„Diese Menschen sind Zeugen für ihren Glauben“

Nach seiner Libanonreise: Erster Teil des Interviews mit Hamburger Erzbischof Hesse 

zedernQuelle
Adyan-Stiftung

Der Hamburger Erzbischof Stefan Hesse besuchte als Flüchtlingsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) am vergangenen Wochenende den Libanon. Der Erzbischof informierte sich vor Ort, wie die Aufnahme der Flüchtlinge organisiert ist und welche Herausforderungen und Schwierigkeiten es gibt. In einem Interview mit Stefan Rochow für Zenit spricht er über seine Reiseeindrücke, Erlebnisse vor Ort und über die Herausforderungen für Christen in Deutschland, im Zusammenhang mit der Aufnahme vieler Flüchtlinge. Lesen Sie nachfolgend den ersten Teil des Gesprächs.

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Exzellenz, am Montag sind Sie von Ihrer Reise in den Libanon zurückgekehrt. Was sind Ihre Eindrücke im Hinblick auf die Situation in den libanesischen Flüchtlingslagern?

Erzbischof Hesse: Offizielle Flüchtlingslager gibt es im Libanon nicht. Viele der Flüchtlinge sind privat untergekommen, einigen davon konnte ich in der Bekaa-Ebene persönlich begegnen. Hier leisten insbesondere die lokalen Pfarrgemeinden im Libanon Grossartiges. Sehr viele Flüchtlinge leben aber auch in sogenannten „informal tented settlements“, also in informellen Zeltsiedlungen. Eine davon habe ich ebenfalls besucht. Die Menschen haben auf freier Fläche ein Stück Land gepachtet und dort ihre Zelte aufgeschlagen. Für jedes Zelt von zehn mal sechs Metern Grösse müssen pro Monat 100 US-Dollar Pacht gezahlt werden. Hinzu kommen die Kosten für das Wasser, das regelmässig in grosse Tanks geliefert wird, und Strom. Die Menschen leben dort in grosser Armut – die genannten Kosten plus die für den Lebensunterhalt könnten sie ohne die Hilfe der Caritas und vieler anderer Hilfsorganisationen gar nicht tragen.

Was waren für Sie die prägnantesten Ereignisse auf Ihrer Reise?

Erzbischof Hesse: Ich konnte in der Bekaa-Ebene die tiefe Dankbarkeit der dort lebenden Syrer spüren, die froh sind, noch am Leben und in Sicherheit zu sein. Aber am meisten hat mich das Schicksal einer christlichen Familie berührt, die im Nordosten Syriens in die Hände des IS gefallen war. Die gesamte Bevölkerung ihres Dorfes wurde als Geiseln genommen. Sie haben berichtet, wie zunächst die Männer von den Frauen und Kindern getrennt wurden, und wie kurze Zeit später einige der Geiseln erschossen wurden. Nach über einem Jahr konnten sie schliesslich nach Verhandlungen mit den Entführern befreit werden. Die Gefangenschaft und die Erlebnisse des Krieges haben sie schwer traumatisiert. Diese seelischen Wunden wirken noch lange nach und müssen dringend bearbeitet werden – auch bei den Flüchtlingen, die bei uns in Deutschland sind. Diese Menschen sind Zeugen für ihren Glauben, Märtyrer beziehungsweise Bekenner.

Wen haben Sie sonst vor Ort sprechen können und wer hat Sie noch beeindruckt?

Erzbischof Hesse: Neben den Flüchtlingen, die ich treffen konnte, habe ich auch mit Vertretern verschiedener kirchlicher Hilfswerke gesprochen. Ausserdem mit dem maronitischen Patriarchen, dem Apostolischen Nuntius, dem Sozial- und dem Bildungsminister des Libanon. Sehr beeindruckt haben mich die christlichen und muslimischen Theologen und Theologinnen, die sich in der „Adyan“-Stiftung zusammengeschlossen haben. Sie haben ein interreligiöses Curriculum für den Bildungssektor erarbeitet, das auf eine gewaltfreie Auseinandersetzung zwischen Muslimen und Christen über religiöse und politische Themen abzielt.

Was können Sie über Ihre Eindrücke von der Flüchtligshilfe berichten?

