Integration ohne Identität?

Mehr noch als das aktuelle Management der Flüchtlingsströme wird deren Integration zur epochalen Herausforderung in Europa

Stephan BaierVon Stephan Baier

Die Tagespost, 09.11.2015

Über alle tagespolitischen Migrationsagenden hinaus zwingt die Aufnahme von so vielen Menschen aus so unterschiedlichen Kulturkreisen das alte Europa, sich seiner eigenen Werte, ja seiner Identität zu vergewissern. In der Illusion, eine aufgeklärte und moderne Gesellschaft zu sein, in der Freude darüber, nach einer Epoche der Weltkriege und der Diktaturen endlich einen Raum des Friedens, der Freiheit, des Rechts und – wenigstens im globalen Vergleich – der sozialen Sicherheit und des Wohlstands geschaffen zu haben, vergassen wir Europäer weitgehend, uns über die Fundamente unserer gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Ordnung Rechenschaft abzulegen. Das rächt sich jetzt, denn die Integration hunderttausender Menschen aus aussereuropäischen Gesellschaften wird uns nun nicht nur Geld und Mühe kosten, wie Bundespräsident Joachim Gauck in der Vorwoche meinte, sondern vor allem die Courage zur gemeinschaftlichen Identitätsfeststellung.

Konkret: Wie argumentieren und erklären wir Menschenwürde und Gleichberechtigung, wie Minderheitenrechte und Meinungsfreiheit, wie Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie? Wie begründen wir die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Lebensmodelle, Weltanschauungen und Religionen am selben Arbeitsplatz, in der selben Strasse, im gleichen Stadtviertel? Welchen Mindestkonsens hinsichtlich ihrer Werte und Grundannahmen brauchen der Rechtsstaat, die Politik und die Gesellschaft? Wieviel Parallelgesellschaft – nicht nur für Muslime, sondern angesichts wachsender säkularer Unduldsamkeit auch für Christen – ist einer Gesellschaft möglich? Wieviel Parallelgesellschaft ist dem Gemeinwohl zuträglich, wieviel erträglich? Wieviel muss jemand – über die Sprache, die Verkehrsregeln und alltagsrelevante Gesetze hinaus – von Kultur, Rechtsverständnis, Geschichte und Geistesgeschichte eines Landes wissen (also lernen), um sich zu integrieren?

Diese Fragen zu stellen heisst, die Versäumnisse, ja die Unterlassungssünden der vergangenen Jahrzehnte offenzulegen: Wie “integriert“ sind wir Europäer eigentlich in Europa? Wie vertraut sind uns selbst die geistesgeschichtlichen Grundlagen des Rechtsstaates und der Menschenwürde? Haben die Gesellschaften Europas noch ein allen Bürgern gemeinsames Fundament an Werten und Idealen – oder werden sie nur mehr von Bequemlichkeiten und gemeinsamen Interessen zusammengehalten? Anders formuliert: Können wir denen, die sich integrieren wollen, überhaupt noch erklären und zeigen, worin unsere Identität besteht? Können wir ihnen das Europäische des Europäers vorleben? Für Christen in Europa stellt sich diese Frage noch radikaler: Können wir integrationsbereiten Muslimen das Christliche der Christen erklären, zeigen und vorleben? Viele der nun nach Europa kommenden Flüchtlinge konnten angesichts muslimischer Mehrheitsgesellschaften in ihren Herkunftsländern die Christen leicht übersehen. Die Herausforderung ihrer Integration in Europa besteht aus christlicher Sicht nun darin: Wie können wir ihnen – angesichts glaubensschwacher Mehrheitsgesellschaften – helfen, in Europa Christen zu begegnen, und dem christlichen Glauben?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien

Die drei Säulen der röm. kath. Kirche

monstranz maria papst-franziskus

Archiv

Empfehlung

Ausgewählte Artikel