Christen in der Türkei: Geschichte und Gegenwart

Ein Vortrag von Bischof Prof. Luigi Padovese†, Apostolischer Vikar von Anatolien

Quelle
Erzbischof Luigi Padovese
Apostolische Reise in die Türkei: Papst Benedikt XVI., 28.11. – 1.12.2006

Erzbischof Luigi Padovese, Apostolischer Vikar von Anatolien (1947-2010).

Bischof Luigi Padovese hat nach seinem Amtsantritt zahlreiche Vorträge in katholischen Akademien und Pfarreien Deutschlands über die Lage der Christen in der Türkei gehalten, auch bei den Kongressen von Kirche in Not. Der folgende Vortrag war für den dritten Todestag von Pater Werenfried 2006 bestimmt, an dem Bischof Padovese wegen eines plötzlichen Wintereinbruchs in Norditalien, wo er sich zu der Zeit aufhielt, nicht teilnehmen konnte.

Beim Namen Türkei denken wir heutzutage entweder an das Problem ihres geplanten Beitritts in die Europäische Union, an die kulturellen und religiösen Unterschiede, die uns von den Türken trennen, oder auch an das faszinierende Istanbul oder an die Strände an der ägäischen Küste, die bevorzugte touristische Orte zu bezahlbaren Preisen sind. Nur selten ist die Rede vom historischen, und dabei besonders vom christlichen Gedächtnis, das dieses Land bewahrt.

Wenn Sie zum Beispiel Ephesus besuchen, das im Westen der Türkei gelegen ist, werden die Touristen an die griechisch-klassische Zeit erinnert, aber kaum an die frühchristliche oder byzantinische Zeit. Doch hat gerade hier die Urkirche Gestalt angenommen, hier tat sie die ersten entscheidenden Schritte ihrer zukünftigen Entwicklung. Hier begegnete die Kirche „der Welt”, passte sich ihr an, assimilierte sich oder verwarf sie.

Es scheint nicht überheblich zu behaupten, dass die Türkei der privilegierte “Ort der Inkarnation” der christlichen Gemeinde war. Das erscheint umso wahrer, wenn man sich die Namen in Erinnerung ruft, die für einen Christen mehr als bloss geographische Orte sind: Antiochien, Tarsus, Ephesus, Smyrna, Kolossä, Laodizea, Ikonion, Lystra, Troas, Milet, Galatien, Nizäa, Konstantinopel, Chalkedon. Um die Entwicklung des christlichen Glaubens im Gebiet der heutigen Türkei besser zu verstehen, müssen wir einige Schritte zurückgehen.

Ausbreitung des Christentums zu biblischer Zeit

Nach der Apostelgeschichte fand die erste grosse christliche Ausbreitung im Dreieck Antiochien – Edessa – Damaskus statt. Die Apostelgeschichte (19,11) verbindet die Evangelisierung Antiochiens mit den aus Jerusalem vertriebenen Hellenisten (37 n. Chr.). In Antiochien nimmt die erste Heidenmission Gestalt an. Das Matthäus-Evangelium scheint der Widerhall der Katechese des antiochenischen Milieus zu sein. Damaskus hatte, als sich Paulus 38 n. Chr. bekehrte, schon eine christliche Gemeinde. Und schliesslich scheint auch das an der Seidenstrasse gelegene Edessa, das heutige Urfa in der Türkei, sehr schnell vom Christentum erreicht worden zu sein.

Das erste Dokument, das auf die blühende christliche Gemeinde im Land der Osrhoëne hinweist, dessen Hauptstadt Edessa war, ist die Aberkios-Grabinschrift aus der zweiten Hälfte des Zweiten Jahrhunderts. Wir wissen, dass die christliche Präsenz in Antiochien besonders ausgeprägt war. Antiochien war während der ersten drei nachchristlichen Jahrhunderte nach Rom und Alexandrien die drittgrösste Stadt des Römischen Reiches. Seine geographische Lage an den grossen Handelswegen, die Asien mit dem Mittelmeer verbanden, und der natürliche Reichtum der Umgebung waren der Grund für seinen Reichtum.

Aber Antiochien rühmte sich auch des Vorzugs, eine Stadt zu sein, in der sich aramäische und hellenistische Kultur begegneten. Hier fanden für den neuen Glauben grundlegende Ereignisse statt, die unauslöschlich im Gedächtnis der christlichen Gemeinde eingeprägt sind. Ich beschränke mich darauf, daran zu erinnern, dass in Antiochien die erste christliche Gruppe begann, sich vom Judentum zu lösen und sich der eigenen Identität bewusst zu werden. Hier entstand sehr schnell ein Zentrum theologischer Reflexion, die sich durch verschiedene Denkweisen ausdrückte und die Entwicklung des Christentums zu einem kulturell vielgestaltigen Phänomen beeinflusste.

Nicht zu vergessen ist auch, dass hier sowohl der Evangelist Lukas geboren wurde als auch andere hervorragende Persönlichkeiten der christlichen Geschichte lebten, unter denen der im nicht weit entfernten Tarsus geborene Paulus besonders hervorsticht. Was den Apostel der Völker betrifft, kann man kaum die Rolle ermessen, die Tarsus in seinem Leben spielt. Es ist aber sicher unleugbar, dass die dort verbrachten Jahre seine Persönlichkeit prägten.

