„Wann wird die Weltgemeinschaft endlich aufwachen?“

Im syrischen Aleppo nimmt das Leid der Menschen immer mehr zu.  „Kirche in Not“ hilft bei der Notversorgung

kain und abelQuelle
Aleppo

Von Tobias Lehner

Im März ging der Syrienkonflikt in sein sechstes Jahr. Über eine halbe Million Menschen hat durch den Krieg ihr Leben verloren, berichtet das Syrische Zentrum für Politikforschung. Nach UN-Angaben sind rund acht Millionen Syrer innerhalb des Landes auf der Flucht, über vier Millionen suchten Zuflucht im Ausland, in erster Linie im benachbarten Libanon und dem Irak, viele auch in Europa.

Immer im Zentrum des Kampfgeschehens: Aleppo, eine Viertelmillionenstadt im Norden Syriens. Einst eine wohlhabende Handelsmetropole, ist sie heute weitgehend eine Trümmerwüste. Über 150.000 Christen lebten hier einst – „und zwar in friedlicher Nachbarschaft mit den Muslimen“, betont Antoine Audo, der chaldäisch-katholische Bischof von Aleppo, gegenüber dem weltweiten katholischen Hilfswerk „Kirche in Not“. Heute harren noch etwa fünfzigtausend Christen in der Stadt aus. Geblieben seien vor allem die Ärmsten der Armen.

Grosse Hoffnungen lagen auf den Genfer Friedensgesprächen, die Anfang 2016 begannen. Nach mehrmaligem Zögern, Vertagen und diplomatischem Gezerre konnten sich die Kriegsparteien auf eine Waffenruhe einigen. Das leidgeprüfte Land atmete auf. Doch bereits Mitte April musste Bischof Audo feststellen: „Die Waffenruhe gilt in Aleppo nicht mehr.“ Die Kämpfe zwischen Regierungs- und Rebellentruppen flammten neu auf. Teile der Stadt gerieten in die Hand von islamistischen Kampfverbänden des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) und der Al-Nusra-Front. Sie steht der Terrororganisation El Kaida nahe. „Das sind aus dem Ausland finanzierte Truppen. Sie wollen durch Beschuss Angst und Schrecken verbreiten“, erklärt Audo. Eine Sonder-Waffenpause für Aleppo wurde vereinbart, mehrfach verlängert. Wie es weitergeht, kann niemand abschätzen.

Der Bischof blickt mit grosser Sorge auf seine Gemeinde: „Wenn die Lage so bleibt, werden noch mehr Christen die Stadt verlassen.“ Er könne verstehen, wenn gerade die jungen Menschen im Ausland eine bessere Zukunft suchten. Dennoch würde er sich wünschen, dass die Bevölkerung im Land bleibt, um gemeinsam nach dem Krieg Syrien wieder aufzubauen. Denn: „Für uns ist nicht der Westen das Paradies. Syrien ist das Paradies.“ Für die christliche Präsenz im Land sei es ein Ringen „um Leben und Tod.“

Franziskanerpater Ibrahim Alsabagh erlebt dieses Ringen Tag für Tag. Er leitet eine Pfarrei in Aleppo – oder was davon noch übrig ist. „Mir fehlen die Worte, als das Leid zu beschreiben. Wann wird die Weltgemeinschaft endlich aufwachen und dem ein Ende bereiten?“ Nicht nur die leiblichen, auch die seelischen Wunden der Menschen nähmen immer mehr zu: „Die Nervenzusammenbrüche infolge des Krieges steigen. Es ist ein Elend“, erklärt Pater Ibrahim.

Selbst wenn die Waffen einmal für Stunden oder – selten genug – ganze Tage schwiegen, sei der Alltag äusserst hart. „Eine Familie in Aleppo benötigt im Monat rund siebzehntausend syrische Lire (umgerechnet etwa 68 Euro), um zu überleben. Doch nicht einmal das steht allen Menschen zur Verfügung“, sagt Pater Ibrahim. Auch viele Familien, die früher wohlhabend waren, seien heute verarmt. „Aus meiner Pfarrei mussten in den letzten Wochen fünfzehn Menschen ins Krankenhaus, weil sie wegen Mangelernährung in Lebensgefahr schwebten“, berichtet der Pater. Er und seine Mitbrüder packen an, wo sie können: „Wir unterstützen die Menschen bei notdürftigen Reparaturen ihrer beschädigten Häuser oder helfen ihnen dank der Hilfe von ,Kirche in Not‘ mit Nahrung, Kleidung, Medizin und Hygieneartikeln.“ Ausdrücklich dankte Pater Ibrahim den Wohltätern aus dem Ausland: „Ohne Ihre Hilfe könnten wir nichts tun.“

