Die Mauer des Anstosses

Künftig wird es an der Jerusalemer Klagemauer auch einen Bereich für liberale Juden geben – Kritik kommt von Archäologen, Moslems, Orthodoxen und Liberalen

Moses vor dem brennenden Dornbusch

Von Oliver Maksan

Die Tagespost. 03. Februar 2016

Seit Jahren ist die heiligste Stätte des Judentums ein Zankapfel. Als Israel 1967 den in der bis dahin von Jordanien kontrollierten Jerusalemer Altstadt gelegenen Tempelberg eroberte, wurde die Klagemauer zielstrebig zum israelischen Nationalheiligtum und zur Pilgerstätte von Juden aus aller Welt ausgebaut. Eine “Marokkaner-Viertel” genannte Ansammlung von Häusern wurde kurzerhand abgerissen, um der heutigen Plaza vor der Klagemauer Platz zu machen. Vorbei sollten die demütigenden Zeiten sein, als die bis kurz vor die Klagemauer reichenden Bauten den Juden nur eine schmale Gasse liessen, durch die Araber ihre Herden trieben. Die Klagemauer, jener Teil der unter Herodes errichteten westlichen Stützmauer des Plateaus, auf dem bis 70 nach Christus der jüdische Tempel stand, wird so verehrt, weil Juden dem zerstörten Tempel und der mit ihm verbundenen Gegenwart Gottes nirgends so nahe kommen wie hier. Fromme Juden betreten das Plateau nicht, weil sie fürchten, unrein heiligen Boden zu betreten.

Doch dann kam es innerhalb des Judentums zum Streit: Jüdische Frauen klagen ein, an der Klagemauer nach Art der Männer beten zu dürfen. Die orthodoxen Rabbiner, die die Aufsicht über die Klagemauer führen, erlauben den Frauen nicht, den Gebetsschal zu tragen oder öffentlich aus der Tora zu lesen. Auch bestehen sie auf Geschlechtertrennung beim Gebet. Es gibt deshalb zwei Bereiche für Besucher. Die liberalen, feministischen Strömungen innerhalb des Judentums angehörenden Frauen haben sich deshalb vor 25 Jahren schon in der Gruppe “Women of the Wall” zusammengeschlossen. Unter wachsender Anteilnahme der Medien widersetzten sie sich immer wieder den Anweisungen des Rabbinats. Teilweise musste die Polizei einschreiten. Längst wuchs sich die Sache zu einem Politikum aus. Kommissionen wurde einsetzt, um das Problem zu lösen.

Am Sonntag traf Israels Kabinett eine Entscheidung. Die Regierung beschloss, dass künftig neben den Bereichen für orthodoxe Männer und Frauen ein dritter eingerichtet werden solle. Dieses Areal solle am südlichen Teil der langen Westmauer des Tempelberges seinen Platz finden. Dort könnten dann liberale jüdische Männer und Frauen gemeinsam beten. Frauen dürften dort zudem auch nach Art der Männer beten. 15 Kabinettsangehörige stimmten für den salomonischen Trennungsplan, fünf dagegen. Sie alle waren orthodox. Auch der als historisch gepriesene Kompromiss geht ihnen noch zu weit, sehen sie doch auch den weiter südlich gelegenen Teil der Klagemauer als zum Heiligtum gehörig an. Ausserdem fürchten sie, dass das von ihnen als religionsrechtlich ungenügend empfundene Reformjudentum an Sichtbarkeit in Israel gewinnen könne. Während in der jüdischen Diaspora, vor allem in den USA, reformjüdische Strömungen mächtig sind, dominieren in Israel die Orthodoxen. Die orthodoxe Interpretation des Judentums hat Auswirkungen bis in das Ehe- und Staatsbürgerschaftsrecht hinein.

Die “Women oft the wall” begrüssten die Entscheidung. Mit ihrer eigentlichen Forderung, im nördlichen Teil gleichberechtigt zu beten, sind sie indes gescheitert. Sie haben auch nicht erreichen können, dass der neue Gebetsbereich genauso gross sein wird wie der alte und sich diesem unmittelbar anschliessen wird. Dennoch soll der neue Bereich gut einsehbar und allgemein zugänglich sein. Das verabschiedete Rahmenabkommen gesteht ihnen zudem innerhalb des neuen Bereichs eigene Versammlungen an bestimmten Festen zu. Kommentatoren in der liberalen Zeitung Haaretz konnten dem Kabinettsbeschluss trotzdem nichts abgewinnen. Es handele sich um keinen Kompromiss, schon gar nicht um einen historischen, sondern um eine Kapitulation gegenüber den Fundamentalisten. Die Orthodoxen hätten sich wieder einmal durchgesetzt, meinte ein Kommentator am Montag. Schliesslich hätten diese nicht nachgeben müssen und kontrollierten den als Klagemauer eingeführten Bereich auch künftig komplett. Zudem hätten die Orthodoxen noch viele Möglichkeiten, die Einrichtung des neuen Bereichs zu behindern und zu verzögern. Und vor allem empfinde niemand den südlichen Bereich als eigentliche Klagemauer.

Doch auch der für die Klagemauer zuständige Rabbiner Schmuel Rabbinowitz zeigte sich trotz der Bestätigung des Status quo im nördlichen Bereich wenig begeistert. Es werde Jahre dauern, bis an der heiligen Stätte wieder Frieden einkehren werde. Die Frauen, so schob er hinterher, seien eine marginale, von den Medien gepuschte Gruppe und hätten durch ihr Tun Gottes Namen entweiht.

Israelische Archäologen sind aus anderen Gründen entsetzt. Der neue Gebetsbereich wird nämlich in einem archäologisch hochsensiblen Gebiet eingerichtet werden müssen, der heute bereits Teil eines archäologischen Parks ist. Das Rahmenabkommen geht ausdrücklich auf die Bedenken der Archäologen ein und will ihnen in nicht näher bestimmter Weise Rechnung tragen.

Und weil in Jerusalem im Allgemeinen und im Bereich des Tempelbergs im Besonderen alles politisch ist, kam auch von palästinensischer Seite schnell Kritik. Der ganze im besetzten Ost-Jerusalem gelegene Tempelberg sei palästinensisch und gelte insgesamt als islamisches Heiligtum, so die Palästinensische Autonomiebehörde. Tatsächlich verehren die Muslime im Bereich des neuen Gebetsbereichs die Stelle, wo Mohammed das Wundertier Al Buraq angebunden haben soll, nachdem er auf ihm nach Jerusalem gereist war. Israel könne zudem keine eigenmächtigen Änderungen am Status quo vornehmen. Man sehe in dem geplanten neuen Gebetsbereich einmal mehr den Versuch, Jerusalem zu judaisieren.

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