Das kulturell lebendige Klima dieser Universitätsstadt, die Heimat und in gewissem Sinne Hauptstadt der stoizistischen Philosophie war, hilft uns zu verstehen – auch wenn es Paulus‘ Geistesgrösse nicht bis ins Letzte erklären kann – weshalb er Griechisch beherrschte, das seine Muttersprache gewesen sein dürfte, und erklärt die Tatsache, dass er seinen Dienst vor allem im städtischen und nicht im ländlichen Milieu versah. Er richtete die christliche Botschaft, die in einem ländlichen Umfeld entstanden war, an Menschen der auch auf sozialer Ebene gehobenen Schicht und passte sie dieser sozio-kulturell verschiedenen Umgebung an.

Wegen seiner Offenheit gegenüber der griechisch-römischen Welt, die in seiner Herkunft zu suchen ist, aber auch wegen seines gänzlichen Eintauchens in die jüdische Gedankenwelt, wurde Paulus als „Wanderer zwischen zwei Welten” bezeichnet. Ohne Zweifel ist er eine der überzeugendsten Persönlichkeiten des frühen Christentums, die in Antiochien ihre einheimische oder selbstgewählte Gemeinde fanden. Es genügt, wenn ich ausserdem auf Ignatius von Antiochien oder den Antiochener Johannes Chrysostomus hinweise, der später Patriarch von Konstantinopel wurde.

Wenn wir uns ins antike Syrien und das Land der Osrhoëne versetzen, die auf heute türkischem Boden liegen, an die ägäische Küste oder nach Kleinasien, dann verstehen wir, warum sich das Christentum auch in diesem Gebiet schnell ausbreitete. Es war eines der wirtschaftlich blühendsten und bevölkerungsreichsten Gebiete im Römischen Reich des ersten und zweiten Jahrhunderts nach Christus. Die ökonomische Blüte und der Handel mit materiellen Gütern ging Hand in Hand mit dem Austausch von Gedanken und religiösen Überzeugungen, die Phänomene wie politischen Kosmopolitismus und religiösen Synkretismus erzeugten.

Wenn wir uns diese Situation vor Augen halten, verstehen wir auch, warum das Christentum, das in die hellenistische Welt eingetreten war, Vorteile aus der glücklichen ökonomischen Konjunktur und der politischen Einheit zog, die von Rom als ein Gedankenpluralismus geschaffen worden war, der sich auch auf philosophischem und religiösem Gebiet Ausdruck verschaffte.

Es ist noch zu erwähnen, dass auch in Kleinasien, besonders in den Handelszentren, die jüdische Präsenz sehr bezeichnend ist. Gerade in diesen Zentren begann sich das Urchristentum auszubreiten, das an den Judaismus angelehnt ist. Von archäologischer Seite aus betrachtet, kann man feststellen, dass es überall dort, wo die christliche Verkündigung im ersten und zweiten Jahrhundert stattfand, auch Synagogen gab.

Die frühesten Informationen über die Existenz von christlichen Gemeinden in Kleinasien stammen aus den Paulusbriefen, die die Gemeinden in Ephesus, Kolossä, Herapolis, Laodizea und in Galatien erwähnen. Der Schreiber der Offenbarung richtet sich an die sieben Kirchen auf kleinasiatischem Gebiet: Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea. Einige Jahre später wird Ignatius von Antiochien an die christlichen Gemeinden in Ephesus, Magnesia, Tralli, Philadelphia und Smyrna schreiben.

Aus der Summe der Elemente, die wir besitzen, können wir bestätigen, dass das Treffen der christlichen Bewegung auf die griechisch-römische Welt seinen grössten Ausdruck im Gebiet Kleinasiens fand, speziell in Ephesus, wo Paulus und Johannes lebten und wirkten. Aufgrund ihres Werkes ist hier das so genannte „Corpus Ephesinum Novi Testamenti” entstanden, das heisst eine ansehnliche Anzahl der neutestamentlichen Schriften. Gerade diese Tatsache bestätigt uns, wie Ephesus im ersten Jahrhundert die „kulturelle Hauptstadt” der neuen Religion wurde.

Hier wurde das Christentum früher und tiefer als anderswo in Konfrontation und Austausch mit einer kulturellen und religiösen Wirklichkeit gestellt, die anders war als die, aus der es hervorgegangen ist. „Die Erfahrung von Ephesus hat den Glauben der Kirche nicht nur Dank der Assimilation der Höhepunkte griechisch-römischen Denkens bereichert, sondern es hat ihm auch die Möglichkeit eröffnet, die eigene Katholizität und das Eintreten in den Dialog mit Menschen anderer Religionen und Kulturen zu denken und zum Ausdruck zu bringen.” (Pietro Rossano).

Die Tatsache, dass von 50 Orten, an denen sich am Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. christliche Gemeinden befanden, 24 zu dieser Region des Reiches gehörten, ist symptomatisch. Um das Jahr 180 n. Chr. lagen 57 von 101 Orten, von denen wir wissen, dass sie mit dem Christentum in Kontakt gekommen waren, in Kleinasien und den angrenzenden Regionen. Die Ausbreitung des Christentums in diesen Städten fand meistens in der Mittelschicht und unter der einfachen Bevölkerung statt, mit anderen Worten: unter den ausländischen Kaufleuten, den Handwerkern oder Sklaven, die nicht so strikt an das politischreligiöse System der „Polis” gebunden waren.

