Der Weg zur Inklusion ist noch weit

Trotz legitimer Wünsche gibt es “kein Recht” auf ein “gesundes Kind”, meint der Genforscher, Kinderarzt und Buchautor Holm Schneider

Laufclub

Von Stefan Rehder

Die Tagespost, 17. Juli 2015

Herr Professor Schneider: Inklusion ist derzeit in aller Munde. Als Genforscher und Kinderarzt, der sich besonders für Menschen mit Behinderungen einsetzt, könnte Sie dies freuen. Wie zufrieden macht Sie der Umgang von Politik und Gesellschaft mit dem Thema Inklusion?

Nun, die Richtung stimmt, aber der Weg ist noch weit. Es freut mich, dass die Familien meiner Patienten heute Möglichkeiten vorfinden, um die andere vor zehn Jahren noch mit ganzem Einsatz kämpfen mussten. Das ist politischen Entscheidungen zu verdanken. Ich nehme vielerorts ein Bemühen um Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung wahr: in Kindergärten, Schulen, Vereinen, sogar auf dem ersten Arbeitsmarkt. Missverständnisse bleiben da nicht aus, und manchmal kommt es auch zu echten Interessenskonflikten – mit der Gefahr, dass Betroffene ins mediale Rampenlicht gezerrt werden und erbitterte öffentliche Debatten auslösen. Wie Henri aus Baden-Württemberg zum Beispiel, dem die Schlagzeile “Geistig behindert aufs Gymnasium?” wohl eher zweifelhafte Popularität verschafft hat. Inklusion heisst nicht, dass jedem Kind jede Schule offenstehen sollte.

Sondern?

Dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt mit anderen entscheiden können, welcher Ort für sie der passende ist und dass sie tatsächlich die gleichen Chancen bekommen. Gerade jene, die sich von klein auf als “anders“ erleben, brauchen solche Chancengleichheit, um Selbstachtung und ein realistisches Selbstbild zu entwickeln. Und da viele Begabungen sich erst in der Gemeinschaft entfalten, profitieren auch Gemeinschaften davon, wenn sie Ausgrenzung vermeiden und jemanden, der ernsthaft dazugehören möchte, so annehmen, wie er nun mal ist.

Wo sehen Sie die grössten Defizite?

Da, wo man meint, Inklusion lasse sich von aussen, durch Verordnungen bewirken. Das geht fast immer schief. Inklusion beginnt im Kopf, nicht auf dem Papier. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel, wo im Sommer 2014 das 9. Schulrechtsänderungsgesetz in Kraft trat, wird jetzt ein Drittel der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen unterrichtet. Ich kenne Lehrer, die das als “Zumutung” bezeichnen – und sie haben Recht. Inklusion an Schulen kann nicht ohne die Bereitschaft der Lehrkräfte und der Klassengemeinschaft gelingen, auch nicht ohne adäquate Fortbildung und zusätzliche Ressourcen. Wenn es an solchen Voraussetzungen mangelt, lassen wir uns ungern etwas zumuten – ein Wort, das ursprünglich “zutrauen, besonderen Mut anerkennen” bedeutete. Und tatsächlich braucht es Mut, in einer Gemeinschaft aus lauter jungen, leistungsfähigen, unbehinderten Individuen unsere eigentliche Abhängigkeit voneinander nicht zu verleugnen.

Und was schlagen Sie da vor?

Zuerst sollten wir die Bilder von Behinderung in unseren Köpfen korrigieren. Jeder von uns kann jederzeit zum Behinderten werden. Kaum jemand wird ein Leben lang gesund sein. Krankheiten und Handicaps gehören zum Leben einfach dazu, manchmal schon von Anfang an. Eltern, Mitschüler und Lehrer, die das verstanden haben, werden einander zutrauen, mitzuwachsen mit einem besonderen Kind. Die meisten Erwachsenen wissen auch, dass es sinnlos ist, an jedes Kind die gleichen Anforderungen zu stellen. Der Überflieger lernt dabei, dass er sich nicht mühen muss. Andere werden überfordert und damit demotiviert. Bildung sollte jedoch helfen, eigene Stärken zu erkennen und schätzen zu lernen, ebenso wie die der anderen. Kurz: Es braucht mehr als nur politische Vorgaben, um Behinderte inkludieren zu können.

