sind ja zum einen die ELN Guerilla, die noch nicht befriedet sind, dann haben Sie die Drogenmafia erwähnt…
Lauer-Perez (Adveniat): Also die ELN als zweite grosse Guerillagruppe nach der FARC, mit der das Abkommen geschlossen worden ist, ist die ganze Zeit aktiv gewesen. Und unter anderem die Kirche, aber auch andere soziale Organisation und so weiter haben immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, auch mit der ELN Friedensgespräche zu beginnen. Das wurde dann ja auch versucht, ist aber erfolglos abgebrochen worden nach dem Attentat in Bogota auf einer Polizeischule (im Januar 2019, Anm.), wo es eine Menge Tote gab. Und danach hat die Regierung diese Gespräche abgebrochen. Also die ELN ist in diesen Gegenden aktiv, dann gibt es Dissidenten der FARC, die dadurch, dass die Umsetzung des Friedensabkommen wirklich sehr sehr schleppend verläuft, für sich keine andere Option gesehen haben, als wieder zu den Waffen zu greifen, also auch die sind mit dort. Dann gibt es paramilitärische Gruppen, den ‘Clan del Golfo’, dann gibt es die mexikanischen Drogenkartelle, es gibt jede Menge Delinquenten, bewaffnete Akteure, die dort im Territorium aktiv sind…
Unsägliche Lage für die Zivilbevölkerung
“Für die Bevölkerung ist es heute viel gefährlicher als früher…”
Radio Vatikan: Mehr als früher?
Lauer-Perez (Adveniat): Wenn man so will, ist es für die Bevölkerung heute viel, viel gefährlicher als früher. Denn früher wusste man, mit wem man zu tun hatte, heute weiss keiner, aus welcher Ecke die Gefahr droht! Es ist wirklich für die Bevölkerung eine unsagbare Situation. Ich habe vor ein paar Tagen, als die Bischöfe mit der UNO in Chocó auf einer Mission waren, um zu sehen, wie die Situation ist, ein Video bekommen von einem indigenen Jungen, der auf eine Mine getreten war und dem ein Bein abgerissen wurde. Also es werden wieder Minen ausgelegt, die Bevölkerung von Dörfern kann nicht auf ihre Felder, um sich etwas zu essen zu holen, weil eben die Minen ihren Bewegungsradius einschränken. Es werden Kinder und Jugendliche rekrutiert von diesen Gruppen, also das ganze Panorama ist schlichtweg zum Verzweifeln… So sind Aufrufe zum Frieden (wie der des Papstes und der Bischöfe, Anm.) wirklich sehr wertvoll, auch wenn man nicht davon ausgehen kann, dass das sofort irgendeine Veränderung nach sich zieht. Das Wichtige ist nur, dass immer mehr Stimmen laut werden, die also den Staat an die Pflicht erinnern, das Leben und die Sicherheit aller seiner Bewohner zu garantieren.
“Umsetzung des Abkommens liegt etwa bei vier Prozent. Was nach vier Jahren natürlich gar nichts ist.”
Radio Vatikan: Sie sagten, das Friedensabkommen von 2016 mit der FARC, was ja auch ein ganzes Massnahmenpaket vorsah, wird nur schleppend bis gar nicht umgesetzt. Was wurde denn bereits umgesetzt, und wo gibt es förderungswürdige Ansätze, die man tatsächlich jetzt auch umsetzen müsste?
Lauer-Perez (Adveniat): Also was ganz, ganz wichtig ist hier im Land ist die Agrarreform, und ich eine gerechtere Verteilung des Landes. Es ist immer noch so, dass einige wenige sehr viel Land besitzen und die grosse Menge der Bevölkerung auf dem Land eben kaum etwas. Da ist so gut wie nichts passiert, also die die Umsetzung liegt, das sagen die letzten Zahlen, etwa bei vier Prozent. Was nach vier Jahren natürlich gar nichts ist. Dann Alternativen zum Koka-Anbau – auch da ist wenig passiert. Es gibt Gegenden, da ist dann das Militär gekommen und die haben sozusagen mit Gewalt dann und per Hand die Kokapflanzen ausgerupft, aber dann standen hinterher die Kleinbauern da ohne etwas. Also, sie hatten kein Koka mehr, aber sie hatten eben auch keine Option. Da kommt es dann auch immer wieder zu Gewalt zwischen dem Militär und den Kleinbauern, die sich einfach dagegen wehren, dass ihre Lebensgrundlage zerstört wird.
