Sünde ist Selbstmord

Eine Klärung der Begriffe Schuld und Sünde mit dem Werk von C.S. Lewis und Josef Pieper bei einer Tagung in Paderborn

isC. S. Lewis
Josef Pieper

Eine Klärung der Begriffe Schuld und Sünde mit dem Werk von C.S. Lewis und Josef Pieper bei einer Tagung in Paderborn.

Von Alexander Riebel

Die Tagespost, 29. Juni 2015

Erschöpft die Frage nach der Schuld schon die ganze Dimension der Sünde? Und kann das Böse überhaupt frei gewollt werden? Untersuchungen der Sünde führen in der jüngeren theologischen Literatur eher ein Schattendasein. Umso wichtiger war es, dass die Tagung an der Theologischen Fakultät Paderborn über “Schuld und Sünde – Eine notwendige Klärung mit C.S. Lewis und Josef Pieper” das Problem in aller Tiefe in den Blick nahm. Die zweitägige Veranstaltung am Wochenende leitete Berthold Wald, Professor für Systematische Philosophie an der Theologischen Fakultät Paderborn sowie Leiter der Josef-Piper-Arbeitsstelle, Moderator war Thomas Möllenbeck, Dozent für Dogmatik in Wien und Münster.

Einen Vergleich zwischen Josef Pieper und Thomas von Aquin zog Hanns-Gregor Nissing, Referent für Glaubensbildung im Geistlichen Zentrum der Malteser Kommende Ehreshofen nahe Köln, mit dem Thema “Der Mensch, indem er sündigt, weicht vom Gesetz Gottes ab”. Nissing hat gleich das Grundthema der Tagung angesprochen, dass die Sünde zugleich in der Abwendung von Gott und der Zuwendung zum Geschöpf besteht. Sünde ist nach Thomas menschliches Tun, ein Akt des Menschen, nicht aber ein Zustand. Sie ist auch nicht ein Mangel, sondern ein Akt, dem die gebührende Hinordnung fehlt, also eine Störung, bei der das Handeln nicht auf Gott ausgerichtet ist. Wichtig ist die Erläuterung von Thomas hierzu: “Nicht wir selber haben, etwa Kraft einer Wahlentscheidung, das Ziel, in dessen Verfehlung die Sünde besteht, gesetzt. Vielmehr finden wir uns bereits ungefragt auf dieses Ziel hin ausgerichtet vor. Hierin sind wir also nicht frei… Das Verlangen nach dem letzten Ziel ist nicht unter den Dingen, deren Herr wir sind.” Wirklich frei sind wir nur in unserem Verhältnis zum Guten und damit zu Gott; das Böse wird nicht durch die höchst mögliche Freiheit gewählt, sondern die Hinwendung zum Bösen entstammt aus einer ungeordneten Selbstliebe. Wäre die Freiheit Grund der Sünde, dann wäre auch Gott nicht frei; Gott aber ist die vollendete Freiheit. Die sittliche Fehlleistung, wie Thomas die Sünde versteht, betrifft den Kern des Menschen, denn wir müssen die Tat verantworten, die von uns gewollt wird und “in uns” selbst liegt, wie Josef Pieper in “Über den Begriff der Sünde” ausgeführt hat.

Auffällig ist nach Nissing die strukturelle Ähnlichkeit im Aufbau der Sünden-Untersuchung bei Pieper und bei Thomas: beide fragen nach Begriff, Ursache und Wirkung der Sünde. Die Hinwendung zu den geschöpflichen Gütern kann natürlich auch etwas Gutes sein, nur dann nicht, wenn sie zugleich die Abwendung von Gott bedeutet, wie Pieper zeigt. Interessant ist bei Pieper die Formulierung, der letzte Grund des Sündigen-Könnens komme “nicht Kraft seine Ursprungs aus Gott, sondern Kraft seines Ursprungs aus dem Nichts”. Denn der Mensch ist eine Schöpfung aus dem Nichts: “Die Kreatur ist dunkel, sofern sie aus dem Nichts stammt.” Bei Thomas kommt noch hinzu, dass die Sünde eine Schwäche ist, sie ist nicht nur Tat, sondern auch Zustand, eine Krankheit der Seele und des Körpers. Als solche Krankheit wird, wie sich in den weiteren Gesprächen ergeben hat, auch die Erbsünde verstanden. Zwar ist sie die Sünde des ersten Menschen, die auf die nachfolgenden übergeht, aber um historische Einordnungen zu vermeiden, sei es sinnvoller, die Menschheit als einen Körper anzusehen, der von der Erbsünde betroffen ist. Erlösung von Sünde kann schlechthin nur von Gott kommen: durch die Fleischwerdung hat er unsere Verbannung und Niedrigkeit auf sich genommen, wie es bei Thomas heisst.