Zur Bevorzugung des städtischen Charakters des Christentums hat auch die Tatsache beigetragen, dass die grösste Schwierigkeit, die ländlichen Gebiete zu erreichen, im bäuerlichen Konservativismus bestand, in den starken Bindungen zwischen Familie und Anhängern von Gruppierungen, was die Kontrolle des Einzelnen wesentlich begünstigte; und darüber hinaus in der Religiosität naturalistischer Art, die an die Natur und ihre Phänomene gebunden war. Auf der anderen Seite wurde in den hellenisierten Städten – und das ist eine sehr wichtige Tatsache – das sich zur Handelssprache entwickelte Griechisch gesprochen, während auf dem Land Volkssprachen und Dialekte fortbestanden.

Die ersten christlichen Prediger konnten auf dem Land, wo nicht Griechisch gesprochen wurde, die Frohe Botschaft nicht verkündigen. Die Volkssprachen und Dialekte wurden zum Hindernis bei der Annahme der neuen Religion. Die Erfahrung des Paulus von Tarsus, der die Leute in Lystra nicht verstehen konnte, weil sie Lykaonisch sprachen (vergleiche Apg 14,11), dürfte eine allgemeine Erfahrung der ersten christlichen Prediger gewesen sein.

Durch diese Tatsache war es unvermeidbar, dass sich die ersten christlichen Prediger gezwungen sahen, sich mit ihrer Verkündigung auf städtische Gebiete zu konzentrieren. Immer in Bezug zur Ausbreitung des Christentums muss man hinzufügen, dass es bei seinem Eintritt in Kleinasien nicht nur mit verschiedenen Sprachen, sondern auch mit verschiedenen ethnischen Gruppen in Kontakt kam (Lydier, Karer, aus Thrakien gekommene indogermanische Stämme, Griechen, Mazedonier, Galatier, Perser und so weiter), die ihre je eigenen Bräuche und Kulte hatten und diese auch in den neuen Glauben einbrachten.

Vielfalt der Entwicklungen des Christentums in Kleinasien

Sosehr also richtig ist, dass die Länder Kleinasiens „die Orte der ältesten Christianisierung im römischen Reich” waren, so wahr ist auch, dass „dieser Prozess aufgrund der grossen Unterschiedlichkeit der Rassen, Traditionen, der mehr oder weniger fortgeschrittenen Hellenisierung sowie der unterschiedlichen sozialen und politischen Situationen, voneinander sehr verschieden war”.

Die Wirklichkeit dieses vielfältigen Christentums spiegelt sich auch in der unterschiedlichen Lehre mit den je unterschiedlichen Orientierungen wieder. Das städtische Christentum ist daher anders als das ländliche Christentum. Die Gestalt des syrischen Christentums mit seiner semitischen, persischen und mesopotamischen Gedankenwelt unterscheidet sich von der stark hellenisierten Gedankenwelt der Metropole von Ephesus.

Aus dem Klima der unterschiedlichen Ausprägungen wird die Institution der Metropolitan-Sitze und der Synoden in Kleinasien nach dem Modell der staatlichen Versammlungen hervorgebracht, um die religiöse Einheit in der bunten Welt der Kirche des ersten Jahrhunderts zu garantieren. Nicht zu vergessen, dass das Christentum bei seinem Eintritt in Kleinasien mit einer von Religiosität angefüllten Welt in Berührung kam.

So ist es nicht verwunderlich, dass das Christentum in einigen Fällen innerhalb des Synkretismus verstanden wurde. Die Tatsache, dass zum Beispiel die Christen in Ephesus zur Zeit des Paulus die Zauberbücher verbrannten, die sie noch in ihren Häusern hatten (vergleiche Apg 19,19), zeigt die Neigung zum Synkretismus, gegen den das Christentum gerade in Kleinasien einen harten Kampf zu führen hatte. (Wenn wir uns den Grad der Ausbreitung und des Wachstums der neuen Religion in dieser Zone vor Augen halten, verstehen wir auf der anderen Seite auch, in welcher Weise gerade hier die sog. „christlichasiatische Kultur” und viele, zum Teil weit von der Orthodoxie entfernte Strömungen entstanden sind.

Aber man darf sich nicht wundern: waren doch gerade im ersten Jahrhundert die Grenzen zwischen Häresie und Orthodoxie noch nicht so klar definiert wie in späterer Zeit. Das, was wir als Orthodoxie bezeichnen, ist im zweiten Jahrhundert das Ergebnis zusammenlaufender Aktivitäten verschiedener Gemeinschaften und Denker.) So wie der Ausdruck der Lebendigkeit und die Meinungsverschiedenheiten der Gemeinde in Kleinasien Probleme bereiteten, so scheinen die innerkirchlichen Spannungen, die das Problem des Ostertermins betrafen (feststehendes Datum 14. April oder ein bewegliches Datum?) und das Problem der Wiedertaufe der Häretiker nicht weniger schwerwiegend gewesen zu sein.

