Die Frage Wozu?
Kleiner Versuch einer öffentlichen Gewissenserforschung angesichts der Krisenhaftigkeit unserer Weltzeit
Der Gang durch die Slums dieser Welt kann bedrücken, doch Christen sind berufen, Zeichen der Hoffnung zu setzen.
Von Stephan Baier
Die Tagespost, 24. Februar 2016
Die Frage „Warum?“ wird in dieser Zeitung und auch jenseits von ihr oft gestellt: Sie fragt nach den Ursachen von Entwicklungen, nach kausalen Zusammenhängen, nach Gründen und Hintergründen, nach Geschichte und Weltpolitik, nach Zielen und Fehlern der Staatenlenker oder der globalen Konzerne.
Ein Aschenputteldasein lebt daneben die viel kleinere, profaner wirkende, aber zugleich viel persönlichere Frage „Wozu?“: Sie fragt nicht nur nach Zielen und Absichten, sondern geht unter die eigene Haut. Sie fragt danach, ob das uns begegnende Weltgeschehen – oder das weinende Mädchen am Strassenrand – irgendetwas mit uns und unserem Leben zu tun haben könnte. Wir können sie einfach stehen lassen (das weinende Mädchen und die Frage „Wozu?“) und weitergehen. Schon nach der nächsten Strassenecke werden uns andere Fragen begegnen. Vielleicht größere, gewichtigere, schönere, leichtere. Wir können uns ja nicht ständig mit der Frage „Wozu?“ aufhalten, sonst kämen wir gar nicht voran.
Da sitzt zum Beispiel dieser junge Bettler aus der Slowakei vor der Kirchentür. Er sitzt immer da, sobald hier Menschen herein- und herausströmen, also unmittelbar vor und nach der Messe. Dazwischen geht er rauchen und telefonieren. „Warum sitzt er da?“, denken wir und spekulieren über die Armut in der Slowakei, über die Diskriminierung der Roma, über die Reportage aus einer Roma-Siedlung, die wir kürzlich im Fernsehen gesehen haben, über die organisierten Transporte der Bettler-Banden, die den kleinen Bettlern den Großteil ihres Geldes wieder abnehmen, über die Ungerechtigkeiten des Lebens an sich, über das noch weit größere Elend in den Slums von Indien und Afrika. Die Frage „Warum?“ ist gar nicht klein, sondern sehr groß. Groß genug, um damit beschäftigt zu sein – bis wir außer Reichweite des slowakischen Bettlers sind. Kleiner ist da die Frage „Wozu?“: Sie lässt uns in der Tasche kramen, ob da nicht doch ein Euro – oder besser noch ein 50-Cent-Stück – sei. Wozu hat er sich hierher gesetzt? Um Geld für eine Mahlzeit, für seine kranke Frau und seine sieben Kinder zu sammeln? Wozu hat der liebe Gott ihn mir hierhin gesetzt? Soll ich ihn adoptieren oder ignorieren? Soll ich ihm achtlos eine Münze in die Mütze werfen oder freundlich „Dobré ráno!“ rufen? Soll ich eine Unterhaltung mit ihm beginnen oder einen anderen Eingang suchen? Soll ich seinem Blick ausweichen oder mich von ihm treffen lassen? Wozu er – wozu ich? Wozu jetzt und hier?
Vielleicht führt die Frage „Wozu?“ auch heute wieder nur zur Frage „Warum?“. Bekanntlich ist es leichter, die Bosheit und Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und unserer Zeit im Besonderen zu beklagen, als gut und gerecht zu handeln. Und auch ohne Beiziehung eines Psychiaters können wir mit freiem Auge erkennen, warum fremde Sünden häufiger gebeichtet werden als eigene.
