Wir sterben wie wir leben UPDATE

Nach dem Fall einer demenzkranken Frau in den Niederlanden

Warum die Euthanasie in Europa auf dem Vormarsch ist und was sich letztlich dahinter verbirgt.

Die Tagespost, 11.11.2011, von Stefan Rehder

Quelle
Humanae.vitae: Verschiedene Beiträge zum Thema (1710)

Bilder des verstorbenen Jan Andersen: Im vergangenen Jahre zeigte das Historische Museum in Hannover die Ausstellung “Noch mal leben vor dem Tod”. Dabei wurden 24 Menschen porträtiert, die ihre letzte Zeit überwiegend im Hospiz verbrachten. Die Ausstellung zeigte jeweils zwei grossformatige Schwarz-Weiss Fotografien von einem Menschen. Das eine zeigte einen lebensfrohen oder nachdenklichen, einen intensiv lebenden oder von Schmerz gezeichneten Menschen. Das andere bildete ihn nach seinem Tod ab.

Gesund sterben Menschen nur in kranken Gesellschaften

So wie in Aldous Huxleys “Schöne neue Welt”. Die Erzählung spielt in einer fernen Zukunft, die der Autor um das Jahr 2540 ansiedelt. In ihr scheiden die Menschen aus dem Leben, bevor sie ernsthaft erkranken. In staatlichen Reproduktionsfabriken, in fünf Modellreihen (Alpha, Beta, Gamma, Delta und Epsilon) gemäss dem Bedarf der Wirtschaft erzeugt, werden die Menschen von klein auf einer umfangreichen “Normung” unterzogen. Früh sexualisiert und auf Konsum geeicht, wird ihnen bei Besuchen der “Moribundenklinik” auch die Bereitschaft zum vorzeitigen Ableben anerzogen. Als bei einem dieser Besuche Schüler zwischen all den fernsehenden und Drogen konsumierenden Sterbenden plötzlich eine Frau entdecken, die viele Jahre in einem Reservat unter “Wilden” lebte, sind die Kinder völlig schockiert: “Noch nie”, heisst es, “hatten sie ein Gesicht gesehen, das gleich diesem nicht mehr jugendlich und glatthäutig war, noch nie einen Körper, der nicht mehr schlank und elastisch war. Alle diese sterbenden Sechzigerinnen sahen aus wie Sechzehnjährige.”

Zugegeben, so weit wie in Huxleys “schöner neuen Welt” sind wir – trotz explodierender Botox-Behandlungen und der Subventionierung künstlicher Befruchtungen mit Steuergeldern – noch nicht. Ein Grund zur Beruhigung ist das gleichwohl nicht. Schliesslich schreiben wir erst das Jahr 2011. Bis zum Jahr 2540 haben wir also noch mehr als ein ganzes halbes Jahrhundert Zeit. Zeit, die es zu nutzen gilt. Denn tatsächlich nähert sich die Zukunft, die sich Huxley 1932 ausmalte, mit riesigen Schritten. Ein Beispiel: In Belgien, das mit dem im September 2002 in Kraft getretenen “Euthanasiegesetz” die “Tötung auf Verlangen” legalisierte, haben Ärzte der Universitätsklinik Antwerpen – wie die Journalistin Martina Keller kürzlich für die Wochenzeitung “Die Zeit” aufdeckte – bereits im Jahr 2005 eine 43-jährige Frau auf deren Wunsch im Operationssaal getötet und ihr anschliessend Nieren, Leber und Bauchspeicheldrüse entnommen. In belgischen Tageszeitungen wird die “Weltpremiere” seitdem gefeiert. Vom Tod der Patientin hätten – weil ihre Leber geteilt werden konnte – fünf Menschen profitiert, heisst es lobend.

Dabei war die Frau, die einen Schlaganfall erlitten hatte, erst ein halbes Jahr zuvor aus der Rehabilitationsklinik entlassen worden; körperlich stabil, aber pflegebedürftig. Beim Gehen und Treppensteigen war sie ebenso wie bei der Körperpflege oder der Zubereitung von Mahlzeiten auf fremde Hilfe angewiesen. Weil bei ihrem Schlaganfall auch das Sehzentrum beschädigt wurde, konnte sie weder lesen noch fernsehen. “Nur” Musik hören war möglich. “Das ist kein Leben, das ist die Hölle”, soll sie zwei Tage vor ihrem Tod gesagt haben. Im März 2008 verlangte der bekannte, an Alzheimer erkrankte belgische Schriftsteller Hugo Claus danach, von einem Arzt getötet zu werden. Seinem Wunsch wurde, nachdem er in den Medien von einer Welle der Sympathie begleitet worden war, schliesslich entsprochen. Dabei sieht selbst das belgische Gesetz, das von Fachleuten als das liberalste Euthanasiegesetz der Welt bezeichnet wird, einen solchen Fall gar nicht vor. Dem Buchstaben des Gesetzes folgend dürften in Belgien nur mündige Bürger, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, einen Arzt bitten, sie zu töten, wenn sie entweder unheilbar krank sind oder aber unter anhaltenden psychischen Störungen leiden. Ausdrücklich ausgenommen wurden damals geistig Behinderte und Demenzpatienten.

