Im Land der Verzweiflung

Zwanzig Stunden im Gaza-Streifen – nicht bei Flüchtlingen, sondern bei Gefangenen

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Von Johannes Zang

März 2016. Wird es vielleicht wie im Januar 2015 sein? Damals durften trotz Anmeldung nur drei der Bischöfe gleich passieren, während der grösste Teil der internationalen Bischofsdelegation, darunter der Trierer Bischof Ackermann, fast acht Stunden am Grenzübergang Erez betend und singend ausharrte, bis die israelischen Grenzer sie nach Gaza einreisen liessen. Nach Erez fährt man immer mit Bauchweh.

Nach zwanzigminütiger Warte- und fünfminütiger Abfertigungszeit durch eine blauäugige israelische Soldatin darf man den grauen Gang betreten, dann kommt das erste Drehkreuz, schon ist man im Freien, dann das zweite Drehkreuz. Das Metalltor in der Mauer ist offen, dahinter schliesst sich ein käfigartiger Gang mit Überwachungskameras an. Etwa tausend Schritte später gelangt man an die palästinensische Abfertigung. In zwei Minuten ist der Pass kontrolliert. Etwa ein Dutzend Menschen, mehrheitlich auf Kundschaft wartende Taxifahrer, hält sich in diesem Bereich auf. Fahrzeuge mit palästinensischen Kennzeichen treffen ein, darunter auch zwei Krankenwagen. Die Mitarbeiter des Roten Halbmondes warten auf Landsleute, die zur Behandlung im West-Jordanland oder in Israel weilten und demnächst eintreffen sollen.

Da weder Privat-PKWs noch Krankenwagen auf die jeweils andere Seite fahren dürfen, müssen Patienten in Erez umgeladen werden. In einem der Autos sitzt der 32-jährige Sanitäter Mustafa. Hat er den Gaza-Streifen, so gross wie das  Stadtgebiet von Köln, jemals verlassen? „Kein einziges Mal. Wenn wir nur einmal für eine Stunde rauskönnten, um in Jerusalem zu beten! Das wäre klasse.” Sein Kollege erzählt, dass ihm kürzlich ein israelischer Passierschein ausgestellt, doch dann ohne Begründung für ungültig erklärt worden sei. Beide wünschen alles Gute, lächeln und erkundigen sich, ob sie dem Reporter „zu Diensten” sein können. Der dankt, verabschiedet sich und besteigt ein knallgelbes Taxi.
Fahrer Suleiman (arabisch für Salomo) ist 33 Jahre alt, war noch nie in Israel und hat keine Hoffnung, dass sich die Lage bessert. In nicht einmal drei Minuten hat er die Strecke bis zur zweiten palästinensischen Kontrollstelle zurückgelegt. Hier will man das – neuerdings erforderliche – Hamas-Visum sehen, das das Al-Ahli-Krankenhaus, eines der Ziele dieser Kurzreise, beantragt und bezahlt hat.

Nach einigen Minuten sitzt man im gasbetriebenen Taxi von Abu ´Aissa (arabisch für Jesus), das in Deutschland sicher nicht mehr durch den TÜV käme, und steuert Gaza-Stadt an. Der erste Gesprächspartner, Abed Shokry, auf dem Beifahrersitz, hat den deutschen Reporter am Hamas-Kontrollpunkt erwartet.

Durch den Kopf rauschen Zahlen und Bilder aus zahllosen Berichten der UNO-Agentur OCHA, der israelischen Menschenrechtsorganisation GISHA, des Palästinensischen Menschenrechtszentrums PCHR oder des Palästinensischen Statistikamtes PCBS: 373.000 Kinder nach dem letzten Gaza-Krieg traumatisiert, siebzehn Prozent der Fläche des Gaza-Streifens, da israelische Puffer- oder Sicherheitszone, nicht nutzbar, siebzig Prozent des Gaza-Meeres für die Fischer gesperrt, seit fast zehn Jahren tägliche Stromausfälle, Export nur mit israelischer Zustimmung möglich (im gesamten Jahr 2009 beispielsweise waren es lediglich 21 LKW-Ladungen), Bauern verfüttern tief frustriert ihre für den Export bestimmten Erdbeeren, Tomaten oder Schnittblumen ans Vieh…
Beim Blick aus dem Fenster sieht man Eselsfuhrwerke, dreirädrige Tuktuk-Motorräder, graue Häuser, manche halbfertig, und überall Müll: Plastiktüten flattern im Frühlingswind, Verpackungsmaterial liegt am Strassenrand.