Dann gibt es von Seiten der Vereinigten Staaten auch jetzt mit der neuen Regierung Biden den Druck, wieder Glyphosat abzuwerfen, um die Koka-Anpflanzungen zu zerstören. Nur diese Glyphosat-Abwürfe sind im Prinzip, wie den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, weil alles vergiftet wird, also die Koca-Pflanzen wachsen nicht mehr, aber auch alles andere, was man dann dort anbauen würde, wäre vergiftet, um gar nicht zu reden von den Schäden und Krankheiten , die das dann bei den Menschen auslöst. Also im Grunde genommen ist das, was man hätte umsetzen müssen nach Abschluss dieses Friedensabkommen, sträflich vernachlässigt worden. Jetzt kommt noch die Pandemie dazu, die so einen Staat wie Kolumbien, der sowieso nicht über unendlich viel Geld verfügt, auch noch finanziell fordert. Viele Menschen, die sehr arm waren, aber ihren Lebensunterhalt immer noch verdienen konnten mit mit Dingen, die sie auf der Strasse verkaufen konnten und so weiter, alles das ist in in den Zeiten des harten Lockdowns hier zu Grunde gegangen. Und da gab es dann also wirklich ganz schreckliche Szenen, dass die Leute hier auch Hunger hatten und nichts mehr zu essen. Also, da gibt es wirklich gravierende Schwierigkeiten, ich würde sagen, fehlender Wille zur Umsetzung. Denn diese Regierung steht nicht hinter dem Abkommen, aber auch ganz pragmatische Dinge wie fehlende Mittel, um das wirklich umzusetzen.
Viele Menschen setzen auf das Abkommen von 2016
Radio Vatikan: Wer spricht in Kolumbien heute über das Friedensabkommen, wer glaubt daran? Sind dessen Massnahmen angesichts der Corona-Krise möglicherweise ins Hintertreffen geraten?
Lauer-Perez (Adveniat): Sehr, sehr viele Menschen! Und das ist etwas, was mir die Hoffnung gibt, das es irgendwie doch noch mal eine Wendung zum Besseren geben kann. Denn die Zivilgesellschaft, viele Nichtregierungsorganisationen, viele soziale Aktivisten, die Kirche – es gibt sehr, sehr viele, die sich dafür einsetzen, dass das Abkommen umgesetzt wird. Also es gibt ja dieses schöne Wort alternativlos, und ich glaube, dass die Umsetzung der einzelnen Punkte aus diesem Abkommen wirklich alternativlos ist, denn die Punkte des Abkommens greifen die zugrundeliegenden Konflikte in Kolumbien auf. Ein Waffenstillstand, mit welcher Gruppe auch immer, wird dieses Problem nicht lösen. Der internationale Drogenhandel, da gibt’s richtige Börsen, an denen die Drogen gehandelt werden, der ist natürlich sehr darauf erpicht, dass der Koka-Anbau in Kolumbien nicht abnimmt, sondern eher zunimmt, und durch die Armut ist das für viele auch wirklich die einzige Möglichkeit. Und man kann auch sagen, bei einem Kleinbauern, der keine andere Möglichkeit hat zu überleben, ist auch das Unrechtsbewusstsein eigentlich nicht da.
Radio Vatikan: Also es braucht eine Stärkung der legalen Wirtschaft, soziale Reformen – das haben auch Demonstranten schon im vergangenen Herbst gefordert, als es Zusammenstösse gab in Bogota. Ist der Rückhalt der Regierung geschwunden oder sehe ich das falsch?
Lauer-Perez (Adveniat): Nein, der ist aus unterschiedlichen Gründen historisch niedrig. Also diese Regierung hat nicht viel Rückhalt im Moment in der Bevölkerung, und das, was Sie gerade angesprochen haben, diese Demonstrationen in Bogota, die waren auch etwas Neues. Also, dass die Stadtbevölkerung sozusagen sich um die sozialen Belange auf dem Land auch gekümmert hat, dass Jugendliche, die früher gar nicht so prominent aktiv waren, jetzt tatsächlich auch anfangen, sich um die Hintergründe dieses bewaffneten Konfliktes zu kümmern, das ist wirklich auch etwas Neues. Ich glaube hier in Kolumbien ist in grossen Teil der Bevölkerung die Wichtigkeit der Umsetzung dieses Abkommen sehr, sehr präsent, ich glaube, dass das im Ausland häufig natürlich nicht so wahrgenommen wird. Da sagt man, okay, die haben ein Friedensabkommen unterschrieben, aber Frieden ist nicht in Sicht – da weiss man aber nicht um diese Hintergründe. Also, vielleicht ist auch da der Name schon irreführend, denn es hätte ein Friedensabkommen werden können, hätte man diese Punkt aus dem Abkommen umgesetzt – hat man aber nicht getan. Und deswegen ist es natürlich vermessen zu sagen, das Abkommen war das Papier nicht wert, auf das es geschrieben wurde. Die Punkte sind nach wie vor die relevanten, man muss sie nur umsetzen. Und hier ist vor allem die Regierung gefragt.
Rückhalt der Regierung historisch niedrig
Radio Vatikan: Warum werden diese Hintergründe jetzt auch vielleicht bewusster? Welche Rolle spielt in diesem Kontext auch die Kirche?