Allerdings plädiert der einflussreiche Brüsseler Mediziner Wim Distelmans, Vorsitzender des aus Ärzten, Juristen und anderen Fachleuten zusammengesetzten belgischen Kontrollgremiums, schon seit Jahren dafür, auch Jugendlichen und Alzheimer-Patienten die Tötung auf Verlangen zu ermöglichen. Ausserdem fordert Distelmans, Ärzte, die keine Patienten töten wollen, zu zwingen, diese an Kollegen zu überweisen, welche die Euthanasie befürworten. Auch davon steht im Gesetz bis heute nichts. Zwar wurde das Gesetz 2005 weiter liberalisiert und die “Tötung auf Verlangen”, die ursprünglich faktisch nur Krankenhausärzten vorbehalten war, auch den Hausärzten ermöglicht und die Apotheken gezwungen, für diese sogenannte Euthanasie-Kits vorzuhalten, doch an der Regelung, dass kein Arzt gezwungen werden könne, an einer Euthanasie mitzuwirken, hielt der Gesetzgeber auch damals fest.

Doch Papier ist bekanntlich geduldig. Auch in den Niederlanden. Dort haben jetzt alle fünf regionalen Aufsichtskommissionen erstmals die Tötung einer 64-jährigen schwer dementen Frau gebilligt (DT vom 10. November). Bis dato galt in den Niederlanden, die als erstes Land in Europa im April 2002 die “Tötung auf Verlangen” straffrei gestellt hatten, dass nur solche Demenzkranke einen Arzt bitten können sie zu töten, die in der Lage sind, diesen Willen noch klar und wiederholt zu äussern. Die 64-Jährige hatte zwar früher einmal schriftlich erklärt, sie zöge die Euthanasie einer Unterbringung in einem Pflegeheim vor. Zum Zeitpunkt ihrer Tötung durch den Arzt war sie jedoch gar nicht mehr in der Lage, eine Bitte um “Tötung auf Verlangen” zu formulieren. Die 1973 gegründete “Niederländische Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende” (NVVE), die jahrelang für die Abschaffung des Tötungsverbots gekämpft hatte und massgeblichen Anteil an der Einführung der “Tötung auf Verlangen” in den Niederlanden hat, bezeichnete die Billigung des im Gesetz nicht vorgesehenen Falls umgehend als “wichtige Etappe” und eine “Botschaft” an Ärzte, die schwer demenzkranken Patienten Sterbehilfe verweigerten. Laut Gesetz dürfen Ärzte in den Niederlanden nur Patienten töten, “deren Zustand aussichtslos” und deren “Leiden unerträglich” sind und die Antrag auf “Tötung auf Verlangen”, so die Formulierung, “freiwillig und nach reiflicher Überlegung gestellt” haben.

Dessen ungeachtet töten in den Niederlanden Ärzte jedes Jahr Menschen, die nie darum gebeten haben. Drei von der Regierung in Auftrag gegebene Studien, bei denen den Ärzten die Wahrung der vollständigen Anonymität zugesichert worden war, beziffern den Anteil der “Tötung ohne Verlangen” an allen Patiententötungen auf jeweils rund 25 Prozent. Nach ihren Motiven für ein derartiges Tun befragt, gaben die Ärzte Gründe wie “die Nächsten konnten es nicht mehr ertragen” (38 Prozent) oder auch “geringe Lebensqualität” (36 Prozent) zu Protokoll.

All das zeigt: Von dem in den siebziger Jahren behaupteten Ziel, nämlich Menschen einen qualvollen Tod zu ersparen, denen Ärzte trotz aller Fortschritte auf dem Gebiet der Schmerztherapie nicht helfen konnten, hat sich die Praxis in den Ländern, die zu Beginn des dritten Jahrtausends die Euthanasie in Europa eingeführt haben, in nicht einmal einer Dekade inzwischen meilenweit entfernt.

