EXKLUSIV: Am Scheideweg

EXKLUSIV: Am Scheideweg. Erzbischof Gänswein über das Alpha und Omega der Menschenwürde

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Karlsruhe, 5. Juni 2019 (CNA Deutsch)

Auch die Bundesrepublik Deutschland braucht als Staat und Gesellschaft die katholische Antwort auf die Frage nach der Würde des Menschen: Das hat Erzbischof Georg Gänswein postuliert.

Der Präfekt des Päpstlichen Hauses und Privatsekretär von Papst emeritus Benedikt XVI. rief beim gestrigen Vortrag zum Jahresempfang des Foyers “Kirche und Recht” die Christen auf, “wieder stärker und mutiger Position zu beziehen”. Auf dem Spiel stehe nichts Geringeres als ein rechtes Verständnis der Menschenwürde als Ebenbildlichkeit Gottes, betonte Gänswein.

Der Mensch ist als Abbild Gottes letztlich nicht identifizierbar über “akzidentielle” Fragen wie etwa seine sexuelle Neigung oder seinen Beruf, unterstrich der Erzbischof: Fragen, mit denen sich das Bundesverfassungesgericht jedoch in letzter Zeit beschäftigt habe, etwa der Homo-“Ehe”.

“Die homosexuellen Partner sind – Ehe hin, Ehe her – auch einmal alt und stehen vor dem letzten Schritt des Lebens – und dann kommt es auf die sexuelle Orientierung nicht mehr an. Krankenschwester oder homosexuell sein ist akzidentiell, es gehört nicht wesentlich zum Menschsein. Alle Homosexuellen, Geschiedenen, Atheisten und so weiter werden einmal vor Gott stehen und vor seinem Gericht”, so Gänswein.

Mit Blick auf den 70. Jahrestag des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland unterstrich der Erzbischof dabei, dass das Grundgesetz “von seinem Ursprung offen für das Naturrecht” sei, “das der Schöpfer in sein Geschöpf und in seine Schöpfung eingeprägt hat”.

Daran müsse heute – mit Papst Benedikt XVI. und dessen Rede im Bundestag im Jahr 2011 – wieder dringend erinnert werden, so Gänswein am 4. Juni 2019 beim Jahresempfang des Foyers “Kirche und Recht”.

“Was Not tut in einer Gesellschaft, in der der Relativismus und die Ablehnung religiöser Wahrheiten zum guten Ton gehören, ist ein Beitrag für eine andere Wahrheit, für einen anderen Blickwinkel, für ein alternatives Konzept vom Wesen des Menschen.”

CNA Deutsch dokumentiert EXKLUSIV den vollen Wortlaut der Ansprache mit freundlicher Genehmigung in zwei Teilen. Hier lesen Sie den ersten Teil:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Dieser Ort und diese Stunde laden auf besondere Weise ein, nicht immer neue Themen ausfindig zu machen, sondern eher dazu, im geduldigen Dialog und in immer neuen Variationen darüber nachzusinnen, was unser Gemeinwesen in seinem Innersten zusammenhält. Eine ungefähre Skizze der Überlegungen, die ich Ihnen nun vortragen möchte, hatte ich bei meiner Zusage, die mir Erzbischof Stephan Burger, mein Heimatbischof, vor etwa einem halben Jahr abgerungen hatte, fast schon spontan im Kopf.

Nach einem Blick auf die Beiträge meiner Vorredner kann ich mich jetzt auch bestätigt fühlen, angefangen von den profunden Ausführungen Kardinal Lehmanns “Zum schiedlich-friedlichen Verhältnis von Staat und Kirche heute”, mit denen er die Reihe des Karlsruher Foyers “Kirche und Recht” am 19. Juni 2007 begonnen hat, bis hin zu dem Vortrag im letzten Jahr von Professor Peter Dabrock, dem Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, zum Thema: “Die Würde des Menschen ist granularisierbar. Muss die Grundlage unseres Gemeinwesens neu gedacht werden?”

So komme auch ich als Deutscher und katholischer Priester, der an der römischen Kurie seinen Dienst tut, an dem Begriff der Menschenwürde nicht vorbei. Denn in diesem aus zwei Worten zusammengesetzten Begriff geben sich Religion und Recht gewissermassen den Friedenskuss. Und wie könnte ich diesen wundersamsten Begriff unserer deutschen Verfassung gerade in dem Jahr übergehen, in dem das Grundgesetz seinen 70. Geburtstag feiert.

