Der Kardinal im Haus des Dichters

Interview mit dem Präsidenten des Päpstlichen Rats für die Kultur

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„Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch in den radikalsten Positionen der Fernstehenden eine ehrliche Bitte an die Kirche mitschwingt: dass sie wieder damit beginnen soll, von der Substanz ihrer Botschaft zu sprechen, nämlich von Gott. Und dabei kann uns Dante behilflich sein.“

Ein Gespräch mit Kardinal Gianfranco Ravasi.

Interview mit Kardinal Gianfranco Ravasi von Paolo Mattei

Seit fast 100 Jahren kann man jeden Sonntagmorgen in Rom die Stimme Dantes vernehmen. Seit 1914, als illustre italienische Dantisten damit begonnen haben, die Göttliche Komödie nachzuspielen und zu kommentieren, vermischen sich in dem pittoresken altrömischen Stadtviertel Trastevereihre Terzinen mit dem Klang der Glocken. Hier steht auch der imposante Palazzo Anguillara aus dem 15. Jahrhundert, der heutige Sitz des Dante-Hauses. Dieser 1913 auf Initiative des damaligen Aussenministers pro tempore, Sidney Sonnino, gegründete „a-politische, uneigennützige Kulturverein“ organisiert seit einem knappen Jahrhundert nicht nur Konferenzen und öffentliche Lesungen der Werke des italienischen Nationaldichters, sondern koordiniert auch Aktivitäten, die – wie es im Statut heisst – „Leben, Epoche und Werk Dantes besser bekannt machen sollen“. Im Februar dieses Jahres löste Kardinal Gianfranco Ravasi den (nun ehrenamtlichen) Vereinsvorsitzenden Senator Giulio Andreotti ab.

Kardinal Ravasi, der berichtet, das ihm angetragene Amt mit „grossem Staunen, aber auch mit grosser Freude“ angenommen zu haben, ist der Präsident des Päpstlichen Rats für die Kultur. Besagter Rat hat erst vor Kurzem ein wissenschaftliches Organisationskomitee eingerichtet, das mit den Feiern zum 700. Todestag Dantes befasst ist, der sich 2021 jährt. Eine Gelegenheit – wie der Kardinal meint – um „eine Synergie zu schaffen zwischen kirchlichen und zivilen Institutionen.“

Wir haben ihn gebeten, uns ein paar Fragen zu dem Florentiner Dichter – und nicht nur zu ihm – zu beantworten.

Eminenz, wie ist Ihre Liebe zu Dante entstanden?

Gianfranco Ravasi: Gewiss nicht wegen meiner technischen oder akademischen Fähigkeiten – mein Werdegang war nämlich ein ganz anderer. Es handelte sich vielmehr um eine ideelle und spirituelle Symbiose, die auf zwei Faktoren zurückging: zunächst einmal auf meine Leidenschaft für die Dichtung, die ich bereits seit meiner Jugend hege. Ich habe mich immer schon oft und gerne mit der Dichtung befasst – jeder Art von Dichtung, auch mit ausländischen Dichtern. Der zweite Grund dagegen war ein reiner „Glücksfall“: in der Gymnasialzeit am Mailänder Seminar hatte ich einen Literatur- Professor, der ganz besessen war von Dante. Zu seiner Bibliothek gehörte eine beeindruckende Sammlung von Kommentaren der Dante-Werke, weshalb sein Literaturunterricht auch immer stark eingefärbt war von den verschiedenen Betrachtungsweisen dieser Kommentatoren. Er war darum bemüht, uns immer wieder neue Denkanstösse zu geben, unseren Horizont zu erweitern. Ich stehe sehr in seiner Schuld, denn er hat mich gelehrt, Dante nicht nur mit Liebe zu lesen, sondern auch mit der Strenge, die für die Dichtkunst unabdingbar ist.

Wie meinen Sie das?