Längst töten Ärzte Menschen, die weder unerträgliche Schmerzen leiden, noch unheilbar erkrankt sind. Und sogar solche, die nie darum gebeten haben. Fragt man nach den Ursachen für diese Entwicklung, so trifft man gleich auf ein ganzes Bündel. Aus ihnen allen spricht jedoch eine erstaunliche Geringschätzung des Lebens.

Da wäre zunächst die weitreichende Verdrängung und Tabuisierung von Leid, Tod und Sterben, die sich in modernen Gesellschaften beobachten lässt, und die – immer noch unübertroffen – in dem epochalen Werk des französischen Mediävisten Philippe Ariés (1914–1984) “L‘homme devant la mort” (zu deutsch: Die Geschichte des Todes) glänzend beschrieben wird. Aries zufolge hat unser Umgang mit dem Tod im vergangenen Jahrhundert gravierende Zäsuren erfahren. Sei dem Tod früher mit einem öffentlichen Zeremoniell begegnet worden, so sei er in modernen Gesellschaften Zug um Zug zu einer Privatsache der engsten Verwandten geworden. Während die gemeinsame Trauer um den Verstorbenen und das Sich-Trost-Spenden in früheren Zeiten wie selbstverständlich im öffentlichen Raum stattgefunden habe, werde heute oft darum gebeten, von Beileidsbekundungen abzusehen.

Was auch immer die Motive dafür sein mögen, der Versuch, die eigene Trauer zu verdrängen, die Unfähigkeit, sie mit anderen zu teilen oder aber die Furcht, andere damit zu belästigen; die Botschaft, die damit – ebenso unbeabsichtigt wie unbedacht – in die Welt ausgesandt wird, ist immer die gleiche. Sie lautet: Im Grunde ist es der Verstorbene nicht wert, dass um ihn getrauert wird. Auf Dauer muss dies zu einer schleichenden Geringschätzung des Lebens an sich, wie auch zu einer Selbstentwertung des eigenen Lebens führen. Hinzu kommt, dass tatsächlich immer weniger Menschen zu Hause sterben. Beispiel Deutschland: Noch Anfang des 20. Jahrhunderts starben rund 80 Prozent der Deutschen zu Hause. Ging es ans Sterben, versammelte sich oft die ganze Familie im Zimmer des Todkranken. Man nahm voneinander Abschied, begleitete den Sterbenden aus diesem Leben, betete für das Heil seiner Seele in der kommenden Welt und stand ihm – so gut man eben konnte – in seinem letzten Ringen bei. Heute, rund einhundert Jahre später, sind es gerade noch 20 Prozent, die derart privilegiert sterben. Und obgleich auch heute noch die allermeisten Menschen zu Hause sterben möchten, ereilt der Tod heute rund 80 Prozent der Deutschen in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Dort erhalten sie zwar meist eine medizinische Versorgung, die alles in den Schatten stellt, was früheren Generationen zuteil wurde – an darüber hinausreichender Zuwendung mangelt es jedoch hingegen nicht selten. Auch hier ist die ausgesandte Botschaft ähnlich und ihre Wirkung dieselbe. Sie lautet letztlich: Mehr bist “Du” nicht wert. Erschwerend kommt hinzu, dass sich im Zuge der Entchristianisierung ehemals christlicher Gesellschaften heute immer weniger Menschen um ein “gutes Leben” bemühen, und stattdessen viel Energie darauf verschwenden, es sich “gut gehen” zu lassen. Was sich hier und da durchaus in Einklang mit der Freude über “die Gaben Gottes” oder auch – gänzlich säkular gesprochen – mit der Freude über das “Leben als solches” in Einklang bringen lässt, ist jedoch längst zu etwas geworden, mit dem sich immer mehr Menschen für ihr “reales Leben” zu “entschädigen” suchen. Wo aber das eigene Leben statt als “Geschenk” als “Schaden” begriffen wird, da muss der eigentlich absurde Gedanke an den Tod als Therapie eines als strukturell defizitär empfundenen Lebens zwangsläufig an Macht gewinnen.

Moderne Gesellschaften, welche die auf dem Vormarsch befindliche Euthanasie stoppen wollen, müssen daher nicht nur die “ars moriendi”, die in Vergessenheit geratene “Kunst des Sterbens” wieder entdecken, sondern auch – und womöglich noch mehr – die “ars vivendi”, die “Kunst des Lebens”, neu erlernen. Nicht ohne Grund waren die Weisen vorausgegangener Zeiten fest davon überzeugt, der Mensch sterbe so, wie er gelebt habe.

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