Vielleicht lägen aber in der Frage „Wozu?“ verborgene Wege aus Verzweiflung und Resignation, in welche uns das Grübeln über die Frage „Warum?“ zu führen droht. Ein persönliches Beispiel: Reisen für diese Zeitung führten den Autor in die Slums von Kalkutta, Manila, Kairo und Abuja – immer begleitet von Beklemmung und großen Fragen. Woher rührt dieses Elend? Warum müssen die Menschen hier in Armut, Hunger, allgegenwärtiger Gewalt und Rechtlosigkeit leben? Wie ist es möglich, dass bitterarme Slums und noble Villenviertel direkt nebeneinander liegen? Warum sind diese kurzen Distanzen von keiner Regierung und keinem Systemwechsel je überbrückt worden? Solche Fragen können zur Depression wachsen, wenn man in Kalkutta aus einer vornehmen Villa auf die Straße tritt und dort über Sterbende steigen muss, wenn man von einem Slum in der Hauptstadt Nigerias auf dem Weg ins Stadtzentrum durch grüne Diplomatenviertel fährt, wenn man von den Müllsammlern in Manila ins moderne Bankenviertel wandert. Die Frage „Wozu bin ich jetzt hier?“ öffnet einen bunten Strauß möglicher Antworten: um zu lernen, zu beten, zu segnen, zu sehen, zu helfen, zu berichten, zu protestieren, zu informieren… Offensichtlich setzt diese Frage voraus, dass das eigene Leben nicht sinnlos ist, sondern von einem Sinn getragen, der sich in der je aktuellen Situation zeigen könnte (oder auch nicht). Ein Arzt wird anders durch einen Slum gehen als ein Priester, ein Journalist anders als ein Tourist, der sich einfach nur verlaufen hat.
Die Frage „Warum?“ hat angesichts eigener Krankheit, eigenem Leid vielfach zu Verzweiflung und Bitterkeit geführt, worüber zu urteilen uns – zumal gesund und glücklich – keinesfalls zusteht. Die Frage „Wozu?“ hat in vergleichbaren Situationen vielen Menschen geholfen, ihr Leben und dessen Sinn neu zu reflektieren – mitunter tiefer als im oberflächlichen Wellenreiten unseres hektischen Alltags. Selbst beim alttestamentlichen Hiob, der uns von Anfang an als untadelig, rechtschaffen und gottesfürchtig vorgestellt wird (Hiob 1, 1), führt die Odyssee durch Leid, Krankheit und Schmerz letztlich zu tieferer Gottesbegegnung und Selbsterkenntnis. Wohl jeder von uns kennt Vergleichbares aus dem eigenen Leben oder aus dem Freundeskreis: vom Stoßgebet auf des Zahnarzts Folterstuhl über die tiefe Trauer angesichts eines Todesfalls bis zur eigenen Todesangst – Hiobs Schmerz und Schrei sind uns vertraut, und hoffentlich auch seine Gottesnähe und Erkenntnis. „Ich habe erkannt, dass du alles vermagst. Kein Vorhaben ist dir verwehrt (…) Vom Hörensagen nur hatte ich von dir vernommen. Jetzt aber hat mein Auge dich geschaut.“ (Hiob 42, 2.5)
Weil unsere Lebenszeit eingebettet ist in Weltgeschehen – wie Weltgeschichte eingebettet ist in Heilsgeschichte – darum verkrampft oder dehnt unser Herz nicht nur der eigene Zahnschmerz oder der Tod eines Freundes. Es ist das Zeitgeschehen, das wir nicht (oder nur marginal) beeinflussen können, das aber uns und unser Schicksal prägt, bestimmt, ja mitunter auch vernichtet. Zunächst ein historisches Beispiel: Gefahrlos bewundern wir aus zeitlicher Distanz die Menschen, die sich in den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts heroisch oder wenigstens anständig verhalten haben. Alle Diktaturen leben bekanntlich nicht allein von den ideologisch Hundertprozentigen, sondern von der Masse der Mitläufer und Angepassten. Von jenen, die lieber keine Fragen stellen, den Mund halten, sich um ihre privaten Sorgen und Sicherheiten kümmern. Angesichts des Droh- und Zwangspotenzials der Totalitarismen ist solches Verhalten allzu menschlich und verständlich. Groß erscheinen uns darum jene, die von der Frage nach dem „Warum?“ zur Frage nach dem „Wozu?“ durchstießen: Und es gab diese Menschen, die unter den braunen und roten Tyrannen Verfolgte schützten, subversiv tätig waren, für andere ihr Leben riskierten – und es nicht nur verloren, sondern hingaben. Die Heiligsprechung von Maximilian Kolbe und anderen Gewissenstätern ist eine kirchliche Antwort auf deren individuelle Frage „Wozu?“
Kommen wir zu einem aktuellen Beispiel: Der nun fünf Jahre währende Krieg in Syrien betrifft Millionen Menschen, die ihn weder verursacht haben noch stoppen können. Die Frage „Warum?“ ist hier wichtig, um die Ursachen des Krieges und mögliche Wege seiner Eindämmung richtig zu sortieren. Doch selbst im geglückten Fall einer treffenden Analyse der Kriegsursachen und -umstände entsteht für die Mehrheit daraus noch kein Handlungsziel. Die Frage „Wozu bin ich damit konfrontiert?“ kann – je nach Profession und Gewissensbildung – zur Tat führen: Beim Politiker zum rechten Agieren, bei Journalisten zum wahrheitsgetreuen Schreiben, beim Arzt zum Helfen, beim Reichen zum Spenden, beim Gottgläubigen zum Beten, beim Internet-User zum überlegteren „liken“ auf Facebook. Die Frage, wie wir uns hier und heute in einem Krieg oder Konflikt verhalten, unterscheidet sich in zwei Punkten wesentlich vom Blick in den zeitgeschichtlichen Rückspiegel und von der Frage, wie wir uns unter der NS-Diktatur oder im Kommunismus verhalten hätten: Erstens ist die unsere Zeit betreffende Frage existenziell und nicht bloß theoretisch; zweitens wissen wir nicht, wie die Geschichte ausgeht.