Da schockte mich dann auch nicht, dass es hier letztes Jahr hiess: “Die Würde des Menschen ist granularisierbar”, als Professor Dabrock seine brillante Analyse mit dem genannten Ausdruck des Soziologen Christoph Kucklick an dieser Stelle zuspitzte! Wörtlich genommen heisst das: Die Würde des Menschen ist nicht nur antastbar, sie lässt sich de facto auch zwischen unseren Fingern zu Granulat zerbröseln wie ein bröckeliges Stück trockener Erde. Warum schockt mich das nicht? Nun, aus der Geschichte wissen wir, dass der menschliche Leib quasi pulverisierbar ist, wie die Welt es vor 80 Jahren in den Vernichtungslagern der Nazis und den Gulags der Sowjets und ihren Schlachtfeldern exemplarisch erfahren musste – bis hin zu den Nuklearblitzen von Hiroshima und Nagasaki. Schliesslich erfahren wir alle, dass der menschliche Körper irgendwann auch nach dem schönsten, friedlichsten und glücklichsten Leben zu Staub zerfallen wird. Wir erfahren es an unseren Verwandten, Freunden und an uns selbst. “Bedenke Mensch, dass du Staub bist, und wieder zum Staube zurückkehren wirst” (vgl. Gen 3,19). Das ist die jährliche Mahnung des Aschermittwochs, in der die Liturgie der Kirche uns an unser irdisches Ende erinnert. Diese Mahnung ist eine Einladung zum Innehalten und zum Nachsinnen.

Der Mensch zerfällt. Er wird zu Erde oder Asche. Sein Körper ist pulverisierbar. Ist es dann auch seine Würde? – Was ist die Menschenwürde? Unser Grundgesetz scheint mit einem frommen Wunsch zu beginnen, einem nur ästhetisch verständlichen Satz, ja strenggenommen mit einer Falschaussage: “Die Würde des Menschen ist unantastbar”. Was bedeutet dieser Satz? Was folgt aus ihm? Und was, wenn die Würde angetastet wird? Und was macht man als Jurist unter diesen Umständen?

Ich möchte Ihnen jetzt keine rechtsphilosophische oder rechtsgeschichtliche Vorlesung halten – worüber Sie mir sicherlich nicht gram sein werden -, sondern lassen Sie mich deshalb gleich zum Kern der Sache kommen.

Ich bin Priester, Bischof der katholischen Kirche. Wir haben das Ius divinum und das Ius mere ecclesiasticum, göttliches und rein kirchliches Recht, weshalb mir mein oberster Gesetzgeber sozusagen “die Hölle heiss machen” würde, wenn ich Ihnen jetzt etwas Anderes vortrage als das, was durch das Naturrecht und die Offenbarung gedeckt ist. Die anwesenden Rechtsgelehrten, Richter, Rechtsanwälte und Beamten vertreten den Staat der Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht macht Ihnen Ihr oberster Dienstherr etwas weniger die Hölle heiss, wenn sie mir in diesem Dialog etwas Anderes als Staatsraison und Staatsdoktrin der Bundesrepublik erzählen sollten – aber sicher würde Ihnen die öffentliche Meinung dafür umso ordentlicher einheizen. – Da wir aber sozusagen unter uns sind, schauen wir jetzt einmal, ob und wie wir zusammenfinden bei dem Begriff der Menschenwürde.

Die katholische Antwort zur Frage nach der Würde des Menschen ist diese: Menschenwürde hat man nicht so, wie man ein Bein oder ein Hirn hat. Der Mensch erwirbt seine Würde nicht. Er kann sie deshalb auch nicht verlieren. Sie ist jedem einzelnen Menschen schon vor Beginn der Schöpfung gegeben und liegt in dem Willen Gottes, den Menschen nach seinem Abbild, nach dem Abbild Gottes zu schaffen. Diese Würde ist darum allen Menschen zuteil und eigen, gleich woher sie stammen, welche Sprache sie sprechen, welche Hautfarbe sie haben, ob sie politisch uninteressiert oder besonders radikal sind, ob gesetzestreu oder Gesetzesbrecher. Sie steht – obwohl wir es alle wissen, sei es an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betont – natürlich auch allen Nicht-Christen zu. Alle Menschen sind nach dem Abbild Gottes geschaffen.