Man darf die Dichtung nicht als die instinktive und spontane Sprache der vielen Dichter verstehen, die eine Unmenge freier Variationen zu Rosen und Tautropfen komponieren… Sie ist der Gipfel der Rationalität, eine höhere, transzendente Logik, die ihre eigene Grammatik hat, ihre eigene aussergewöhnliche Strenge. Denken wir nur daran, wie wichtig für Dante die geometrische Präzision der Verse war, die Einhaltung der Akzente und Zäsuren, die sorgfältige Auswahl der Reime… Ohne diese Sorgfalt kommt auch die Musik nicht aus. Nehmen wir beispielsweise Bach. Einige seiner Kompositionen sind wie „Kathedralen“ – ein Vergleich, der oft auch für die Göttliche Komödie verwendet wird. Manche seiner Werke beginnen mit einer musikalischen „Fiale“, die letztendlich als notwendiger Parallelismus wiederkehrt.

Haben Sie Ihr Interesse für das Werk des Florentiner Dichters nach der Gymnasialzeit weiter gepflegt?

Ja, es war mir immer wichtig, mir die Zeit zum Lesen der Verse der Göttlichen Komödie zu nehmen. Und dabei hatte ich schliesslich ein so gutes Vorbild wie Giovanni Galbiati, meinen Vorgänger in der Ambrosianischen Bibliothek. Er hatte sich einen kleinen Turm bauen lassen – den ich später zu meinem Privatbüro umfunktionierte –, und dorthin zog er sich jeden Tag zurück, um einen Gesang der Göttlichen Komödie zu lesen. Für ihn war die Dichtung wohl eine Art „Seelenübung“, wie ein Gebet.

Sie schätzen Dante sicher auch wegen der Theologie, die in seinen Terzinen enthalten ist…

Ja, gewiss. Wie schon der Wissenschaftler Stephen J. Gould meinte, gehören Theologie und Philosophie, die das „Fundament“ ergründen wollen, zur transzendenten Bewusstseinsebene – einer Ebene, die sich von der empirisch-wissenschaftlichen unterscheidet, die dagegen mit dem „Phänomen“, mit der „Szene“ befasst ist. Kurzum: die wahre Dichtung ist auf derselben Ebene angesiedelt wie Theologie und Philosophie. Und das trifft ganz sicher auf Dante zu, der sich auf die Kunst verstand, die Theologie und die Exegese seiner Zeit, von der er eine gute technische Kenntnis besass, in die Sprache der Dichtung einfliessen zu lassen. In einer unserer Epoche nicht ganz so fernen Zeit hat sich mutatis mutandis darauf noch ein anderer Dichter verstanden, den ich sehr schätze: Thomas Stearns Eliot, in den Vier Quartetten. Bei Dante erlebt die Theologie ihre grosse Epiphanie, und jene Theologen, die die theologische Seite Dantes nicht zur Kenntnis nehmen wollen, tun ihm unrecht. Darüber hinaus hat schon Marie-Dominique Chenu in ihrem Werk Die Theologie als Wissenschaft im 13. Jahrhundert erklärt, wie wichtig es sei, sich nicht nur den literarischen Kunstwerken zu widmen, sondern auch den plastischen und figurativen. Diese seien nämlich, wie sie meinte, „nicht nur ästhetische Illustrationen, sondern wahre “theologische Orte”.“ Es wäre meiner Meinung nach wünschenswert, wenn man bei der Annäherung an Dante nach diesem Grundkriterium vorgehen würde. Auch deshalb sollte man die Einrichtung eines Lehrstuhls für Dante-Studien an der Katholischen Universität wieder vorschlagen, wie es Paul VI. im April 1965 mit dem Apostolischen Schreiben in Form eines Motu proprio, Altissimi cantus, getan hat – geschrieben zum 600. Jahrestag der Geburt des Florentiner Dichters.