Ist es kein Widerspruch, wenn Bund, Länder und Kommunen überlegen, wie Inklusion in Städten und Gemeinden, in Kindergärten und Schulen, am Arbeitsplatz und in der Freizeit gelingen kann, andererseits aber Gesetze beibehalten, die die vorgeburtliche Tötung von Menschen mit Behinderungen ermöglichen, und darüber hinaus die Entwicklung von Gentests fördern, mit denen sich die Träger genetischer Besonderheiten identifizieren und selektieren lassen?

Ja, das ist ein frappierender Widerspruch, auf den ich auch immer wieder hinweise. Wirkliche Inklusion beginnt schon vor der Geburt.

In Deutschland ist der sogenannte PraenaTest seit August 2012 erhältlich. Laut dem Hersteller, der Konstanzer BioTech-Firma LifeCodexx, haben bereits im ersten Jahr 6 000 Frauen von diesem Test Gebrauch gemacht. Rund die Hälfte davon in Deutschland. LifeCodexx bewirbt den Bluttest als schnelle und sichere Alternative zu Fruchtwasseruntersuchungen und der Chorionzottenbiopsie, da er eine Genauigkeit von 99,8 Prozent aufweise und nicht das Risiko einer Fehlgeburt berge. Befürworter des PraenaTests argumentieren, durch den Bluttest sei eine vorgeburtliche Diagnostik nun mit weniger Risiken für Mutter und Kind verbunden. Ein Argument, das auch den Genforscher und Kinderarzt Schneider überzeugt?

Nun, für das Kind ist dieser Test durchaus riskant, denn wenn es tatsächlich oder auch nur vermeintlich – infolge falsch positiver Befunde – von der Norm abweicht, dann kann sein Lebensrecht vom Staat nicht mehr gewährleistet werden. Wir wissen ja zum Beispiel, dass nach der vorgeburtlichen Diagnose einer Trisomie 21 (Down-Syndrom) über 90 Prozent der Betroffenen abgetrieben werden. Der PraenaTest wird ab der vollendeten neunten Schwangerschaftswoche angeboten. Das Ergebnis liegt nach vier bis zehn Tagen vor. Laut § 218 a Absatz 1 StGB ist bis zur zwölften Lebenswoche des ungeborenen Kindes dessen straffreie Abtreibung möglich, wofür nur ein Beratungsschein vorgelegt werden muss. Ob das Testergebnis der Grund dafür war, wird nirgendwo erfasst. Auf dem Auftragsbogen zum PraenaTest lassen sich ausser Trisomie 21 derzeit sechs weitere genetische Besonderheiten ankreuzen, die man beim Baby “ausschliessen” möchte. Zum Beispiel das Turner-Syndrom, eine Chromosomenanomalie, die zu behandelbarem Kleinwuchs bei normaler Intelligenz und Lebenserwartung führt. Dieser Test birgt also für manche Kinder ein tödliches Risiko – und für Schwangere die Gefahr, eine Entscheidung unter Zeitdruck zu treffen und dann ein Leben lang Mutter eines getöteten Kindes zu sein.

Derzeit ist der PraenaTest eine sogenannte IGeL-Leistung, die von den Patientinnen privat bezahlt werden muss. LifeCodexx bemüht sich aber um Aufnahme des PraenaTests in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen. Der Gemeinsame Bundesausschuss berät bereits über einen Antrag auf Erprobung des PraenaTests. Entscheidet der sich dafür, könnte als Ergebnis der dann durchzuführenden Studien die Aufnahme des Tests in die Regelleistungen der gesetzlichen Krankenkassen folgen. Mit welchen Veränderungen müsste unsere Gesellschaft in einem solchen Fall rechnen?

