Erschlafft der Westen, weil er seinen Glauben verloren hat?

“Ich bin gekränkt, wenn Madonna vor einem Kreuz rumhopst”

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Tagesanzeiger, 18.06.2011, David Nauer

Der Westen erschlaffe, weil er seinen Glauben verloren habe. Dabei sei die Kirche ein grossartiges Angebot, findet der deutsche “Spiegel”-Journalist und Buchautor Matthias Matussek.

Herr Matussek, wann haben Sie das letzte Mal gesündigt?

Das werde ich Ihnen nicht sagen. Sie sind schliesslich nicht mein Beichtvater.

In Ihrem jüngsten Buch schildern Sie die Welt als Sündenpfuhl. Die Wollust überbordet, Geiz und Neid, wo man hinschaut. Übertreiben Sie nicht etwas?

Nein, im Gegenteil. Nehmen wir die Wollust, ein Begriff, der im Zeitalter von “Youporn” (eine Pornoseite im Internet, Anm. d. Red.) seltsam fremd wirkt. Die Wollust ist so inflationär geworden, dass sie sich aufgelöst hat. Es gibt sie eigentlich gar nicht mehr.

Schon die alten Römer haben sich über den Sittenverfall beklagt.

Ich sage nicht, dass früher alles sittlich gefestigter gewesen wäre. Aber wir leben in einer Zeit, die so merkwürdig schuldlos geworden ist. Wir denken gar nicht mehr über Sünde nach. Wir sprechen, wenn wir von Schuld reden, eigentlich nur noch von einem Gefühl, das der Psychoanalytiker wegtherapieren soll.

Wo ist das Problem?

Das ist ein beängstigender Zustand. Wir sind im Grunde genommen schuldig und steuern gefühlt schuldlos auf eine sehr ungemütliche Welt zu. Uns ist das Koordinatensystem abhandengekommen. Katastrophen häufen sich. Ein bisschen apokalyptisch bin ich schon gestimmt.

Das müssen Sie erklären.

Es gibt eine grössere Form der Enthemmung – am oberen und am unteren Ende der Gesellschaft. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass die Todsünde der Gier sehr wohl verheerende Folgen haben kann, dass sie die Welt an den wirtschaftlichen Abgrund bringt. Zum unteren Ende der Enthemmung: Kürzlich hatten wir eine Titelgeschichte im “Spiegel” über Schläger, die in der U-Bahn einen jungen Mann fast totgetreten haben. Einer von denen antwortete auf die Frage, wieso er das getan habe: “Ich habe mich gerade so gefühlt.” Da läuft doch etwas aus dem Ruder.

Was sind die Ursachen?

Meine Diagnose ist, dass das zu tun hat mit dem Verlust der Bindungskräfte des Religiösen, der Kirchen.

Die Menschen wenden sich von den Kirchen ab, weil sie dort keine Antworten mehr finden auf die wichtigen Fragen der Zeit.

Wir erleben eine Kirchenkrise, auch eine Gotteskrise. Es gibt Umfragen, die darauf hinweisen, dass drei Viertel aller Menschen noch gläubig sind. Aber das ist ein stillgelegter Glaube, der im Hintergrund schlummert, der keine Wirkung mehr hat auf den Alltag. Wenn ich sonntags in die Kirche gehe . . .

. . . gehen Sie jeden Sonntag in die Kirche?

Aber sicher. Ich muss sagen, ich gehe gerne. Weil es die Stunde ist, die eine Stunde in der Woche, in der ich mit mir und meiner Seele, mit Gott alleine bin. Das halte ich für das grossartigste Angebot überhaupt, und ich kann nicht verstehen, dass Katholiken oder Leute, die sich katholisch nennen, keinen Gebrauch davon machen.

An Sehnsucht nach Religiosität mangelt es nicht. Im Sommer kommt der indische Guru Sri Sri nach Berlin. Er wird wohl das Olympiastadion füllen.

Die Frage ist: Warum begegnet die Öffentlichkeit diesen Sekten, diesen Gurus so viel unkritischer als der katholischen Kirche? Jeder Bischof, der in einer Talkshow sitzt, muss damit rechnen, dass er mit Häme übergossen wird. Aber ein indischer Guru füllt das Olympiastadion, und die liberalen Medien sind mehr oder weniger entzückt.

Woher kommt das?

Ich finde, nicht unschuldig sind die Katholiken selber. Statt in die Kirche zu gehen, die Messe zu feiern, für die Armen zu sammeln, also den Glauben richtig zu leben, wird ewig debattiert – über den Zölibat, über das Frauenpriestertum, die nächste Reformagenda. Dem Katholizismus ist der Herzmuskel erschlafft.

Sie fordern eine Rückkehr zu den alten Dogmen?

Die Kirche hat ihr Geheimnis verloren. Ihre Botschaft sollte sein: “Ihr müsst euch anstrengen, um zu uns zu kommen, denn wir verhandeln etwas ganz Heiliges. Was wir hier machen, ist gerade nicht die Welt, sondern die Gegenwelt. Hier ist ein Geheimnis, draussen gibt es kein Geheimnis, hier ist Andacht, draussen gibt es keine Andacht, hier ist Versenkung, Stille, Hingewendet-Sein nach oben, hier kann man nicht einfach reinschlurfen und Spass haben.” Ich glaube, damit würden die Leute viel eher in die Kirchen zurückkehren. Stattdessen wird die Schwelle noch tiefer gelegt. Bald gibt es für jeden eine Cola, der kommt. Ein protestantischer Pfarrer liess kürzlich nach dem Gottesdienst sogar den “Playboy” verteilen.

Das glauben Sie doch selber nicht.