Das betrifft auch Dinge des täglichen Lebens, die im Westen fast banal erscheinen. „Die schlechte Stromversorgung gehört zu unseren grössten Problemen“, sagt Pater Ibrahim. „Um nur zwei Lampen oder das Radio zu betreiben, braucht eine Familie Strom der Stärke zwei Ampere. Da die privaten Stromfirmen überhöhte Preise verlangten, könnten sich viele Familien nicht einmal diese Minimalversorgung leisten, geschweige denn eine Waschmaschine nutzen. Der Franziskanerpater hat sich deshalb eine pragmatische Lösung einfallen lassen und das Projekt „Zwei Ampere für jede Familie“ ins Leben gerufen. „Kirche in Not“ unterstützt ihn dabei. Es sei ihm bewusst, dass dies nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist, sagt Alsabagh. „Aber es ist eine Hilfe, die auch psychologischen Wert hat und einen Ausdruck unserer Solidarität mit den Ärmsten darstellt. Wir wollen ihnen helfen, in Würde zu leben.“
Ein Leben in Würde für die vom Krieg heimgesuchte Bevölkerung – dafür setzt sich auch die Ordensfrau Annie Demerjian zusammen mit ihren Mitschwestern von der „Gemeinschaft Jesu und Mariens“ ein. Sie verteilt Lebensmittel und Medikamente und hat eine Kleiderkammer eingerichtet. So hat sie etwa im vergangenen Winter zehntausende warme Jacken, Pullover und Hosen verteilt. „Kirche in Not“ half ihr bei der Finanzierung. Sie hätte einheimische Schneider mit der Herstellung beauftragt, so Schwester Annie. Diese seien dankbar gewesen, dass sie endlich wieder Arbeit und Auskommen hatten. Denn: „Wenn wir wollen, dass die Christen im Nahen Osten bleiben, dann müssen wir ihnen vor Ort eine Perspektive geben.“

Neben der humanitären Hilfe sei es aber genauso wichtig, ein offenes Ohr für die Nöte der Menschen zu haben, erklärt die Ordensfrau. In bedrückender Erinnerung ist ihr ein Gespräch mit einem orthodoxen Christen. Diese feierten in diesem Jahr ihr Osterfest am 1. Mai, auf dem Höhepunkt der neuerlichen Bombardierungen. Der Mann habe zu ihr gesagt: „Überall auf der Welt bekommen die Kinder zu Ostern Geschenke. Hier bekommen sie Särge.“ Es sei unendlich traurig, so etwas zu hören.

Trotz allen Leids: Die Solidarität der Christen sei in dieser schweren Zeit gewachsen, berichtet Pater Ibrahim Alsabagh. Die Lage der Christen in der „Hölle von Aleppo“ sei mit der des Apostels Paulus zu vergleichen, wie es die Apostelgeschichte berichtet: „Paulus und Silas waren wegen ihres Glaubens im Gefängnis. Aber durch ihre Gebete wurden sie befreit. Sie haben das schreckliche Gefängnis zu einem Ort des Gebetes gemacht.“ So gelte es für ihn und seine Glaubensgeschwister, von Aleppo aus ein Zeugnis des Ausharrens und der Liebe in die Welt zu senden, so Pater Ibrahim. Das Kreuz, das die Christen jetzt trügen, sei sehr schwer. „Aber es schafft auch eine Gemeinschaft mit Gott und untereinander, wie ich sie vorher nie erlebt habe.“

Und Bischof Antoine Audo ist zuversichtlich, dass die gelebte Nächstenliebe den Dialog mit dem Islam neu befruchten könne. Denn die muslimische Bevölkerung Aleppos leide genauso unter dem Terror der Islamisten wie die Christen. „Die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen haben sich in dieser Situation sogar noch gefestigt: Sie akzeptieren uns wegen unserer karitativen Arbeit und weil wir allen helfen. Es gibt unzählige berührende Beispiele von staatlicher Seite wie von einfachen Menschen, die uns für unsere Arbeit danken.“ Syrische Christen, aber auch die weltweiten Wohltäter, könnten damit ein Zeugnis für die christliche Frohbotschaft ablegen, erklärt der Bischof und fordert: „Die Ohren des Westens sollten nicht taub bleiben gegenüber dem Schrei der Christen in Syrien. Ihr Schrei der Verzweiflung in der Bedrängnis ist die Stimme Gottes für alle Länder.“

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