Lauer-Perez (Adveniat): Also, die Kirche ist natürlich, wie z.B. in Choco, in Catatumbo an der Grenze zu Venezuela usw. ein sehr wichtiger Akteur, denn sie ist an der Basis, sie kann die Menschen zusammenrufen, sie hat Glaubwürdigkeit in diesen Gebieten. Und ich glaube auch, dass das Vertrauen da ist in diesen Regionen, dass man sagt, also die Kirche setzt sich zu unserem Wohl ein. Aber die Kirche ist eben nur ein Akteur. In Universitäten wird jetzt sehr viel dazu gearbeitet, wie gesagt auch in den Städten ist das Thema jetzt prominent, weil durch die schlechte Situation auf dem Land natürlich auch sehr viel Landflucht besteht und sich die Elendsviertel der Städte dadurch vergrössern. Aber man muss auch sagen, es gibt immer noch die Polarisierung im Land, das heisst diejenigen, die wirklich strikt gegen dieses Abkommen sind. Auch die haben immer noch sehr viel politische Kraft, da ist der Ex Präsident Uribe, jetzt zum Teil auch mit seinen Söhnen, die also versuchen, z.b. die Arbeit der Wahrheitskommission oder der Sonderjustiz für den Frieden zu diskreditieren und zu sagen, guck mal, dahin geht unser Geld statt es für die Belange der Armen einzusetzen. Es ist eine ganz perfide Art und Weise, Menschen dazu zu bringen, dieses Friedensabkommen als schädlich für das Land anzusehen. Und die Menschen, die sich politisch nicht sehr informieren oder nicht sehr engagieren, die nicht hinterfragen, die sind dann eine leichte Beute. Und natürlich die Eliten, die überhaupt kein Interesse daran haben, dass dieses Abkommen umgesetzt wird, das ist vielleicht der stärkste Faktor.
Radio Vatikan: Und wie sieht es aus mit der Opposition, mit Bürgerrechtlern, Kirchenvertreter melden sich immer wieder zu Wort – gibt’s da keinen Schulterschluss?
Lauer-Perez (Adveniat): Im Moment ist der Schulterschluss noch, ich würde sagen sehr schwach, das hat auch damit zu tun, dass man fürchtet, dass alle sage ich mal, in einen Topf geworfen werden. Und dann wird zum Beispiel diese Gegenpropaganda in dem Sinne gemacht, dass man sagt, wollt ihr etwa ein Land mit Zuständen wie in Venezuela. Weil das sind alles Marxisten, Lenin-Anhänger und so weiter, die hier ein Regime wie das von Nicolas Maduro in Venezuela etablieren wollen. Und deshalb wäre der Schulterschluss da auf der einen Seite gut, auf der anderen Seite aber auch eine grosse Gefahr – eben dass man dadurch eine vermehrte Opposition gegen diese Versuche hat, etwas von dem Abkommen umzusetzen.
Die Menschen kämpfen um Frieden, ohne Waffen
“Es ist ein bisschen wie der Kampf von David gegen Goliath, aber sie kämpfen, sie kämpfen um jeden einzelnen Schritt in Richtung Frieden…”
Radio Vatikan: Sehen Sie noch Chancen das Friedensabkommen diesen Prozess irgendwie zu retten, was ist so ihr ja ihre Beobachtung auch so ihr Gefühl?
Lauer-Perez (Adveniat): Also, ich muss mal so sagen, wenn ich in Deutschland am Schreibtisch sitze, dann überkommt mich manchmal die Verzweiflung, und ich denke, das ist nicht mehr zu retten. Wenn ich hier in Kolumbien bin und die Anstrengungen sehe, die von vielen gesellschaftlichen Gruppen unternommen werden, das Friedensabkommen doch noch zu retten, dann sage ich, wir haben nicht das Recht, diesen Prozess totzureden. Sondern wir sollten alles tun, um es zu ermöglichen, dass es doch noch geschafft werden kann. Dass das ein Weg ist, der in zehn oder zwanzig Jahren mal Früchte zeigt, dessen muss man sich auch bewusst sein. Also es wird nicht so sein, dass morgen in Kolumbien Frieden herrscht – die ökonomischen Interessen sind gigantisch, geopolitisch gibt es viele Interessen von Delinquenten, vom internationalen Drogenhandel, die multinationalen Konzerne, die hier hinkommen, um seltene Erden oder oder Metalle zu fördern, die Grossprojekte, die Agroindustrie, also ist es unglaublich komplex, was hier an Interessen zusammen kommt, die auch versuchen, irgendwie die Umsetzung des Friedensabkommen zu verhindern. Und es ist ein bisschen wie der Kampf von David gegen Goliath, aber sie kämpfen, sie kämpfen, also nicht mit Waffen, aber sie kämpfen um jeden einzelnen Schritt hier in Richtung eines Friedensabkommen und für mich ist das wirklich was, was man unterstützen muss!
Die Fragen stellte Anne Preckel.
vatican news – pr, 11. April 2021
Themen
Kolumbien
Frieden
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