Vor Kurzem haben Sie auch Ihrer Unzufriedenheit darüber Luft gemacht, wie man Dante an den Schulen lehrt…

Man will ihn den Schülern oft auf eine Weise nahebringen, die jeder Faszination entbehrt, so gar nichts Anziehendes hat. Dabei ist Dante doch ungemein faszinierend und anziehend! In diesem Sinn hat sich Roberto Benigni mit seinen lecturae verdient gemacht: Er hat uns gezeigt, wie es Dante gelingt, zu den Menschen unserer Zeit zu sprechen; wie Dante in einem einzigen Satz so tiefe Wahrheiten sagt, wie es der gebildetste Intellektuelle mit tausend Worten nicht könnte… Benigni hat es mit seiner „linearen“ narrativen Lesung ohne überflüssige Glossen tatsächlich fertiggebracht, Dante zu Millionen von Menschen sprechen zu lassen. Den Lehrern an den Schulen fällt dagegen oft nichts Besseres ein als zermürbende philologische Interpretationen und langweilige strukturelle Textanalysen… Ich kann mich noch an die Vorlesung eines amerikanischen Strukturkritikers erinnern, der sich für den von ihm kommentierten Passus der Komödie nur deshalb begeistern konnte, weil sich dieser vollkommen „zerlegen“, regelrecht „zerstückeln“ liess, weil das Ganze auf Découpage-Figuren reduziert werden konnte.

Was könnte hier besser gemacht werden?

Man sollte bei der Ausbildung der Lehrer ansetzen. Und die im Kultur- und Kommunikationsbereich Tätigen müssten ihre Haltung dem breiten Publikum gegenüber ändern, dem sie oft pessimistisch, ja sogar abweisend gegenüberstehen. Benigni und Vittorio Sermonti haben gezeigt, dass die Leute für diese Dinge eine viel grössere Aufnahmebereitschaft, danach ein viel stärkeres Bedürfnis haben, als man denkt. Vor einiger Zeit war ich bei seiner lectura Dantis in Santa Maria delle Grazie in Mailand: es waren so viele Menschen gekommen, dass die Leute selbst vor der Kirche noch Schlange standen. Auch für mich war es überraschend, dass an einem Thema, von dem man meinte, es wäre nur wenigen Experten vorbehalten, ein so grosses Interesse besteht! Ich erinnere mich auch an die Menschenmenge, die an einem heissen Sommertag in Mantua mucksmäuschenstill einer meiner Konferenzen über das Buch Kohelet lauschte. Und ich kann Ihnen versichern, dass meine Zuhörer keine Professoren waren! Dante versteht es also sehr wohl, zur Welt zu sprechen.

Dante hat auch zur Kirche seiner Zeit gesprochen, und sich dabei wahrhaft kein Blatt vor den Mund genommen…

Die Liebe zur Kirche, die Liebe zum Glauben, kann auch durch leidenschaftliche Kritik zum Ausdruck kommen. Es gibt eine ernsthafte, fundierte und begründete Übung der Kritik, deren Argumentation diskutierbar sein mag, die aber einer wahren Leidenschaft des Geistes entspringt. Das trifft auf Dante zu. Benedikt XV. stellt in der Enzyklika In praeclara summorum vom April 1921 zum 600. Todestag des Dichters an die Professoren und Studenten der Literatur- und Kulturinstitute der katholischen Welt folgende rhetorische Frage: „Wer könnte leugnen, dass es in jener Zeit durchaus Dinge gab, die man dem Klerus vorwerfen konnte und die einem der Kirche so ergebenen Gemüt wie Dante zutiefst missfallen mussten, wissen Wir doch, dass sie damals auch von Männern, die sich durch Heiligkeit auszeichneten, aufs Schärfste verurteilt wurden?“. Und Paul VI. merkte in dem Schreiben Altissimi cantus an: „Es betrübt Uns nicht, daran zu erinnern, dass er seine Stimme gegen einige römische Päpste erhoben hat und dass er kirchliche Einrichtungen und Männer, die Amtsträger und Repräsentanten der Kirche waren, aufs Schärfste verurteilte.“ Gerade weil sein Glaube nicht in der Bejahung rationeller Wahrheiten bestand, sondern in der bedingungslosen Liebe zu Christus und Seiner Kirche, konnte Dante in die Komödie die für dieses Werk so typische moralische Dimension einfliessen lassen, mit ihrer Betonung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Ich bin überzeugt davon, dass es heute an der Zeit ist, den Begriff des Bösen wieder ins Gespräch zu bringen, und dass man sich nicht scheuen sollte, dabei Klartext zu reden, Worte wie Schuld und Sünde zu gebrauchen. Der Begriff der Sünde ist verlorengegangen, in einem undefinierbaren Nebel verschwunden, ausgelöscht. Mit pastoralen Worten gesprochen halte ich es gerade heute für notwendig, den Sinn von Gut und Böse wieder herauszustellen – wenngleich ohne Rhetorik oder Emphase. Und dabei kann uns Dante behilflich sein.