Berthold Wald hat mit seinem Vortrag “Widerstreit zwischen Schuld und Sünde? Josef Pieper über Sünde – philosophisch betrachtet” Pieper auch aus seiner Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie gedeutet. Pieper habe sich sehr lange mit der Sünde beschäftigt, von 1953 bis 1977 schrieb er darüber. Dabei ist Pieper nicht rein theoretisch an das Thema herangegangen, sondern auch von der Alltagssprache ausgehend oder Zeitgenossen wie Sartre, Gide, Nicolai Hartmann oder T.S. Eliot. Pieper verfolgte den Anspruch, sich nicht historisch mit der Sünde auseinanderzusetzen, sondern “wahrheitskritisch in zweifachem Sinn: nichts ungeprüft einfach durchzulassen, aber auch keinen möglichen Aspekt der Wahrheit auszulassen”, sagte Wald. In der Sünde als Verfehlung gegen Gott geschieht “die willentliche Verneinung des eigenen Lebensgrundes”, schreibt Pieper, der auch von einem widersinnigen und seinswidrigen menschlichen Akt spricht. Dabei ist nach Wald fast nur noch im Katechismus und in der Unterhaltungsindustrie von Sünde die Rede, in philosophischen Lexika dagegen fast gar nicht. Bereits nach Luther kenne der natürliche Mensch nur Schuld, aber keine Sünde. Auch Nietzsche sei noch davon ausgegangen, “dass Sündhaftigkeit kein Tatbestand am Menschen ist, vielmehr nur die Interpretation eines Tatbestandes, nämlich einer philosophischen Verstimmung”. Auch Heidegger meinte, dass philosophisches Fragen grundsätzlich nichts von Sünde weiss. Noch radikaler sei aber Nicolai Hartmann, denn der Begriff Sünde stehe nicht nur ausserhalb der Ethik, sondern sei mit ihr unvereinbar und stehe im Widerspruch zu ihr. Wenn die Sünde aber ausserhalb der Ethik steht, könnte man fragen, ob nicht auch ein sündhaftes Tun möglich ist, ohne sich bewusst von Gott abzuwenden; so denkt ja auch der Ehebrecher nicht an Gott, sondern an die andere Frau. Aber das ist kein Ausweg, wie Wald überzeugend zeigt. Denn die Begierde oder Cupiditas sei gerade nicht das sündhafte Moment, sondern wie der junge Philosoph John Rawls gezeigt habe, sei die Sünde des Geistes nicht durch Sinnlichkeit motiviert, sondern die Sinnlichkeit sei umgekehrt die Folge einer “geistigen Perversion”. So kann sich also die Abwendung von Gott unthematisch vollziehen, unter der Maske der Freiheit. Das Freiheitsthema, das auch Wald aufwirft, zieht sich wie ein roter Faden durch die Veranstaltung. Denn Freiheit, zumal der Autonomiegedanke der Aufklärung, führt beim Verständnis der Sünde nicht weiter; die Freiheit ist in der Tat die Maske, die man sich zulegt, um vermeintlich dem sündhaften Handeln entkommen zu können; aber Freiheit, wenn sie nicht auf Gott ausgerichtet und durch ihn gegeben ist, kann nur defizitär sein. Pieper spricht daher auch von der tödlichen Konsequenz der Sünde, weil sie die Verneinung des Sinngrundes der menschlichen Existenz ist.