Damit, dass der PraenaTest dann ein Test für fast jede Schwangere wird, weil viele Ärzte ihn dann unabhängig vom Alter der Schwangeren oder anderen Risikofaktoren anbieten werden. Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik erklärte dazu schon 2012, dass diese Untersuchung “allen Schwangeren verfügbar gemacht werden sollte”. Damit käme es zu einer weiteren Aushöhlung des Lebensschutzes ungeborener, auch genetisch normaler Kinder. Denn je breiter der Test eingesetzt wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Diagnose einer “Chromosomenstörung” gar nicht stimmt. In Studien lag eine falsch positive Diagnose in 0,2 bis 0,3 Prozent der Fälle vor. Würde man alle Schwangerschaften testen, also auch die junger Frauen, bei denen kindliche Chromosomenanomalien viel seltener sind, wären die meisten vermeintlich Betroffenen ganz normale Kinder. Zugleich würde die regelmässige Finanzierung solcher Tests durch die Krankenkassen dazu führen, dass Menschen, deren genetische Eigenschaften aus Sicht ihrer Eltern unerwünscht sind, keine Chance mehr haben, geboren zu werden. Diese “Eugenik von unten” könnte das Gleiche bewirken wie ein “von oben” angeordneter eugenischer Feldzug, nämlich das Aussterben bestimmter Menschengruppen. Sie ist somit ein Angriff auf die Würde des Menschen insgesamt.

Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang auch dem Arzthaftungsrecht zu. In der Vergangenheit haben Richter bereits Ärzte zu Schadensersatz verurteilt, weil diese Frauen nicht eindrücklich genug vor der Möglichkeit gewarnt hätten, ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen. Ist eine Kind-als-Schaden-Rechtsprechung in einer Gesellschaft, die sich die Inklusion auf die Fahne geschrieben hat, nicht ein merkwürdiger Anachronismus?

Als Vater wie als Kinderarzt verstehe ich natürlich den Wunsch nach gesunden Kindern. Der ist völlig legitim. Ich weiss aber auch, dass es kein Recht darauf gibt und dass kein Test auf dieser Welt ein gesundes Kind garantieren kann. Dennoch wurden Ärzte zur Unterhaltskostenzahlung verurteilt, weil die Eltern erklärten, dass sie ihr Kind bei rechtzeitiger Kenntnis seiner Behinderung abgetrieben hätten. Da in unserem Land eine Abtreibung allein wegen einer Trisomie 21 des Ungeborenen in jedem Fall rechtswidrig ist und das Verhindern einer rechtswidrigen Tat nie einen Schadensersatz begründen kann, vermag ich der Urteilsbegründung in diesen Fällen nicht zu folgen. Aus meiner Sicht ist nicht die Haftpflichtversicherung des Frauenarztes, sondern die gesamte Solidargemeinschaft in der Verantwortung, wenn einer Familie durch die Geburt eines Kindes mit genetischer Besonderheit Nachteile entstehen. Dafür zu sorgen, wäre notwendige Anti-Diskriminierungspolitik.

Wer nicht regelmässig mit Menschen mit Behinderung zu tun hat, wirkt im Umgang mit ihnen oft verunsichert und gehemmt. Vergleichbar jemandem, der sich in einer Sprache auszudrücken sucht, die er nicht beherrscht. Kann man sagen, Übung macht auch hier den Meister, oder gibt es da vielleicht noch anderes zu berücksichtigen, etwa dass behinderte Menschen uns unsere eigene Verletzlichkeit vor Augen führen, was zum Beispiel auch Ängste hervorrufen kann?