Die Würde des Menschen hängt also nicht ab von dem, was er tut, was er denkt oder sagt, sondern an dem, was er ist. Was also ist der Mensch? Was bedeutet es, dass er Abbild Gottes ist?

Eine besonders schöne Antwort darauf habe ich vor Jahren in Chartres gefunden, wo unbekannte Bildhauer den biblischen Bericht der Genesis über die Erschaffung der Welt mit einem Halbkreis von Skulpturen über dem Nordportal der Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert in Szene gesetzt haben, an denen wir gleichsam ablesen können, wie Gott am fünften Schöpfungstag – in dem Moment, als er gerade die Vögel erschaffen hat und als er ihnen liebevoll nachschaut, wie sie seinem Blick enteilen und frei weg in den Himmel fliegen! – erstmals auf den Gedanken verfällt: “Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich! (Gen 1,26)”. Ausgerechnet beim Anblick der Freiheit der Vögel verfällt Gott hier also auf den Gedanken, als Krönung der Schöpfung auch den Menschen zu erschaffen, als freies Wesen, auch ihm selbst gegenüber. Gott sieht hier aus wie sein Sohn, wie Jesus, dem just im Moment dieses Einfalls, bei seiner ersten Idee und Vorstellung des Menschen, der junge Adam – als Gedanke, doch leibhaftig – über die rechte Schulter schaut, ihm ähnlich wie ein Zwilling, mit seinen Gesichtszügen, nur ohne Bart.

Der Ort dieser Darstellung an der Kathedrale “Unserer Lieben Frau von Chartres” zeigt auch, dass dieses Menschenbild ein Sondergut ist, das nicht einfach der Natur entstammt und auf Bäumen gewachsen ist. Und so ist es auch mit der Menschenwürde. Sie ist ein Kulturgut. Sie entstammt auf genuine Weise unserer Kultur; sie kommt nicht aus China oder Japan, nicht aus Indien, auch nicht aus dem “Haus des Islam”. Sie entstammt allein unserer Geschichte, und hier ganz besonders der Selbstoffenbarung Gottes, und zwar so, wie sie in den Heiligen Schriften des Judentums und des Christentums auf uns gekommen ist.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich in den letzten Jahren vor allem in Deutschland die Erkenntnis durchgesetzt hat – in Äusserungen solch nüchterner Denker wie Jürgen Habermas und Ludger Honnefelder – dass vor allem vor dem Hintergrund jüdisch-christlicher Überlieferung die Gottesebenbildlichkeit des Menschen zur Matrix des Begriffs der “Menschenwürde” wurde, wo das schöne Wort nicht nur Verfassungsrang bekam, sondern wo es seit dem 8. Mai 1949 eben den zentralen Platz des neuen deutschen Grundgesetzes einnimmt, wo es im allerersten Satz des ersten Artikels lakonisch heisst: “Die Würde des Menschen ist unantastbar.”

Der Satz ist quasi die Seele unserer Verfassung geworden, zu dem die gesetzgeberische Elite der neuen Bundesrepublik nur vier Jahre nach Weltkriegsende und der unfassbaren Katastrophe der Deutschen unter den Nationalsozialisten gottlob zurückgefunden hatte. Das war nicht zufällig. Denn es war ja auch ein beispielloser Zivilisationsbruch der Justiz durch die willkürliche Rechtsetzung, die Europa unter den Nazis in Deutschland erlebt und erlitten hat. Mit diesem Schritt und diesem Satz ist Deutschland vor 70 Jahren wieder in die Zivilisation Europas und zu ihrem jüdisch-christlichen Erbe zurückgekehrt. Es war ein Glücksfall, fast ein Wunder. Und es war eine Heimkehr.

Und hier gelangen wir nun mit unserer kurzen Reflexion im Kern an jenen Punkt, den der Staatsrechtler und Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde schon im Jahr 1964 in sein berühmtes und oft zitiertes Diktum gegossen hat: “Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das grosse Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.”