Wer 1942 unter den Augen der Gestapo eine jüdische Familie versteckte, konnte nicht wissen, wann und wie diese Diktatur enden, ob er dafür erschossen, gefoltert oder mit dem Bundesverdienstkreuz dekoriert werden würde. Wer 1984 in der Sowjetunion subversive Literatur verbreitete oder in Albanien ein Kind taufte, konnte nicht ahnen, ob er diese Tyranneien überleben werde. So geht es uns heute: Die Kriege und Konflikte unserer Tage sind allesamt multikausal. Bei gründlichem Studium und intensiver Beschäftigung können wir vielleicht ihr „Warum?“ ergründen, doch weil auch ihr Fortgang von vielen Faktoren und Akteuren bestimmt wird, lässt sich in den seltensten Fällen sagen, wann und wie sie enden – und was unser Einsatz oder unsere Positionierung an Früchten bringen wird. Das erspart uns die Frage „Wozu?“ nicht, sondern macht sie erst zur Gewissensfrage. Wo nicht mehr berechenbar ist, ob wir Lohn oder Strafe, Lob oder Tadel, Ehre oder Tod ernten, ob wir auf der Sieger- oder Verliererseite stehen werden, erscheint die Gewissensfrage in ihrer ganzen Wucht: Wofür bin ich bereit, zu leben und zu sterben?
Der Mechaniker in der Werkstatt muss wissen, wozu er sich das defekte Auto ansehen soll. Der Schüler sollte ahnen, wozu er Grammatik büffelt und Formeln lernt. Der Christ sollte sich nicht ein für allemal, sondern immer wieder (und die Fastenzeit ist dafür geeignet) nicht bloß die Frage stellen, warum er auf Erden ist, sondern auch wozu. „Wozu sind wir auf Erden?“ heißt es in meinem alten Kinderkatechismus. Und fettgedruckt steht die Antwort darunter. Aber kehren wir lieber zurück zum aktuellen Weltgeschehen, wo es nicht eine richtige und viele falsche Antworten gibt, wo wir selbst um Antworten ringen. Die aktuellen Flüchtlingsströme in Europa haben viele Menschen zu einer ganz persönlichen Antwort auf die Frage „Wozu?“ inspiriert: Die vielen freiwilligen Helfer auf den Bahnhöfen und in Aufnahmelagern schielten wohl nicht auf Orden und Karrieren, sondern blickten auf die Menschen in ihrem Leid. Wie Mutter Teresa, die – befragt nach den Ursachen der Armut in Afrika – sagte: „Wir sehen, was notwendig ist. Und wir handeln. Wir grübeln nicht: warum, wie und wann. Wir sehen einfach die Not – und helfen, so gut wir können.“
Doch als eine vom Gewissen gesteuerte Heilige wusste Mutter Teresa, dass nicht jeder das Gleiche, sondern jeder das Seine tun muss: „Was du tust, kann ich nicht tun. Was ich tue, kannst du nicht tun. Aber zusammen können wir etwas Schönes für Gott tun.“ In diesem Sinn rief ein Priester, der gerade einem Sterbenden in einem indischen Slum die letzten Tröstungen der Kirche reichte, einem schockstarren Fotografen zu: „Ich mache hier meinen Job. Und du, mach deinen!“ Angesichts der nach Europa hereinströmenden Not der Flüchtlingsmassen wird die Herausforderung für den Direktor eines Krankenhauses eine andere sein als für den Bürgermeister eines Grenzortes, den Caritas-Chef oder den zuständigen EU-Kommissar. Allen aber kann die Frage „Wozu?“ – konkretisiert als „Wozu jetzt, hier und im Licht meiner Verantwortung?“ – Dimensionen eröffnen, die die Frage „Warum?“ nicht abdeckt.