Als Theologin sprach auf der philosophischen Tagung Schwester Theresia Heither OSB vom Kloster Mariendonk bei Kempten über “Genesis 3 in der Theologie der Kirchenväter”. Für sie ist völlig klar, dass man von Sünde nur in der Beziehung zu Gott sprechen kann. Für die Kirchenväter war die heilige Schrift allein entscheidend für alle Lebensfragen. Die Genesis frage nach dem Ursprung des Bösen, wohin es führe und wie es behandelt werden könne. Wenn der Mensch aber vom Gehorsam Gottes lebt, dann isst er dieselbe Speise wie Gottes Sohn. Darum hat auch die rätselhafte Frage nach dem Baum des Todes in Christus ihre Lösung. Denn Gott habe die Ordnung des Bösen nicht vorgegeben. Der Mensch selbst, so die Referentin, hat sich getötet, nicht die Schlange im Paradies, die selbst nur die Verkörperung des Teufels sei: Sünde ist Selbstmord und damit die Frucht der Verkehrung der wahren Ordnung. In diesem Zusammenhang war interessant zu hören, dass es wie bei der Freiheit auch eine Stufung der Ebenbildlichkeit gebe. Der Mensch, so Theresia Heither OSB, habe als Ebenbild Gottes diese Ebenbildlichkeit erst in ihrem Anfang. Die Ähnlichkeit mit Gott soll erst erreicht werden, die Freiheit des Menschen sei also ein Prozess zu Gott. Darum habe bereits Origines gesagt, erst wenn wir in der Schau Gottes nicht mehr sündigen können, sei die wahre Freiheit erreicht. Ist die von Gott vorgesehene Ordnung aber gestört, wollen die Menschen sein wie Gott, der alles beherrscht. Das hatte schon Konsequenzen für Adam und Eva, die ohne Glück und das Licht Gottes nach dem Sündenfall gelebt hätten – sie können nur noch ein Leben nach dem Vergnügen führen, nach der Hedoné, wie die Kirchenväter sagen. Überhaupt sei das leben zwischen Mann und Frau gestört, denn durch die Sünde kann das Zusammenleben die Quelle von Unterdrückung und Gewalt werden. Dass Christus durch seinen Tod den Tod überwunden hat, bedeutet für den Menschen, dass er sterben darf. Das Sterben-dürfen ist für ihn die Möglichkeit, wieder zu Gott zurückzukehren. In der Diskussion war strittig, ob der Hochmut des Menschen der zentrale Grund für den Sündenfall war, wie Theresia Heither OSB sagte. Jörg Splett, Professor em. an der philosophisch-theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main, hielt den Hochmut eher für eine Verdeckung der menschlichen Angst und meinte, der Hochmut passe eher zum Teufel; Eva hätte sich wegen des Apfels an Gott wenden sollen. Was man aber nimmt, kann man nicht mehr geschenkt bekommen. Heither OSB hingegen schlug vor, das Problem rückwärts vom Neuen Testament und vom Weg der Erlösung her zu verstehen: Vor der Demut musste die Hochmut sein.

Aus einer ganz anderen Perspektive hat sich dem Thema Till Kinzel, Berliner Anglist, genähert. Er sprach über die Deutung von Miltons “Paradise Lost“ (Das verlorene Paradies) durch C.S. Lewis, die leider noch nicht ins Deutsche übersetzt ist. Kaum ein anderer Text der frühen Neuzeit sei so kontrovers diskutiert worden. Die Interpretation von Milton gilt als eine seiner wichtigsten Schriften, wie Kinzel erklärte. Dabei ging es Lewis auch darum, Missverständnisse über Milton zu verhindern, die besonders in der Romantik entstanden sind. So haben Blake, Shelly oder Byron die Figur des Satans positiv geschildert, so dass man nach 1800 zwischen Satanisten und Antisatanisten unterscheiden könne. Lewis hat seine Untersuchung in zwei Teile aufgebaut, zunächst in Fragen nach dem Epos und Stil bei Milton, der zweite Teil handelt über Theologisches. Dabei zeigt Lewis, wie sich der Leser zunächst mit dem Satan identifizieren kann, indem Milton das Verführerische des Bösen zeigt; dann aber lasse sich leicht das Abgründige durchschauen. Darum spricht nach Lewis auch nicht gegen Milton, dass er den Satan so verführerisch darstelle. Auch der Satan beruft sich auf die bei der Tagung schon mehrmals angesprochene Freiheit, mit der er auch die Herrschaft über andere Teufel bewahren wolle – auch das Böse fordert Gehorsam ein.

Milton zeigt sogar Strategien, die in der Hölle diskutiert werden, ob man durch einen permanenten Krieg die Allmacht Gottes prüfen solle oder ob man besser ein eigenes Imperium aufbaut, um so nicht Gott ins Gehege zu kommen. Dass Satan als Figur mit Innerlichkeit dargestellt wird, zeigt schon, dass sein Geist die Hölle ist, wie Kinzel deutlich machte. Dass die Tat Evas Mord an der Menschheit sei, das stellte auch Lewis über das Epos von Milton fest. Lewis zeigte hierbei, wie ihre Tat schleichend entstand, der Mord war nicht ihr Motiv.