Das trifft sicher zu. Menschen, deren Grenzen sichtbar sind, erinnern uns eben auch an unsere eigene Schwäche, daran, dass jeder Mensch angewiesen ist auf andere, dass niemand alles alleine schafft. Damit muss ich mich erst mal auseinandersetzen. Habe ich den Mut, mich meiner Begrenztheit zu stellen, meinen Schattenseiten, meinen Schwächen und Ängsten? Das konfrontiert mich plötzlich ganz konkret mit der Frage: Was macht mein Leben wertvoll? Und auch hier können Menschen mit Behinderung uns Wesentliches sagen: Mein Wert ist nicht das Produkt meiner geistigen und körperlichen Kräfte. Er ist nicht an Leistungsfähigkeit gebunden, weder im Himmel noch auf Erden – ich erinnere da nur an Papst Johannes Paul II. bei seinen letzten öffentlichen Auftritten. Wer über diese Frage nachdenkt, dem kann nichts Besseres passieren, als Menschen mit Behinderung kennenzulernen, sie schätzen zu lernen – und dadurch an die Hand genommen zu werden, die eigenen Grenzen anzunehmen. Wer sich darauf einlässt, der kann enorm viel gewinnen. Es gibt viele Menschen mit Behinderung, die anderen gern einen Einblick in ihr Leben gewähren, und es gibt Gemeinschaften, wo man staunend erkennt, dass auch Menschen mit einem ganz kleinen Kompetenzbereich eine ihnen gemässe Aufgabe finden können.

Sie sind nicht nur Kinderarzt und Genforscher, sondern auch Autor mehrerer Kinder- und Sachbücher, die auf ganz unterschiedliche Weise zeigen, wie Menschen mit Behinderung unsere Gesellschaft bereichern. In Ihrem 2014 im Neufeld Verlag erschienenen Buch “Was soll aus diesem Kind bloss werden?” haben Sie sieben Menschen mit Down-Syndrom porträtiert und damit gezeigt, wie eine gelungene Inklusion von Menschen mit Behinderung in der Arbeitswelt aussehen kann. Welche Rückmeldungen haben Sie auf dieses Buch, das bereits seine 2. Auflage erlebt hat, bekommen?

Mehr als erwartet. Es gab Rückmeldungen von Eltern, die zeigen, dass diese Geschichten tatsächlich Mut machen, dass sie den Blick auf das lenken, was Menschen mit Down-Syndrom können. Unser Bundespräsident Joachim Gauck schrieb, er freue sich über die Zuversicht, die das Buch ausstrahle und die in unserem Land gebraucht werde. Auch der Brief eines Bischofs, der mich wissen liess, dass er aktiv zur Verbreitung des Buches beiträgt, hat mich sehr berührt. Gestaunt habe ich, auf welch originellen Wegen es in die Hände von Firmenchefs, also potenziellen Arbeitgebern, gelangt ist – oder zu einer Schwangeren, die voller Angst war, weil man bei ihrem Baby im Bauch eine verdickte Nackenfalte festgestellt hatte. Sie hat Kraft für das “Ja“ zu ihrem Kind aus diesem Buch gewonnen, zusammen mit der Erkenntnis, dass auch aus Kindern mit Down-Syndrom etwas werden kann.

Arbeiten Sie bereits an einem neuen Projekt? Und wenn ja, was ist davon schon mitteilbar?

Im Sommerurlaub möchte ich ein anderes Buch abschliessen, in dem es nicht um die Arbeitswelt geht, sondern um Inklusion im privaten Umfeld: Es erzählt von Menschen mit unterschiedlichen Handicaps, die den Wunsch nach einer eigenen Familie trotzdem verwirklicht haben. Und von Kindern, die ihre Eltern, obwohl sie anders sind, nicht weniger lieben. Es soll im Frühjahr 2016 im Neufeld Verlag erscheinen. Patienten in meiner Spezialambulanz fragen mich immer wieder: “Kann so jemand wie ich auch mal heiraten und Kinder bekommen?” Darauf zu antworten fiel mir anfangs schwer. Deshalb habe ich sehr genau hingehört, wenn Menschen mit Behinderung über ihre Erfahrungen sprachen, und einige haben mir erlaubt, ihre persönliche Geschichte weiterzuerzählen.

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