Das gilt auch – um den Finger tiefer in die Wunde zu bohren – für die mit dem Flüchtlingsstrom wachsende Präsenz des Islam in unseren Breiten. Setzen wir einmal das Wissen um die geschichtlichen und kulturellen Umstände der Entstehung des Islam voraus. Für Christen ist die Frage, warum Gott diese Offenbarung reklamierende, streng monotheistische Religion und ihre Ausbreitung zugelassen hat, durchaus herausfordernd. Wozu sie mit Blick auf die Heilsgeschichte – in die Profangeschichte eingebettet ist – dient, wird sich uns wohl erst jenseits dieser Weltzeit zeigen. Nicht minder herausfordernd, aber eine Antwort hier und jetzt verlangend, ist die Frage, wozu wir nicht nur mit dem Islam als Phänomen, sondern mit Muslimen als gottgläubigen Menschen konfrontiert werden. Der in Damaskus residierende Patriarch der mit Rom unierten Melkitischen Kirche, Gregorios III. Laham, hat im Interview mit dieser Zeitung von einer „Kirche im Islam“ gesprochen. Er definiert damit die Rolle der Christen höchst anspruchsvoll: als Zeugen Christi und seiner Frohbotschaft inmitten einer zwar gottgläubigen, Christus jedoch ablehnenden Mehrheitsgesellschaft.
Parallel dazu könnten wir in West- und Mitteleuropa von einer „Kirche im Säkularismus“ sprechen, wenn wir es wagen sollten, unsere Rolle als Christen in einer vergleichbaren Zeugenrolle zu sehen. Und was könnte für uns – für Christen im Säkularismus und für ihre gottvergessene Mehrheitsgesellschaft – die wachsende Präsenz des Islam in unseren Breiten bedeuten. „Wozu sind sie da?“ kann zweierlei bedeuten: Wie deuten sie selbst den Zweck ihres Hierseins? Und welchen Zweck können wir ihrem Hiersein abringen? Für Christen heißt das verschärft: Was könnte Gottes Absicht dahinter sein? Könnte es jenseits des profanen auch ein heilsgeschichtliches „Wozu?“ geben? Da öffnet sich ein Sortiment denkbarer Antworten: Ein katholischer Priester meinte jüngst, missionarisch entflammte Christen sollten dankbar sein, dass Gott die Muslime zu ihnen bringt – damit sie nicht in die islamischen Länder gehen müssen, um sie zu bekehren. Das klingt naiv, und doch kommen Christen nicht am Missionsbefehl Jesu vorbei ohne die eigene Identität zu verraten. Aus dem „Wozu?“ könnte also ein „Wie?“ werden: Wie kann man Menschen, die Christus nicht oder nur in verzerrter Weise kannten, mit dem Evangelium in Kontakt bringen?
Kann die Religiosität der Muslime für das in unseren Breiten vielfach müde gewordene Christsein ein Weckruf sein? Können ihre Gottesfurcht und ihr Gebetsleben uns an etwas erinnern, das wir selbst vernachlässigt und verharmlost haben? Kann ihre Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit für uns Anstoß sein, die Einheit und Orientierung gebende Dimension der Kirche neu schätzen zu lernen? Kann das Fremde ihres Glaubens unserer gottfern gewordenen Gesellschaft die Vertrautheit des christlichen Glaubens neu erschließen? Wenn das quantitative Wachsen des Islam in Europa zu einem qualitativen Wachsen der Christen in ihrem Christsein führen sollte, wäre die Frage nach dem heilsgeschichtlichen „Wozu?“ weithin beantwortet. Wenn die steigende Präsenz des Islam in Europa dazu beitragen sollte, dass Agnostiker und religiöse Ignoranten neu nach den geistesgeschichtlichen Wurzeln der europäischen Identität suchen – und dabei über das Christentum stolpern – dann könnte aus der Krise neue Hoffnung wachsen.
Wozu all diese Gedanken? Wozu sind Sie diesem Text bis hierher gefolgt? Zumal Sie seit einigen Zeilen doch ahnen mussten, dass der Platz am Ende für eine finale Antwort nicht mehr reichen würde. Die Enttäuschung war beabsichtigt: Antworten am Ende gibt es im Märchen und in der Schule. Im wirklichen Leben sind Fragen vor allem dazu da, gestellt zu werden. Wer unbedingt Antworten braucht, gebe sie sich selbst.
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