Hier leben mittlerweile 1,8 Millionen Menschen. Zwei Drittel von ihnen sind Heimatvertriebene und Flüchtlinge des ersten israelisch-arabischen Krieges von 1948/49. Dieser mehrheitlich entwurzelten Bevölkerung haben zwei Intifadas, Palästinenser-Aufstände, sowie die vier israelischen Kriege der letzten zehn Jahre samt Blockade sicherlich weitere Trauma-Schichten zugefügt. Auf die Zahl 373.000 angesprochen, widerspricht Abded Shokry: „Die Zahl stimmt nicht. Alle sind wir traumatisiert. Jede Familie hat eine Kriegsgeschichte.”

Nach siebzehn Jahren in Deutschland ist der promovierte Ingenieur 2007 in seine Heimat Gaza zurückgekehrt. Wenige Tage später brach der Fatah-Hamas-Bruderkrieg aus. Schon damals bereute er die Rückkehr. Heute sagt er: „Hätte ich einen anderen Pass, wäre ich nicht hier.” Seine aktuelle Sorge ist finanzieller Art, obwohl er zu den Spitzenverdienern in Gaza gehört. Für seine Familie mit vier Kindern hat er eine 140-Quadratmeter-Eigentumswohnung gekauft. Trotz seines Dozentengehaltes von monatlich zweitausend US-Dollar fällt ihm die monatliche Rückzahlung des Kredits schwer. Seit September 2013 erhält er wegen der palästinensischen Finanzkrise nur die Hälfte seines Gehaltes, seine Frau, Pharmazeutin im Gesundheitsministerin, gar nur vierzig Prozent des ihrigen. Zusammengenommen schulden ihnen ihre Arbeitgeber ziemlich genau sechzigtausend Dollar.

Am nächsten Morgen geht die Fahrt zu einem ebenfalls in Deutschland promovierten Akademiker. Usama Antar ist Politologe und arbeitet für die Friedrich-Ebert-Stiftung, gibt aber im folgenden Gespräch ausschliesslich seine Privatmeinung wieder, wie er betont. Der vierfache Familienvater hat den letzten Krieg wie durch ein Wunder überlebt. Eine Panzergranate, die vier Mauern durchschlug, landete im Kinderzimmer – und explodierte gottlob nicht. „Wir leben in Angstgefühlen und ständiger Instabilität”, beteuert er. Gaza braucht seiner Meinung nach eine wirtschaftliche Perspektive und erst später eine politische. Er fordert einen Zugang zur Welt. „Gaza braucht Öffnung. Es reicht mit dieser Blockade.”

Schon vor Jahren haben die Vereinten Nationen den Bericht veröffentlicht: Gaza 2020 – a liveable place? (ein noch bewohnbarer Ort?) Der Bericht bezog sich nicht nur auf die Blockade, sondern auch auf die Überbevölkerung und die Tatsache, dass über neunzig Prozent des Wassers aus dem Gaza-Grundwasserleiter ungeniessbar ist.

Weiter geht es zum letzten Gespräch, zu Suhaila Tarazi, Direktorin des Al-Ahli-Krankenhauses, des einzigen christlichen Spitals im Gaza-Streifen. Frage an den Chauffeur: Wieviel kann man damit verdienen? Er, der sechs Kinder ernähren muss, sagt: „An einem guten Tag hundert Shekel (etwa 25 Euro), doch geht die Hälfte fürs Gas drauf.” 25 Euro – dabei sind nur Obst, Gemüse und Fleisch und Taxifahrten günstiger als in Deutschland.