Es ist sicher, dass sich die Bischofssynoden im Zusammenhang mit all diesen die Lehre, die Liturgie und die Suche nach Einheit in Fragen der Disziplin und Moral betreffenden Problemen entwickelt haben. Wir erwähnen bloss, dass die ersten acht Ökumenischen Konzilien auf heute türkischem Boden stattgefunden haben. (Aufgrund dieser kurz erwähnten Hinweise können wir mit A. Harnack übereinstimmen, der schreibt, dass „alle grossen Entwicklungen der christlichen Religion im zweiten Jahrhundert ihren Ausgang in Kleinasien haben und hauptsächlich hier die grossen Kämpfe der Kirche ausgetragen wurden”).

Märtyrer in Kleinasien

Hier fand das Christentum zahlreiche Gläubige, die ihren Glauben mit ihrem Blut bezeugten. Welches waren die Tausende von Märtyrern dieser Region? Die Frage muss ohne Antwort bleiben. Und doch kann man die Enttäuschung darüber mildern, wenn man das Martyrologium mustert oder sich zumindest an ein paar Namen erinnert: Antipas, der einzige namentlich erwähnte Märtyrer in der Offenbarung, Ignatius von Antiochien, Polykarp von Smyrna, Lukian, die ganze Gemeinde von Eumeneia, die an einer Kultstätte lebendig verbrannt wurde, der heilige Blasius und die 40 Märtyrer von Sebaste.

Die Gemeinden von Kleinasien haben aber nicht nur Märtyrer hervorgebracht. Die Bücher der Kirchengeschichte weisen eine Fülle von Namen von Bischöfen, kirchlichen Schriftstellern und Theologen auf, die hier gelebt haben. Wir brauchen nur an Theophilus von Antiochien zu denken oder an Meliton von Sardes, Irenäus von Lyon, gebürtig aus Smyrna, Methodius von Olympus, Nikolaus von Myra, Gregor der Wundertäter, Basilius von Caesarea, Gregor von Nyssa oder Gregor von Nazianz. Ausserdem die grossen Theologen der antiochenischen Schule, in besonderer Weise Johannes Chrysostomus. Darüber hinaus noch die wichtigsten Vertreter der syrischen Kirche und Theologie: Aphrahat und Ephräm der Syrer und die Historiker des Urchristentums Philippos von Side, Sokrates und Sozomenos.

Es mag sein, dass diese Reihe von Namen, die wir noch beliebig erweitern könnten, wenig aussagt. Doch bleibt durch diese Namen die Tatsache in Erinnerung, dass das Gebiet der heutigen Türkei der Ort war, an dem sich das Christentum der Welt geöffnet hat und im wahren Sinn des Wortes katholisch, das heisst allumfassend geworden ist. Hier wäre auch daran zu erinnern, wie das christliche Byzanz seit der Spätantike, ein Element geworden ist, das wesentlich die westliche Identität mitbegründet hat. In der Tat, durch die missionarische Ausbreitung des byzantinischen Christentums haben sich die Grenzen Europas bis zum Balkan und nach Russland ausgebreitet. Man kann deswegen nicht vergessen, dass das kulturelle christliche Erbe Europas auch in Byzanz eine seiner Quellen hat.

Die Türkei und das Christentum heute

Wenn man sich diese Betrachtungen vergegenwärtigt und die aktuelle Situation der Christen in der Türkei betrachtet, könnte man traurig werden aufgrund der Tatsache, dass sich im letzten Jahrhundert die Zahl der Christen verschiedener Konfessionen von über 20 Prozent auf etwa 0,15 Prozent reduziert hat, vor allem konzentriert auf die grossen Zentren Istanbul, Smyrna und Mersin. Diese Stimmung wird verstärkt, wenn man durch Städte und Dörfer zieht und erkennen muss, dass die meisten Kirchen in Museen, Moscheen, Schulen, Bibliotheken oder gar Scheunen umgewandelt wurden.

Als Beispiel möchte ich nur erinnern, dass am Schwarzen Meer noch Ende des 19. Jahrhunderts – ohne die orthodoxen und armenischen Kirchen und Klöster zu zählen – acht Kirchen in Händen der Kapuziner lagen (Samsun, Trabzon, Inebolu, Sinope, Varna, Burgas, Constanza, Kiresun und dazu noch Erzurum). Aktuell sind es heute lediglich noch zwei Kirchen in Samsun und Trabzon mit knapp zehn Katechumenen und fünf oder sechs getauften Katholiken vor Ort. Die anderen wenigen Christen sind verstreut, ohne geistlichen Beistand. Ich habe armenische Christen kennen gelernt, die sonntags 50 Kilometer nach Samsun zur Messe fahren.

Ein grosser Teil der Christen sind Moslems geworden, um nicht diskriminiert zu werden und jetzt sind sie weder Christen noch Moslems. Das Verschwinden der Kirchen und die Abnahme der Gläubigen führte auch dazu, dass kirchliche Institutionen (Krankenhäuser, Hospize und Schulen) geschlossen werden mussten – das sowohl, weil weniger Personal zur Verfügung stand als auch aufgrund der fehlenden staatlichen Unterstützung, die nicht jenen Richtlinien entspricht, die 1923 in Lausanne festgelegt wurden.