Doch, ich schicke Ihnen den Link über diesen Sex-Gottesdienst. Ist es nicht schön, wenn es auch anders geht? Letzten Sonntag war bei uns etwas ganz Tolles. Da hat der Mädchenchor des Kölner Doms zur Pfingstmesse gesungen. Das “Halleluja” war ergreifend, es stieg auf zum Himmel, man hat an den Gesichtern gesehen, wie glücklich die waren. Der Altar wurde eingeräuchert mit Weihrauch, es war eine grosse Feierlichkeit. Jeder Protestant würde sagen: “Es ommt doch nur auf mich, auf Gott und das Wort an, alles andere ist Pipifax.» Ich bin naiver, ich bin katholisch. Ich glaube, dass die Form sehr wichtig ist für die Andacht. Mein Priester in New York sagte etwas sehr Schönes: «Rituale ohne Glauben sind leer, aber ein Glaube ohne Ritual ist gestaltlos.» Der Glaube braucht den Gesang, das Hinknien, das Augenschliessen, er braucht das gemeinsame Vaterunser, diese heiligen Verrichtungen.

Die öffentliche Wahrnehmung der katholischen Kirche ist freilich eher von Skandalen geprägt.

Die Öffentlichkeit ist so vergröbert, dass sie beim Katholizismus am liebsten nur noch über Sex redet, besonders über Kindsmissbrauch. Obwohl nur 0,1 Prozent der Missbrauchstäter aus Reihen der katholischen Kirche kommen. 99,9 Prozent kommen aus Familien, aus Vereinen, liberalen Schulen, protestantischen Organisationen. Aber jeder denkt bei Missbrauch: katholisch. Jeder Katholik wird unweigerlich verdächtigt, Pädophile zu decken. Ich war in einer Talk-show, und das Erste, was mir einer an den Kopf warf, war: «Ihr, die katholische Kirche, seid doch eine kriminelle Vereinigung.» Das Saalpublikum johlte.

Wobei sich die katholische Kirche in Sachen Sex schon sehr weltfremd anstellt. Wenn der Papst lange ausführt, unter welchen Umständen die Benutzung eines Kondoms erlaubt ist, dann kann das ein normaler Mensch nicht nachvollziehen.

Die Kirche hält sich eben in einer Welt auf, in der über Liebe, Treue und Sexualität in einer anderen Form nachgedacht wird, als wir es tun. Sex haben ist doch heute wie ein Schluck Kaffee. Sex ist so trivialisiert, so vollständig zur Ware geworden, dass ihn jeder am Automaten herausziehen kann. Und da kommt nun eine Institution und sagt: Moment. Es wäre schön, wenn sich Liebende treu sind, dann brauchen sie nämlich keine Kondome. In einigen Fällen aber, etwa bei männlichen Strichern, kann ein Kondom vor Ansteckung schützen. Dort sollte es verwendet werden, als erster Schritt zu einer grösseren Verantwortlichkeit. Das ist sehr fein gedacht vom Papst. Dass er sich querlegt und kompliziert wird in diesem Punkt, finde ich ganz schön.

Im Gegensatz zu den Kirchen sind die Moscheen in Deutschland voll. Nehmen Sie den Islam als Bedrohung wahr?

Ich glaube, dass der Islam nicht zu unserer religiösen und kulturellen Identität gehört. Eine Gefahr ist er dann, wenn er sich nicht an die demokratischen Spielregeln hält. Da vermisse ich von den moderaten Moslems in unserer Gesellschaft ein eindeutiges Bekenntnis.

Ein Grossteil der Moslems in Deutschland hält sich an die Gesetze. Das Tragen eines Kopftuchs etwa ist ja nicht gesetzwidrig.

Nein, aber eine Verhüllung ist eine Demütigung der Frau und bedeutet mehr als nur Folklore. Sie ist Teil eines Systems, das sich gegen die Gleichberechtigung der Frauen richtet. Ich bin deswegen dafür, die Burka zu verbieten.

Die Bordell-Schaufenster an der Hamburger Reeperbahn sind auch eine Demütigung der Frau.

Ja, da hätte er auch einen Punkt. Aber die Prostituierte macht es freiwillig.

Sie widmen dem Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen viel Raum. Ist das eine der grossen Fragen unserer Zeit?

Das ist zentral, denn der Konflikt hat eine Echowirkung auf unser eigenes Religionsverständnis. Ich war bei einer Veranstaltung von radikalen Salafisten in Mönchengladbach. Und da gab es folgende Szene. Ein Muslim schwenkte eine zerlesene Bibel vor einem Reporter und sagte: «Ich wette, du kennst deine eigene Religion nicht. Ich wette, du kennst nicht mal die Zehn Gebote.» Tatsächlich: Der Reporter kannte sie nicht. Bei den Moslems existiert ein intensiver Glaube, auf unserer Seite dagegen Ratlosigkeit, religiöse Unterbelichtung und keine Bereitschaft, dem Islam auf überzeugende Weise zu antworten.

Es ist doch vernünftig, solche Provokateure nicht zu beachten. Diese Gelassenheit unterscheidet uns gerade von religiösen Eiferern.

Ich bin da nicht Ihrer Meinung. Es gibt das religiöse Gefühl, davor sollte man einen gewissen Respekt haben. Ich bin gekränkt, wenn ich sehe, wie Madonna vor einem Kreuz rumhopst. Der Gekreuzigte ist ein gemarterter Mensch, das ist der Erlöser, und diese überdrehte Kabbala-Anhängerin mit falschen Titten trällert einen Popsong – das geht nicht. Kein Mensch getraut sich heute mehr, Witze über Mohammed zu machen. Aber Jesus als Blechbüchse – kein Problem.

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