Der Pförtner des Krankenhauses erkundigt sich nach dem Woher und Wohin. Dann erklärt er: „Gaza ist schön, aber es gibt weder gute Arbeit noch Entwicklung. Gaza ist ein Käfig.” Frau Tarazis Sekretärin Samira Farah spricht gleich den letzten, den 51-tägigen Krieg an, bei dem allein 521 Kinder starben: „Mein Neffe war damals fünf Jahre alt und das war sein dritter Krieg. Wir haben alle ein soziales Trauma. Seitdem sind wir schreckhaft. Wenn die Tür zugeschlagen wird, erschrecken wir.” Samira Farah hat sich im letzten Krieg, wie wohl viele andere, täglich von Angehörigen und Freunden verabschiedet. „Wir wussten nicht, ob wir uns wiedersehen.”

Eine Mitarbeiterin, eine 28-jährige Krankenschwester, kam im Krieg ums Leben, zuhause, ohne Vorwarnung – manche Viertel oder Häuser erhielten von der israelischen Armee Minuten oder Stunden vor dem geplanten Angriff auf das Versteck vermeintlicher Terroristen die Aufforderung, ihr Haus oder die Wohnung zu verlassen. Mit der Mitarbeiterin starben neben dem Ehemann vier Verwandte. Man fand die Kollegin über ihre Kinder gebeugt, die sie vor dem Bombardement schützen wollte, was ihr auch gelang. Die beiden Kinder überlebten, sie nicht.

Frau Tarazi, eine von etwa elfhundert palästinensischen Christen im Gaza-Streifen, freut sich sichtlich über den Besuch. Von draussen dringen Kinderstimmen in das Büro. Das sei das Programm Joyful Days (frohe Tage), das nach dem letzten Krieg begonnen wurde. Etwa 30 bis 35 Kinder aus dem gesamten Gaza-Streifen nehmen freitags an diesen Kreativ-Aktivitäten teil.

Dann kommt die Christin auf die Zunahme an Krebs-, vor allem Brustkrebserkrankungen zu sprechen. Das Krankenhaus hat als einziges Spital im Gaza-Streifen ein Mammographie-Gerät, selbst das Regierungskrankenhaus Shifa kann da nicht mithalten. Nun würden dringend ein MRI und ein CT gebraucht. Doch lebt das Al-Ahli, in dem Patienten nur einen symbolischen Betrag entrichten müssen, von Spenden aus Übersee. Und die träfen in letzter Zeit immer seltener ein. Frau Tarazi erklärt es sich so: „Unsere Spender haben jetzt die Flüchtlinge im Blick und vergessen ganz und gar die 1,8 Millionen Gefangenen in Gaza.”

Gefragt nach der Gesamtlage, antwortet die der griechisch-orthodoxen Kirche angehörende Palästinenserin: „Irgendetwas köchelt. Wir leben in Ungewissheit und unter Blockade. Sollen wir komplett isoliert werden? Es gibt keine Hoffnung.” Sogar das israelische Militär plädiere für einen Seehafen, um den Menschen das Leben zu erleichtern. Sonst werde Gaza in zehn Jahren mit dann drei Millionen Einwohnern unbewohnbar sein.

Suhaila Tarazi erinnert an das Phönix-Denkmal unweit des Krankenhauses. „So sind wir hier. Wir steigen immer wieder aus der Asche auf. Wir sind kein Volk von Terroristen. Wir wollen in Würde leben.” Ihre Stimme bebt, als sie erklärt: „Wir haben das Recht, in Würde zu leben. Doch die Welt lässt es nicht zu, dass wir als Menschen leben.”
Der Reporter muss sich auf den Weg machen, um 12 Uhr schliesst die Grenze. Nach zwanzig Stunden verlässt er den dichtestbesiedelten Streifen der Welt mit Bauch- und Herzschmerzen.

Fünf Tage nach dem Besuch veröffentlicht die UNO-Agentur OCHA unter dem Titel Access & movement of people and goods in 2015 eine neue Litanei des Mangels und Leidens – in einem Kurztext, einer Landkarte und acht Graphiken. Drei Beispiele: Arbeitslosigkeit 35,9 Prozent; Rafah, der einzige Übergang nach Ägypten, war an 333 Tagen geschlossen; Israel liess 2015 immerhin 1.350 LKW-Ladungen an Exportgütern passieren, fast sechs Mal so viel wie im Jahr zuvor. Vor zehn Jahren, dem Jahr vor dem Hamas-Wahlsieg, waren es jedoch 9.319 LKW-Ladungen.

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