In dieser Minderheitensituation hat die Kirche in der Türkei folgende Kontur behalten: Es gibt die Erzdiözese Izmir, die Apostolische Vikariate Istanbul und Anatolien mit Sitz in Iskenderun (alle drei lateinischer Ritus); die Armenisch-Katholische Kirche hat eine Erzdiözese; ebenso die Chaldäische Kirche; die Syrisch-Katholische Kirche verfügt über ein Patriarchal-Vikariat). Ausser den Bischöfen von Izmir und Anatolien residieren alle in Istanbul.

Katholische Kirche in Iskenderun, die Bischofskirche des Apostolischen Vikars von Anatolien. Von 2004 bis zu seiner Ermordung 2010 war dies Bischof Luigi Padovese.

Ich möchte meine aktuellen Ausführungen nicht auf die gesamte Türkei ausdehnen, sondern ich beschränke mich auf das Vikariat von Anatolien, welches rund 480 000 Quadratkilometer umfasst und auf dessen Territorium sich die folgenden antiken Stätten christlichen Lebens befinden: Pontus, Teile von Armenien und Galatien, Kappadozien, Kilikien, ein Teil des antiken Syrien und der gesamte Osten bis zu den Grenzen Georgiens, Armeniens, des Iran und Irak und Syriens.

Die Gläubigen leben zum grossen Teil im Süden. Neben den beiden Pfarreien am Schwarzen Meer (Trabzon und Samsun) sind wir noch in Kappadokien beheimatet, und zwar haben wir dort zwei Häuser für Gebet und Exerzitien. Davon wurde allerdings eines – zugegebenermassen zu Recht – geschlossen, da sich in diesem Fall die Kirche nicht an das örtliche Recht gehalten hatte.

Andere Pfarreien befinden sich in Mersin, Adana, Iskenderun und Antiochien (Antakya). Für die ersten drei laufen noch Prozesse bezüglich der Eigentümer der Kirche. Was die Pfarrei von Adana betrifft, habe ich die Kirche am 28. September 2005 geschlossen und die zwei Priester zurückgezogen als Zeichen des Protestes gegenüber den örtlichen Autoritäten, weil sie es an einer entsprechenden Anwendung des Gesetzes haben fehlen lassen; denn dieses sieht wenigstens 10 Meter Distanz der Kultorte von Restaurants und Diskotheken vor. Die Kirche aber liegt fast direkt an diesen Lokalen und jede Feier am Nachmittag ist unmöglich aufgrund des Lärms. In dieser Lage sehe ich eine Uneinigkeit zwischen der zentralen Macht und den lokalen Behörden, bei denen noch die Gunst beim Volk, eigene Interessen und Willkür vorherrschen.

In Tarsus wohnen in einer Mietwohnung drei Schwestern, die Pilger für die einzige Kirche aufnehmen, die mittlerweile ein Museum ist, für das man Eintritt bezahlen muss. Auch die Grotte des heiligen Petrus in Antiochien wurde zu einem Museum umgewandelt, obgleich sie dem Heiligen Stuhl gehört. Wer sie besuchen will, muss Eintritt zahlen. Eine weitere Mietwohnung, die momentan leer steht, befindet sich in Sanliurfa, dem antiken Edessa, nahe bei Harran.

Beim Van-See lebt schliesslich eine italienische Familie, die für das Vikariat arbeitet und den Dialog durch ihr Leben mit den Moslems bezeugt, vor allem mit den Kurden, die dort die Mehrheit der Bevölkerung darstellen; aber auch mit den verfolgten Iranern und mit der verbliebenen christlichen Minderheit.

Ich möchte daran erinnern, dass in der Zeit von 1912 bis 1915 der östliche Teil Ostanatoliens von Millionen armenischer Christen und von Georgiern und der westliche von syrischkatholischen und orthodoxen Christen besiedelt war. Eine beträchtliche Anzahl von ehemaligen Kirchen ist geblieben, teilweise sogar in gutem Zustand. Allerdings gibt es dort keine Priester mehr. Die Betrachtung des Rückgangs der Zahl der Christen, vor allem der Katholiken, und der Prozesse, die gerade vonstatten gehen, erlaubt mir, auf die heutigen Probleme der Gemeinden von Anatolien (wie in der gesamten Türkei) hinzuweisen.

Der Vertrag von Lausanne

Zunächst ein Schritt zurück in die Geschichte, und zwar zum Vertrag von Lausanne, der von den europäischen Mächten der damaligen Zeit am 24. Juli 1923 unterzeichnet wurde: Im dritten Teil, der mit „Der Schutz der Minderheiten” (Artikel 37 bis 45) betitelt ist, verpflichtet sich die Türkische Republik, „allen Bewohnern der Türkei ohne Ansehen von Herkunft, Nationalität. Sprache, Rasse oder Religion umfassenden Schutz des Lebens und der Freiheit zu garantieren” (Art. 38, Abs. 1). Sie garantiert „allen Bewohnern der Türkei … ohne Unterschied aufgrund von Religion” Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 39 Abs. 2). Sie sichert zu, dass „türkische Staatsangehörige, die nicht-muslimischen Minderheiten angehören … vor dem Recht und in der Praxis die gleiche Behandlung und Sicherheit erfahren wie die anderen türkischen Staatsbürger” (Art. 40 Satz 1). Ausserdem verpflichtet sie sich, „den Kirchen, Synagogen, Friedhöfen und anderen religiösen Institutionen der nicht-muslimischen Minderheiten vollen Schutz zu garantieren” (Art. 42, Abs. 3, Satz 1).

