Es geht ums Ganze

Warum unsere unbarmherzige Welt die Botschaft der Barmherzigkeit braucht

BarmherzigkeitssonntagQuelle: Die Tagespost, 22.05.2015
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Von Stefan Rehder

Genau fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils wird Papst Franziskus am 8. Dezember, dem Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria, das “Heilige Jahr der Barmherzigkeit” eröffnen. Für die – jedenfalls in den westlichen Industrieländern – zunehmend heidnischer werdende Welt, aber auch für nicht wenige getaufte Christen, scheint “Barmherzigkeit” ein sperriger Begriff geworden zu sein. Einer, der sich längst keiner durchweg positiven Konnotation mehr erfreut. Einer, mit dem kaum jemand – anders als etwa mit dem Begriff der “Gerechtigkeit” – noch “Stärke”, sondern vielmehr “Schwäche” assoziiert.

Kurz: Einer, der so gar nicht in unsere Welt passen will. Eine Welt, die sich allen Krisen der Gegenwart zum Trotz mitunter derart halbstark präsentiert, als könne sie – vor Kraft – sich kaum noch drehen. Eine, die sich statt in “Tugenden” in “soft skills” übt und der weit mehr am persönlichen Fortkommen gelegen zu sein scheint, als am Gemeinwohl. Vom Guten an sich ganz zu schweigen.

Zu dem merkwürdigen Klang, den die Rede von der Barmherzigkeit heute in vielen Ohren hinterlässt, mag freilich auch ein vielfach verfälschender Gebrauch des Wortes beitragen. Wer heute von anderen öffentlich Barmherzigkeit fordert, meint vielfach kaum mehr, als dass man “auch mal Fünfe gerade sein” lassen, “ein Auge zuzudrücken”, “nicht immer alles so genau nehmen” oder “auf die Goldwaage legen” müsse.

In Wirklichkeit eignet sich “Barmherzigkeit” jedoch weder als Gegenbegriff zu dem der “Wahrheit” noch zu dem der “Gerechtigkeit”. Auch mit Schwäche hat echte Barmherzigkeit nicht das Geringste zu tun. Barmherzigkeit – könnte man etwas flapsig sagen – ist nichts für Weicheier und Warmduscher.

“Barmherzigkeit walten zu lassen, ist ein Wesensmerkmal Gottes. Gerade darin zeigt sich seine Allmacht”, zitiert Papst Franziskus in der Bulle “Misericordiae vultus” (dt.: “das Antlitz der Barmherzigkeit”), mit welcher das Oberhaupt der katholischen Kirche das “Heilige Jahr der Barmherzigkeit” ankündigte, niemand Geringeres als den heiligen Thomas von Aquin. Für Christen hat das Verständnis von Barmherzigkeit also eine geradezu zentrale Bedeutung. Genauer: Das Bemühen um das rechte Verständnis von Barmherzigkeit ist für Christen eine echte “conditio sine qua non”. Oder anders formuliert: Wer kein rechtes Verständnis dessen besitzt, was “Barmherzigkeit” meint, der kann letztlich so wenig Christ sein, wie jemand Fussball spielen kann, dem beide Beine amputiert wurden.

Nicht von ungefähr schreibt der Heilige Vater gleich zu Beginn von “Misericordiae vultus” denn auch: “Jesus Christus ist das Antlitz der Barmherzigkeit des Vaters.” Und weiter: “Das Geheimnis des christlichen Glaubens scheint in diesem Satz auf den Punkt gebracht zu sein. In Jesus von Nazareth ist die Barmherzigkeit des Vaters lebendig und sichtbar geworden und hat ihren Höhepunkt gefunden. (…) Wer ihn sieht, sieht den Vater (vgl. Joh 14,9). Jesus von Nazareth ist es, der durch seine Worte und Werke und durch sein ganzes Dasein die Barmherzigkeit Gottes offenbart.”

Das Geheimnis des Glaubens auf den Punkt gebracht

“Christus”, schreibt der heilige Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika “Dives in misericordia”, “gibt der gesamten alttestamentarischen Tradition vom göttlichen Erbarmen eine endgültige Bedeutung. Er spricht nicht nur vom Erbarmen und erklärt es mit Hilfe von Gleichnissen und Parabeln, er ist vor allem selbst eine Verkörperung des Erbarmens, stellt es in seiner Person dar.”

“Dives in misericordia” ist das zweite Lehrschreiben, das Johannes Paul II. der Kirche schenkte. Als solches schliesst es nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich an seine Antrittsenzklika “Redemptor hominis” an, die der grosse Papst im Anschluss an die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils der Wahrheit über den Menschen widmete. In Christus begegnet der Mensch, so könnte man formulieren, nicht “nur” dem “Antlitz der Barmherzigkeit des Vater” sondern zugleich auch der perfekten Verwirklichung dessen, wozu er selbst von Gott gerufen ist, nämlich “ein anderer Christus2 zu werden.

Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute “Gaudium et spes” zitierend, schreibt Johannes Paul II. denn auch in “Dives in misericordia”: “‘Christus, der neue Adam, macht (…) dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschliesst ihm seine höchste Berufung’, und er tut dies eben ‘in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe‘. Diese Worte bezeugen sehr klar, dass der Mensch in der vollen Würde seiner Natur nicht dargestellt werden kann ohne einen – nicht nur begrifflichen, sondern im vollen Sinne existenziellen – Bezug zu Gott. Der Mensch und seine höchste Berufung werden in Christus durch die Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe offenbar.” Jesus Christus ist, wie der Herr über sich selbst sagt, für den Menschen “der Weg, die Wahrheit und das Leben” (Joh 14, 6). Und weil das so ist, kann Christus auch sagen: “Niemand kommt zum Vater, denn durch mich” (ebda).

So gesehen ist das von Papst Franziskus ausgerufene “Heilige Jahr der Barmherzigkeit” denn auch nicht etwas, das Gelegenheit bietet, einen der zahlreichen wichtigen Aspekte des Glaubens oder der Kirche, wie sie derzeit verfasst ist, in den Blick zu nehmen und zu vertiefen. Nein, in gewisser Weise geht es in diesem Jahr um das Ganze des christlichen Glaubens.

Und zwar eines durchaus tatkräftigen Glaubens. Denn wie Papst Johannes Paul II. in seinem bereits zitierten Lehrschreiben festhält: “fordert” Christus “beim Offenbaren der erbarmenden Liebe Gottes gleichzeitig von den Menschen”, dass auch sie “sich in ihrem Leben ebenfalls von Liebe und Erbarmen leiten” lassen. “Diese Forderung gehört”, so der Papst weiter, “wesenhaft zur messianischen Botschaft und stellt den Kern des evangelischen Ethos dar. Der Meister bringt sie zum Ausdruck sowohl in der Form des Gebotes, das er als ‘das wichtigste und erste’ bezeichnet, wie auch in der Form einer Seligpreisung, wenn er in der Bergpredigt aufruft: ‘Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden'” (Mt 5,7). Man kann also durchaus behaupten, dass barmherziges Verhalten wesentlich zum Christsein gehört.

Die Pfingstbeilage der “Tagespost” will – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auf den folgenden Seiten einige Aspekte vorstellen und behandeln, mit denen es sich im “Heiligen Jahr der Barmherzigkeit” zu beschäftigen lohnt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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