Über den “Tod in der Sicht von C.S. Lewis: Folge der Sünde und Mittel der Überwindung der Sünde“ sprach Norbert Feinendegen, Theologe an der Universität Bonn; über Lewis hat er “Denk-Weg zu Christus“ veröffentlicht. Mit Lewis sagte er, dass Christus tat, was die sündige Menschheit nicht schaffte. Der Tod ist der einzige Weg, zu Gott zurückzukehren. Denn schlimmer als der Tod sei die Sünde. Mit seiner These von der Geschichtlichkeit des Sündenfalls löste er eine anregende Diskussion aus. Für Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Professorin für Philosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Heiligenkreuz, macht es keinen Sinn, den Sündenfall historisch zu verorten, sie wollte ihn lieber als Prinzip ansehen, das sich durch die Geschichte durchhält. Ebenso heisse es ja auch “Im Anfang war das Wort“ und nicht “Am Anfang“. Der Engelsturz sei auch nicht historisch. Jörg Splett hingegen sprang Feinendegen bei, denn wenn die Erlösung historisch sei, müsse es auch der Sündenfall sein.

Einen interessanten Aspekt der Schuld betonte Jörg Splett. Denn sich entschuldigen heisst, man brauche keine Verzeihung. Wer sich entschuldigt, weist die Schuld von sich und macht sich gewissermassen unmündig. Die Ethik reiche nicht aus, die Dimension der Schuld zu erklären. Denn es sei ein Geschenk, denn ich darf Gutes tun sollen. Woher das sollen dürfen aber kommt, lasse sich nur im Hinblick auf Gott verstehen. Der Mythos beantwortet nach Splett die Fragen, wie wir in die Schuld hineingekommen seien und wie wieder heraus. Auch für Splett ist Freiheit nicht die Entscheidung zwischen Gut und Böse, wie Schelling behauptet hat. Man brauche auch nicht die Spur des Bösen, um Gutes zu erkennen, wie oft behauptet werde. Freiheit sei Freiheit zum Guten, Fehler machen wir aus Feigheit, ergänzte er.

Über “Die Wirklichkeit und das Böse“ sprach in ihrem Festvortrag Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz. Sie zeigte, wie Josef Pieper die Vorrangigkeit von Sein und Ontologie wieder zurückgewann, nachdem sie von Kant und dem Neukantianismus diskreditiert wurde. Das “Pathos einer ganzen Generation befreit sich von Kant“, führte sie aus und verwies auch auf Heidegger, Scheler und Edith Stein, die eine Gleichursprünglichkeit von Welt und Erkennen dachten. Und die Schülergeneration von Husserl sei religiös geworden. Dass alles Sein gut ist, gilt nach Gerl-Falkovitz auch für die menschliche Natur, das sei keine rein theologische Aussage. Das Gute sei in sich bestimmt, das Böse aber gar kein Prinzip. Vielmehr nutze das Böse einen Anteil am Guten. Auch die Trägheit und Traurigkeit des Herzens, die Akedia, könne den Tod wirken als Verweigerung der eigenen Grösse. Denn Gott wolle den Menschen gross, der immer wieder vor der eigenen Grösse zurückweicht. Gott wird, sagte Gerl-Falkovitz, nur durch das beleidigt, was wir gegen uns tun. Für Pieper sei Sünde nicht nur eine Fehlleistung; Fehlen kann auch apersonal sein, wie bei Göttern. Das Böse ist aber gewollte Schuld, der Kern der Sünde ist der Wille. Bei Sartre gebe es die Darstellung eines Hotels, das für die Sünde stehe, und für einen Augenblick gehe die Tür auf. Aber keiner verlässt die Hölle, der böse Wille habe sich “ontisch verfestigt“.

Als “grosse Ideologie“ der Gegenwart bezeichnete Gerl-Falkovitz die Genderpolitik. “Wenn man mit einer Nadel hineinsticht, platzt sie“, sagte die Philosophin. So schaffe die Sünde Wesenlosigkeit und verdecke, was wirklich ist. Nur eine sakramentale Lösung könne zur Lossprechung von der Sünde führen.

Die äusserst anregenden Beiträge werden auch wieder als Buch im Schöning Verlag erscheinen, herausgegeben wie immer von Thomas Möllenbeck und Berthold Wald. Um nur einige der Bände aus der Reihe zu nennen, die aus den Tagungen der vergangenen Jahre hervorgegangen sind: “Tod und Unsterblichkeit  – Erkundungen mit C.S. Lewis und Josef Pieper“, “Wahrheit und Selbstüberschreitung  – C.S. Lewis und Josef Pieper über den Menschen“ oder “Gott  – Mensch – Natur” : Zum Ur-Grund der Moral bei C.S. Lewis und Josef Pieper

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