Wenn nun also der Staat die notwendigen, lebenspendenden Voraussetzungen nicht garantieren kann, sind andere aufgerufen, sie so gut wie möglich zu gewährleisten und zu schützen oder zumindest immer wieder an sie zu erinnern. Das können in diesem Land aber nicht zuerst die Parlamente und andere Kammern des souveränen Volkes sein. Das ist vorrangig Sache der Kirchen und Synagogen, auch und gerade in einer radikal pluralisierten Welt. Darauf machte auch Papst Benedikt XVI. am 22. September 2011 aufmerksam, als er vor dem deutschen Parlament im Berliner Reichstag Folgendes ausführte: “Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben.”

Ich kehre zur Ausgangsfrage zurück: Ist die Würde des Menschen pulverisierbar, wie der Körper des Menschen? Die Antwort lautet klipp und klar: nein. Der Mensch als Abbild Gottes ist nicht eine nach einem bestimmten Muster bewirkte Ansammlung von Materie oder ein verklumpter Zellhaufen, der für eine bestimmte Lebensdauer funktioniert und dann nicht mehr. Als Abbild Gottes ist der Mensch berufen, mit seiner Seele sein Urbild, den wahren und ewigen Gott, zu suchen und zu erkennen, über seinen Tod hinaus – auch wenn sein Körper schon zerfallen ist und nicht mehr existiert. Seine Würde liegt in dieser Freiheit, Gott zu suchen und Gott zu erkennen, gleich wo und wie sich der einzelne Mensch gerade befindet, welche materiellen Zwänge ihn bedrängen oder welche körperlichen Gebrechen ihn behindern und belasten. Seine Seele ist frei geschaffen und sie bleibt es in alle Ewigkeit.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich hoffe, dass Sie mir hierin grösstenteils zustimmen können und dass weder Sie noch ich wegen dieser Übereinstimmung nun mit unseren jeweiligen Dienstherren Probleme bekommen.

Denn wo Sie mir in meiner bisherigen Reflexion über die Menschenwürde zustimmen konnten, zeigt dies doch, wie nah sich katholische Morallehre und Überzeugungen des Verfassungsgesetzgebers einmal gewesen sein müssen. Freilich, deckungsgleich waren sie nie. Doch das Grundgesetz ist von seinem Ursprung offen für das Naturrecht, das der Schöpfer in sein Geschöpf und in seine Schöpfung eingeprägt hat. Das zeigt der Begriff der Menschenwürde auf eindeutige Weise. Ist das auch heute noch in der Allgemeinheit, im Alltag der Bundesrepublik so? Ist die gezeichnete Auffassung alltagstauglich?

Natürlich kann nicht übersehen werden, dass Sie, sehr geehrte Damen und Herren im vornehmen Forum des Verfassungsgerichts, mit Ihrer Rechtsprechung so etwas wie ein Gesetzesnavigator für ganz Deutschland sind, der in den letzten Jahren bemerkenswerte Entwicklungen durchgemacht hat. Sie haben beispielsweise gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zwischen Männern oder Frauen den Weg geöffnet, ihre Verbindung eine “Ehe” zu nennen, – und hinsichtlich der Rechtsprechung in Bezug auf das kirchliche Arbeitsrecht haben die Damen und Herren Richter vom Bundesarbeitsgericht ja mächtig zugelangt.

Täusche ich mich mit der Feststellung, dass die Rechtsprechung in Deutschland fast immer und überall bejubelt wird, wenn sie Entscheidungen trifft, die eine Rücksichtnahme auf christliche Werte und christliche Moralvorstellungen minimalisiert, beseitigt oder ablehnt. Und ich kann das sehr gut nachvollziehen.

In den unmittelbaren materiellen Belangen einer nach bürgerlichem Recht geschiedenen und wiederverheirateten Krankenschwester mag es wichtig sein, den Beruf weiter ausüben zu können. Für zwei Männer oder zwei Frauen, die sich körperlich lieben, mag es eine grosse Erleichterung sein, wenn die Gesellschaft behaglichere Umstände für das gemeinsame Leben schafft. Da ist der Jubel für die Gesetzgebung und Rechtsprechung, die solche Veränderungen einführt, fast vorprogrammiert, und auch die Schmähung für die Kirche, die nicht in diesen Jubel einfällt, sich sogar dagegen sperrt.