Gilt das auch für den Dialog mit den Nicht-Glaubenden, den der Kirche Fernstehenden?

Gewiss. Da man den Dialog oft in Synkretismus oder Fundamentalismus abgleiten lässt, könnte er nur allzu leicht verebben. Leider ist die medienwirksamste Konfrontation die zwischen den Gläubigen, die unglaublich steife Positionen vertreten und höhnischen „Nicht-Glaubenden“, die alles zur Parodie, zum Spektakel degradieren. Aus diesem Grund möchte ich es vermeiden, dass die Initiativen des „Vorhofs der Völker“ [eine Initiative des Päpstlichen Rats für die Kultur zugunsten des Dialogs zwischen Glaubenden und Agnostikern oder Atheisten, Anm.d.Red.] von fundamentalistischen Glaubenden und Nicht-Glaubenden durchgeführt werden. Man muss fähig sein zu argumentieren und zuzuhören – allerdings ohne von seinen Überzeugungen abzuweichen: das ist kein Fundamentalismus, sondern der wahre Sinn des Dialogs. Wie ich bereits mehrfach betont habe, bin ich weniger für das „Duell“ denn für das „Duett“, bei dem die Stimmen, auch wenn sie von sonoren Antipoden kommen, dennoch Harmonie hervorbringen können, ohne auf ihre eigene Identität verzichten zu müssen, also ohne in einem vagen ideologischen Synkretismus zu verblassen. Nachhaltig beeindruckt hat mich eine öffentliche Debatte, die ich erst unlängst bei einer Initiative des „Vorhofs der Völker“ mit Gian Enrico Rusconi hatte. Dabei konnte ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass auch in den radikalsten Positionen eine ehrliche Bitte an die Kirche mitschwingt: die nämlich, dass sie wieder damit beginnen soll, von der Substanz ihrer Botschaft zu sprechen – kurzum: dass sie wieder damit beginnen soll, von Gott zu sprechen. Wie oft sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht! Auch darin kann uns Dante mit seinem „systematischen“ mittelalterlichen Geist – etwas, das uns so ganz und gar abhanden gekommen ist – eine grosse Hilfe sein.

Sie haben Benedikt XV. und Paul VI. zitiert. Aber auch Benedikt XVI. liebt Dante…

Ja. Das hat er schon als Kardinal gesagt, in seinem Text Einführung in das Christentum; und dann, als Papst, bei verschiedenen anderen Gelegenheiten: in der Enzyklika Deus caritas est, in einer Ansprache an die Teilnehmer einer Begegnung des Päpstlichen Instituts Johannes Paul II., und dann beim Angelus zum Fest Mariä Empfängnis im Jahr 2006, wo er als Antwort auf die Frage, warum Gott unter allen Frauen gerade Maria von Nazareth erwählt habe, die wunderschönen Verse des Gebets des hl. Bernhard an die Muttergottes zitiert: „Die Antwort“ – so der Papst – „liegt verborgen im unergründlichen Geheimnis des göttlichen Willens. Es gibt jedoch einen Grund, den das Evangelium deutlich herausstellt: ihre Demut. Sehr gut betont dies Dante Alighieri im letzten Gesang des Paradieses: “Jungfrau und Mutter, Tochter deines Sohnes, vor allen Wesen gross und voll von Demut, vorbestimmtes Ziel im ewigen Rate”.“

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