An diesem Punkt gilt es zu präzisieren, denn nach enger türkischer Auslegung spricht der Vertrag von Lausanne – übrigens illegitim – von Minderheiten und meint damit lediglich die armenischen, bulgarischen, griechischen und jüdischen Gemeinden. Die arabisch sprechenden Christen, die unierten, die syrisch-orthodoxen und jene des lateinischen Ritus – und sie waren alle 1923 in der Türkei vertreten – werden im Sinne des Vertrags von Lausanne – so verstehen es die türkischen Behörden – nicht als Minderheit anerkannt und sind somit keine rechtliche Körperschaft, sie sind ohne Rechtsstatus. Damit werden auch die Bischöfe vom Staat nicht als solche anerkannt, auch wenn die lokalen Autoritäten sie als Oberhaupt der jeweiligen Gemeinde ansehen.

Es muss dazu gesagt werden, dass auch die nicht-muslimischen Minderheiten, die im Vertrag von Lausanne behandelt werden, – so wie die griechischorthodoxen Christen keinen Anspruch auf eine jurisdiktionelle Körperschaft haben. Nach türkischer Überzeugung würde das dem Prinzip der Laizität widersprechen.

Es ist einfach aufzuzeigen, was die Folgen dieser Situation sind. Ich zähle einige auf: Als nicht rechtliche Körperschaft haben die Orden und Kongregationen kein Recht, Güter zu besitzen, zu kaufen oder zu unterhalten. Lediglich jene Güter, die den Gemeinschaften schon vor dem Vertrag von Lausanne gehörten, durften weiterhin in deren Besitz bleiben – allerdings unter der Bedingung, dass sie unter dem Namen einer einzelnen Person oder einer Gründung und nicht des Ordens registriert wurden. Sobald der Besitzer stirbt, erlischt die Aktivität bzw. werden die Güter nicht mehr für jenen Zweck verwendet, für den sie ursprünglich erbaut wurden, sie werden von der öffentlichen Hand konfisziert, der Gewinn fällt der Staatskasse zu.

Da die Kirchen keine rechtliche Körperschaft bilden, existieren sie de facto für den Staat nicht. Das bedeutet: es ist ihnen untersagt, Orte für den Gottesdienst zu errichten, konfessionelle Schulen oder gar Priesterseminare zu gründen. Wenn wir über die Seminare reden, erinnere ich daran, dass 1971 alle privaten Universitäten und Schulen verstaatlicht wurden. Das führte ebenfalls zur Schliessung der theologischen orthodoxen Fakultät von Halki und erst in jüngerer Zeit zur Schliessung des kleinen Seminars der Kapuziner in Mersin.

Die Bemühungen von Patriarch Bartholomäus, die Orthodoxe Akademie wieder zu öffnen, stiess auf harten Widerstand der türkischen Autorität, die es bevorzugt, die theologische Fakultät an der Universität von Istanbul sessional zu beheimaten, natürlich mit dem Recht der Kontrolle über die Vorlesungsveranstaltungen.

Diesbezüglich dürfte in den nächsten Monaten vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg ein Urteil im Rechtsstreit zwischen dem Ökumenischen Patriarchen und dem türkischen Staat betreffs der Religionsfreiheit ergehen. Gemäss dem Arbeitsrecht führt das kirchliche Personal in der Türkei eine Arbeit im Abhängigkeitsverhältnis aus, nämlich im Dienst der Kirche. Wenn diese indes keine rechtliche Körperschaft besitzt, kann sie auch keine Menschen beschäftigen. Diese Tatsache erleuchtet, warum unser Visum jährlich erneuert werden muss, während jenes anderer europäischer Bürger nur alle drei oder fünf Jahre abläuft.

Nach 13 Monaten habe ich immer noch nicht meine Arbeitsgenehmigung bekommen. Auch das Visum, das nur ein Jahr gelten wird, steht noch aus. Wie ist es aber möglich, dass man nicht die gleichen Rechte besitzt, wenn man sich innerhalb der EU von einem Land ins andere begibt? Die Türkei gehört bereits dem Europarat an und in den nächsten zwei bis fünf Jahren wird sie als Partner der EU eine besondere Rolle einnehmen.

A propos Klerus: lediglich Priester und Bischöfe des lateinischen Ritus dürfen Ausländer sein; alle anderen müssen türkische Staatsbürger sein. So auch der Ökumenische Patriarch, der von der Synode von Konstantinopel gewählt, aber nur mit dem Placet des Gouverneurs von Istanbul. Noch bezeichnender ist der Fall in der Syrischkatholischen Kirche, deren Chorepiscopos (ein Priester mit bischöflicher Würde) Yusuf Sag der einzige türkische Kleriker ist. Wird es einen Nachfolger geben? Unwahrscheinlich! Es gibt bloss eine Ausnahme: der alte armenische Erzbischof hat als Koadjutor einen libanesischen Bischof, der schon 70 Jahre alt ist und ohne Kenntnisse der türkischen Sprache.