Reden Kirche und Staat in Deutschland vielleicht nicht mehr von demselben Begriff, wenn sie sich auf die Würde des Menschen berufen? Stehen Kirche und Staat inzwischen auf verschiedenen Seiten, die durch einen tiefen Graben getrennt sind? Bestenfalls haben wir denselben Standpunkt, blicken aber in entgegengesetzte Richtungen. Die Kirche möchte und darf nicht nur die diesseitigen materiellen Bedürfnisse des Menschen befriedigen. Sie ist nicht nur Caritas, auch wenn diese und viele weitere hervorragende katholische Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitswesen selbstverständlich zur Kirche gehören. Die Kirche an sich, als Ganzes, ist aber für mehr verantwortlich, zuerst und zuletzt für die Seelen und deren Frieden mit sich und Gott. Die materiellen Belange sind dagegen relativ und ändern sich beständig. Die eben genannte Krankenschwester ist in ihrer Freizeit, in ihrer Rente nicht mehr Krankenschwester, sondern Mensch. Die homosexuellen Partner sind – Ehe hin, Ehe her – auch einmal alt und stehen vor dem letzten Schritt des Lebens – und dann kommt es auf die sexuelle Orientierung nicht mehr an. Krankenschwester oder homosexuell sein ist akzidentiell, es gehört nicht wesentlich zum Menschsein. Alle Homosexuellen, Geschiedenen, Atheisten und so weiter werden einmal vor Gott stehen und vor seinem Gericht.

Im Letzten Gericht kommt es auf ihr Menschsein an, nicht auf Akzidenzien wie sexuelle Orientierung, Dauer einer Partnerschaft, Weltanschauung et cetera. Die von mir soeben ins Visier genommene Gesetzgebung und Rechtsprechung in Deutschland beschäftigt sich aber lediglich – darf ich das einmal so ungeschützt vor Ihnen aussprechen? – mit diesen Akzidenzien, die freilich einer notwendigen Regelung bedürfen, um das Gemeinwohl aufrecht zu erhalten.

Lassen Sie mich weiter deutlich bleiben: Die Bundesrepublik ist dabei, sich auf ihrem Weg durch die Geschichte, siebzig Jahre nach ihrer Gründung, von der Grundierung ihres ursprünglichen christlich-humanistischen Weltbildes und vom Naturrecht zu verabschieden. An dieser Weggabelung gehen Kirche und Staat nunmehr getrennte und eigene Wege. Es ist ein Scheideweg. Das hat die katholische Kirche verstanden. Dass sie dabei nicht anders kann, als am Naturrecht und an ihrer christlichen Sicht auf den Menschen festzuhalten, liegt auf der Hand. Wir dürfen und können die Differenzen nicht schönreden. Doch sollte ich nun vielleicht den Finger in diese Wunde legen und von katholischer Seite eine alternative, naturrechtlich begründete Auffassung von Rechtsprechung und Rechtsschöpfung vorstellen, um noch einmal um Verständnis zu werben und Augen, Ohren, Herz und Verstand zu öffnen für klassische katholische Positionen, die doch wesentlich im Fundament auch der modernen und grosso modo glücklichen Bundesrepublik ruhen, die nach den apokalyptischen Jahren des “Dritten Reiches” und den von Hitler angezettelten Kriegen und seinem Vernichtungsfeldzug gegen das Jüdische Volk einen Rechtsfrieden erlebt hat, der beispiellos ist in der Geschichte Europas?

Vor dieser Versöhnung kann keiner die Augen verschliessen. Wer hätte dieses Wunder vor 80 oder 70 Jahren erahnen können? Und fast könnte ich es ja auch schon als ein kleines Wunder begreifen, dass Sie nun mich als Angehörigen jenes Berufstandes, dessen Leumund zuletzt so grauenhaft unter die Räder gekommen ist, überhaupt eingeladen haben, heute an dieser Stelle das Wort zu ergreifen. Gestatten Sie mir deshalb dennoch im Folgenden weniger als Kanonist, sondern vor allem als katholischer Priester das Wort an Sie zu richten, der aber auch das unverdiente Glück hatte, in den letzten Jahren Tag für Tag neben Papst Benedikt am Altar stehen zu dürfen. Und bitten möchte ich Sie deshalb nun auch, mir zu gestatten, aus seiner epochalen Rede vor dem Deutschen Bundestag im September 2011 noch einmal eine längere Passage im Wortlaut in Erinnerung zu rufen:

In einem Grossteil der rechtlich zu regelnden Materien kann die Mehrheit ein genügendes Kriterium sein. Aber dass in den Grundfragen des Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit geht, das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht, ist offenkundig: Jeder Verantwortliche muss sich bei der Rechtsbildung die Kriterien seiner Orientierung suchen…

Von dieser Überzeugung her haben die Widerstandskämpfer gegen das Naziregime und gegen andere totalitäre Regime gehandelt und so dem Recht und der Menschheit als ganzer einen Dienst erwiesen. Für diese Menschen war es unbestreitbar evident, dass geltendes Recht in Wirklichkeit Unrecht war. Aber bei den Entscheidungen eines demokratischen Politikers ist die Frage, was nun dem Gesetz der Wahrheit entspreche, was wahrhaft recht sei und Gesetz werden könne, nicht ebenso evident. Was in bezug auf die grundlegenden anthropologischen Fragen das Rechte ist und geltendes Recht werden kann, liegt heute keineswegs einfach zutage. Die Frage, wie man das wahrhaft Rechte erkennen und so der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung dienen kann, war nie einfach zu beantworten, und sie ist heute in der Fülle unseres Wissens und unseres Könnens noch sehr viel schwieriger geworden.

Wie erkennt man, was recht ist? In der Geschichte sind Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden: Vom Blick auf die Gottheit her wird entschieden, was unter Menschen rechtens ist. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, nie eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben. Es hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt…

Für die Entwicklung des Rechts und für die Entwicklung der Humanität war es entscheidend, dass sich die christlichen Theologen gegen das vom Götterglauben geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie gestellt, Vernunft und Natur in ihrem Zueinander als die für alle gültige Rechtsquelle anerkannt haben. Diesen Entscheid hatte schon Paulus im Brief an die Römer vollzogen, wenn er sagt: “Wenn Heiden, die das Gesetz (die Tora Israels) nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie … sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab…(Röm 2,14)”. Hier erscheinen die beiden Grundbegriffe Natur und Gewissen, wobei Gewissen nichts anderes ist als das hörende Herz Salomons, als die der Sprache des Seins geöffnete Vernunft. Wenn damit bis in die Zeit der Aufklärung, der Menschenrechtserklärung nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Gestaltung unseres Grundgesetzes die Frage nach den Grundlagen der Gesetzgebung geklärt schien, so hat sich im letzten Jahrhundert eine dramatische Veränderung der Situation zugetragen. Der Gedanke des Naturrechts gilt heute als eine katholische Sonderlehre, über die außerhalb des katholischen Raums zu diskutieren nicht lohnen würde, sodass man sich schon beinahe schämt, das Wort überhaupt zu erwähnen.”

Nach diesen Worten verstehen Sie gewiss, warum ich Benedikt XVI. so ausführlich zitiert habe. Es ist auch ein Aufruf an die Christen in unserer Gesellschaft, wieder stärker und mutiger Position zu beziehen.

Wir haben gesehen, dass sich Gesetzgebung und Rechtsprechung, von einem vorübergehenden materialistischen Mainstream in der öffentlichen Meinung gedrängt, vor allem mit den akzidentellen Problemen des Menschseins beschäftigen. Wir müssen aber beim Wesentlichen bleiben und wir hoffen auf diese Weise als Christen unserem Vaterland hilfreich zu sein, in dem wir nur dann mit der Mehrheit sprechen, wenn es die Wahrheit ist, und ansonsten die Wahrheit auch im Widerspruch bekennen. Denn das deckt ja unsere Verfassung ab, in der man sich als Katholik und als Atheist wohlfühlen können sollte. Was Not tut in einer Gesellschaft, in der der Relativismus und die Ablehnung religiöser Wahrheiten zum guten Ton gehören, ist ein Beitrag für eine andere Wahrheit, für einen anderen Blickwinkel, für ein alternatives Konzept vom Wesen des Menschen. Das hat die Kirche über die Jahrhunderte immer geboten.

Die Fortsetzung des Vortrags lesen Sie hier.

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