Erzbischof Hesse: Zunächst einmal hat mich die enorme Anzahl der Flüchtlinge beeindruckt, die ein so kleines Land wie der Libanon aufgenommen hat. Da fast ein Drittel der Libanesen unterhalb der Armutsgrenze leben, ist diese Hilfsbereitschaft alles andere als selbstverständlich. So richten sich die Hilfsmassnahmen meistens sowohl an Flüchtlinge als auch an bedürftige Einheimische. Da der libanesische Sozialstaat anders als in Deutschland sehr schwach ausgeprägt ist, sind kirchliche und andere zivilgesellschaftliche Akteure hier zusammen mit den internationalen Organisationen viel stärker gefragt. Mit welcher Energie und Kreativität in jeder einzelnen Situation flexible Lösungen gefunden werden – ich denke da zum Beispiel an die Malteser mit ihren mobilen Kliniken – das ist wirklich beeindruckend.

Wie kann man aus Ihrer Sicht dort helfen?

Erzbischof Hesse: Es fehlt an manchen Orten noch an einem adäquaten Zugang zur Gesundheitsversorgung, und noch längst nicht alle Flüchtlingskinder gehen zur Schule. Der Bildungsminister hat mir berichtet, dass UNICEF von den Geberländern bislang nicht einmal 50 Prozent der Gelder erhalten hat, die zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres vorhanden waren – und das trotz versprochener Zusagen. Deutschland bildet hier eine lobenswerte Ausnahme. Der Druck auf die Geberländer, ihren Verpflichtungen nachzukommen, sollte erhöht werden. Ansonsten kann ich nur dafür werben, unsere Hilfswerke durch Spenden zu unterstützen. Diese werden auch weiterhin dringend benötigt.

Haben Sie von der Reise den Eindruck gewonnen, dass der Libanon den Herausforderungen gewachsen ist oder muss man befürchten, dass das Land unter dieser Last zerbricht?

Erzbischof Hesse: Die Last ist natürlich enorm. Fast jeder vierte Mensch im Libanon ist ein Flüchtling. Unter diesen Umständen ist es besonders wichtig, dem Entstehen von Fanatismus und Extremismus unter den Flüchtlingen vorzubeugen. Es hat mich ermutigt zu erleben, wie libanesische Muslime und Christen in diesem Bereich zusammenarbeiten und ein klares gemeinsames Zeugnis für die Akzeptanz von Diversität und gegen religiös motivierte Gewalt abgeben. Diese Zusammenarbeit sollte unbedingt noch ausgebaut werden. Wenn dies gelingt, habe ich Hoffnung, dass der Libanon die Herausforderung meistert und nicht zerbricht.

Ist der Zuzug von über 1,2 Millionen geflüchteter Menschen aus Syrien in den Libanon in den letzten Jahren aus Ihrer Sicht eine Gefahr für den Zusammenhalt in der Gesellschaft im Libanon?

Erzbischof Hesse: Da die meisten der Flüchtlinge sunnitische Muslime sind, besteht im Libanon die Sorge, dass sich im ausbalancierten Verhältnis zwischen den 18 staatlich anerkannten christlichen, muslimischen und drusischen konfessionellen Gruppen die Gewichte verschieben könnten. Aus diesem Grund wird dort auch nicht von Integration gesprochen, sondern man erwartet, dass die Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren, sobald die Sicherheitslage dies zulässt. Viele der Flüchtlinge kommen aus den grenznahen Gebieten Syriens, sie können, wie ein Flüchtling mir sagte, „ihre Heimat noch riechen“ und wollen auch sobald wie möglich zurückkehren. Bis dahin besteht aber eine sicherlich angespannte Lage.

Haben Sie den Eindruck gewonnen, dass die Hilfsorganisationen die Aufgaben dort noch lange stemmen können und was müsste zur Entlastung der Helfer aus Ihrer Sicht passieren?

Erzbischof Hesse: Ich habe sehr engagierte Helfer getroffen, bei allen Hilfsorganisationen, mit denen ich gesprochen habe. Von keinem von ihnen habe ich Klagen gehört. Die Hilfsbereitschaft der Menschen im Libanon ist, soweit ich das wahrnehmen konnte, insgesamt weiterhin hoch. Wichtig ist, dass die Finanzierung der Leistungen sichergestellt wird. Hier ist insbesondere die internationale Gemeinschaft aufgerufen, ihre eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen.

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