Zu diesen Beschreibungen über die Bedingungen der Christen möchte ich ergänzend die feindliche Haltung erwähnen, die von einem Teil der Presse ausgeht, welche sich darum müht, Misstrauen gegenüber den Christen zu wecken. Ich erinnere nur an das hohe Interesse und die Medienaufmerksamkeit über vermeintliche Sexualskandale in Adana und Samsun. Nachdem das Gericht die Nichtigkeit der Anklage anerkannt hatte, war davon in der Öffentlichkeit kaum noch etwas zu vernehmen.

Schliesslich möchte ich auf den journalistischen Eifer hinweisen, den christlichen Proselytismus darzustellen, indem daraus ein riesiges Phänomen gemacht wird, das im letzten lediglich einige Gruppierungen betrifft, die sich nur im weitesten Sinn als Christen bezeichnen können. Ich denke, diese Sichtweise des christlichen Proselytismus entspringt nicht einer Angst vor einer Christianisierung der Türkei als vielmehr der eigenen Identitätsfindung, indem man sich mehr oder minder klare Feindbilder schafft. Wenn man diese Situation betrachtet, erkennt man schnell, dass die von Kemal Atatürk behauptete Laizität des türkischen Staates und die Neutralität gegenüber den Religionen noch längst nicht umgesetzt sind.

Die Türkei und die Europäische Union

Die Kommission zur Erweiterung der EU bestätigt diesen Zustand. Der Bericht über die Türkei für das Jahr 2004 macht deutlich, dass die Religionsfreiheit in diesem Land noch sehr wenig entwickelt ist, obwohl doch das Prinzip der Religionsfreiheit ein wesentliches Element der EU ist.

Es sind noch einige Schritte zu gehen, bis die Kirche als rechtliche Körperschaft anerkannt wird: Rückgabe der konfiszierten Güter, Tilgung der religiösen Zugehörigkeit auf dem Ausweis, und eine effektive Anerkennung der Minderheitenrechte, nicht nur der Christen. Man denke nur an die „Aleviten”, die 15 bis 20 Prozent der türkischen Bevölkerung ausmachen und dennoch diskriminiert werden.

Es bleibt zu hoffen, dass sich die Situation bessert; Premierminister Erdogan macht zumindest Schritte in diese Richtung. Aber auch er hat zu kämpfen gegen den „zweiten Staat” oder – wie er von den örtlichen Beobachtern bezeichnet wird – den tieferen Staat. Es ist der Nationale Sicherheitsrat, der in alledem nicht seine Macht des Einschreitens, seine Geheimdienste und seinen bürokratischen Apparat verloren hat, und der kemalistischen, nationalistischen Tendenzen zuzuordnen ist. Widerstand kommt auch vom Vorstand der Stiftungen und vom Schatzministerium wegen der konfiszierten Kirchengüter, die von den Kirchen zurückgefordert werden könnten.

Die Ausrichtung auf mehr Demokratie und eine effektive Freiheit geht vor allem von den Verhandlungen der Türkei für den EU-Beitritt aus. Sie wird an Bedeutung gewinnen, wenn man die Meinung vorlebt, dass jeder – unabhängig von seiner religiösen Ausrichtung, egal ob Christ, Moslem, Sunnit oder Alevit – ein guter türkischer Bürger sein kann: Das heisst, wenn der türkische Nationalismus, der dem Land den Zusammenhalt gegeben hat, in der Lage sein wird, mit einem weltanschaulichen Pluralismus zu koexistieren.

Zusammengefasst, dann wenn der laizistische (religiös unabhängige) Staat, der von Atatürk gewollt ist, nicht nur ein Wunschgedanke bleibt, sondern fähig sein wird, Demokratie mit Pluralismus zu verbinden, da doch gerade der Pluralismus Demokratie konstituiert. Um dahin zu kommen reicht es nicht, die Gesetzgebung zu ändern; vielmehr müssen Vorurteile gegenüber Europa ausgeräumt werden – so wie in Europa die Vorurteile gegenüber der Türkei.

Nach meiner Meinung kennen beide Seiten einander zu wenig und wissen zuwenig voneinander; man nährt aber zugleich das Misstrauen und die Angst durch die erlebte Geschichte, dass die Religion vom Staat instrumentalisiert wurde und wird, um politische und ethnische Ziele durchzusetzen. An diesem Punkt kann man nun fragen: Was kann ein Bischof in der Türkei machen? Ich persönlich habe bezeichnende Aktionsfelder herausgearbeitet: Neben der Aufgabe, die Rechte der katholischen Gemeinde zu schützen, glaube ich, liegt ein fruchtbares Feld im Dialog mit der türkischen Kulturwelt.

Schon seit Jahren veranstalte ich – früher als Dekan der Päpstlichen Universität Antonianum zu Rom – Symposien über den heiligen Johannes und den heiligen Paulus in Ephesus und in Tarsus, mit türkischen Professoren. Seit 2004 werden diese Symposien in Zusammenarbeit mit der Universität Mustafa Kemal in Antiochien gestaltet.

Ein Arbeitsfeld betrifft die Kontakte mit der orthodoxen Welt. Vor allem im Süden, wo ich auch lebe, gehen die Beziehungen über eine formale Höflichkeit hinaus. Beispielsweise feiern die Katholiken von Antiochien gemeinsam mit den Orthodoxen.

In einer komplexen Realität, wo orthodoxe, katholische, armenische, melchitische, maronitische, chaldäische und syrisch-orthodoxe Christen untereinander heiraten, kann die Trennung nicht mehr einseitig abgesteckt werden. Demjenigen, der mir sagte, die Kirche müsse den Proselytismus vermeiden, rufe ich zu: Wir verstehen uns als Hilfe und Werk der Liebe und nicht als Eroberer.

Ein weiteres Arbeitsfeld betrifft die islamischen Familien, die im letzten Jahrhundert ihren christlichen Glauben nicht aus Überzeugung wechselten, sondern um der Diskriminierung zu entgehen. Die Erinnerung an die Ursprünge hat einige dazu bewegt, sich aufgrund der Erzählungen der Grossväter für die Taufe anzumelden. Wenn man in Betracht zieht, dass im Osten und Norden der Türkei Tausende von Kryptochristen leben, kann man darauf hoffen, dass eine soziale und politische Veränderung zugleich zu einem Wiederaufleben des Christentums führt.

Zusammengefasst: Ich bin gegenüber der türkischen Situation nicht pessimistisch. Es ist natürlich wichtig, die Christen immer wieder aufzusuchen, sie zu unterstützen, damit sie ihren Glauben nicht anonym leben oder gar in die Indifferenz verfallen. Mein Eindruck ist: die Bischöfe, Priester und Ordensleute sind momentan – wenn sie nicht resigniert sind – die einzigen Träger des Namens „christlich”. Die Laien haben sich in der Mehrzahl daran gewöhnt, im Schatten zu bleiben, ohne sich bemerkbar zu machen. Wenn man in dieser Hinsicht einen Ansporn geben will, muss man sich um die Universitätsbildung junger begabter Christen kümmern, allerdings sind die finanziellen Mittel gering.

Was in der Türkei fehlt, ist eine christliche intellektuelle Elite, die in der Lage ist, in die akademische und politische Welt einzudringen. Mit Freuden habe ich erfahren, dass der Bürgermeister von Arsuz, einer kleinen Stadt in der Nähe von Iskenderun, ein Christ ist. Das ist allerdings ein Einzelfall.

Ich halte es für unerlässlich und ich habe es mir als Ziel gesetzt, die katholische Kirche in der türkischen Gesellschaft mit allen Mitteln der gesellschaftlichen Kommunikation (Website, Radio, Presse) präsent zu machen – nicht nur um die einseitigen Darstellungen des Christentums zu kontrastieren, sondern denen, die daran interessiert sind, die tatsächlichen Inhalte der christlichen Botschaft zu Gehör zu bringen. Vor allem Jugendliche zeigen grosse Neugierde und grosses Interesse, indem sie ständig im Internet surfen. In Iskenderun gibt es zahlreiche Internet Cafe, die jenen, die kein Internet zu Hause haben, den Zugang dazu ermöglichen.

Ich kann nur aus eigener Erfahrung sagen: man wird dieses Land lieben, sobald man dorthin reist und erlebt, wie sich die Türen für einen öffnen. Misstrauen erwächst aus mangelndem Kontakt und aus Angst vor dem Anderen. Bei allen nationalistischen Neigungen, die es wohl gibt, muss ich frei heraus anerkennen: die Türken sind ein sehr gastfreundliches Volk. Sie haben ein gutes Gespür für wahre Freundschaft. Mit Wohlwollen haben sie mich aufgenommen. Papst Johannes XXIII. lebte neun Jahre als Apostolischer Delegat in der Türkei und wird noch heute immer wieder als „Freund der Türken” erwähnt.

Ich glaube, dass der Weg eines je besseren Kennenlernens und der Freundschaft der einzige zu gehende Weg ist, sowohl um die Zukunft der christlichen Gemeinde zu sichern als auch zur möglichen Integration innerhalb der Europäischen Union beizutragen. Ob wir es wollen oder nicht, wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Epoche, die mit dem Bau der Chinesischen Mauer, dem Limes und dem Hadrianswall begonnen hat und mit der Berliner Mauer geendet hat, überwunden ist. In diesem globalen Raum beginnen alle Grenzen zu fallen. Es heisst, dass Grenzen nicht gezogen werden, um Unterschiede zu trennen, sondern sie werden gezogen, damit Unterschiede entstehen (Fredrik Barth).

Persönlich weiss ich nicht, ob und wann die Türkei Teil der Europäischen Union sein wird, aber unabhängig davon glaube ich, dass ein Christ die Augen vor dem, was passiert, nicht schliessen darf. Die Blockmentalität wird überwunden, wenn wir die neue gesellschaftliche Situation als ein Zeichen der Zeit verstehen, als ein Gnadengeschenk im Geiste Jesu, der die Mauern der Trennung niedergerissen hat, um einen neuen Menschen zu schaffen und Frieden zu bringen (vgl. Eph 2,14-17).

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