Die Zeichen der Zeit erkennen
Religionssoziologische Diskurse auf einer Fachtagung in Rom über die Kirche in der säkularisierten Gesellschaft
Von Guido Horst und Natalie Nordio
Vielfach eingesetzt, doch in der säkularisierten Gesellschaft oft völlig missverstanden: Das Kreuz auf einer Pegida-Demonstration in Dresden ist dafür ein Beispiel.
Rom, Die Tagespost, 06. März 2015
“Hin zu einer hörenden, unterscheidenden, willkommen heissenden und dienenden Kirche” war das Motto einer internationalen Tagung, zu der am Mittwoch und Donnerstag etwa hundert Religionssoziologen, Philosophen und Theologen an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom zusammenkamen, um fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil über die Kirche in der Gesellschaft von heute zu sprechen.
“Die Kirche in säkularer Zeit erneuern” lautete das Rahmenthema der Tagung. Neben der Jesuiten-Universität und dem Päpstlichen Kulturrat war der “Council for Research in Values and Philosophie” Träger der Veranstaltung, ein in Washington in den Vereinigten Staaten sitzendes Gremium, das seit Jahren die Arbeit von fünfzehn Forscherteams in der ganzen Welt koordiniert, die sich mit der Säkularisierungsdebatte beschäftigen, also mit der Frage, wie das Christentum und insbesondere die katholische Kirche nach Aufklärung und Säkularisierung ihr Verhältnis zur modernen Welt definieren sollen.
Ein führender Kopf dieses Forscherkreises ist der aus Kanada stammende Religionssoziologe Charles Taylor, der mit seinem Buch “Ein säkulares Zeitalter” – 2009 bei Suhrkamp auf Deutsch erschienen – ein Grundlagenwerk zu diesem Thema herausgegeben hat. Taylor, der jetzt bei der Tagung in Rom den abschließenden Vortrag hielt, vertritt die Auffassung, dass in den säkularisierten Gesellschaften des Westens bestimmte christliche Werte wie die Anerkennung der Menschenrechte und die Förderung von Organisationen der Caritas und Nächstenliebe stärker verwirklicht seien als das früher, zu Zeiten der katholischen Staaten, der Fall gewesen sei.
Nach einer kurzen Begrüßung der Referenten und Tagungsteilnehmer durch François-Xavier Dumortier SJ, den Rektor der Universität Gregoriana, richtete auch der Schirmherr der Veranstaltung, Kardinal Gianfranco Ravasi vom Päpstlichen Kulturrat, einleitende Worte an das Publikum. Hierbei ging es ihm besonders darum, den Wortursprung von Säkularisierung näher zu beleuchten. Diesem doch meist negativ ausgelegten Begriff stellte Ravasi eine positive Bedeutung zur Seite, indem er, vom lateinischen Wort „saeculum“ ausgehend, das Wort in theologisch-pastoralen Kategorien interpretierte. Gleichgültigkeit in der Frage nach dem Sinn des Lebens und ein beliebiges Vermengen verschiedener Religionen sind Ravasi zufolge gegenwärtig die größten Herausforderungen für die katholische Kirche. Die Atheisten im eigentlichen Sinne, die eine Existenz Gottes bewusst leugneten, seien mittlerweile hingegen eine Minderheit, sagte Ravasi.
Der erste Teil der Tagung wandte sich den Dynamiken der Säkularisierung im Westen zu. Der in Spanien geborene Religionssoziologe José Casanova von der Georgetown University in Washington kehrte ausgehend von den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils besonders deren globalen Charakter und – mit Blick auf die heutige säkularisierte Welt – die geradezu prophetischen Inhalte der Konzilstexte hervor. Denn schließlich seien diese Dokumente in einer Zeit verfasst worden, als man noch gar nicht von Globalisierung sprach. Die Kirche müsse sich ihrer globalen Stärke, aber auch ihrer globalen Verantwortung bewusst werden und stets im Sinne des ihr ganz eigenen universalen Charakters handeln. Die globalen Herausforderungen, die eine säkulare Welt an die Kirche stellt, fasste Casanova unter drei Schwerpunkten zusammen: Neben der Säkularisierung seien der Pluralismus und die Gender-Theorie die großen Anfragen, denen die Kirche heute gegenüberstehe. Einen Bedeutungsverlust von Kirche und Religion, der vielen zufolge die bittere Begleiterscheinung der Säkularisierung sei, sieht Casanova nicht notwendigerweise gegeben. Stattdessen hätten die Konzilsväter den Prozess der Globalisierung als „Zeichen der Zeit“ erkannt.
Ganz ähnliche Töne schlug auch Hans Joas an, Sozialphilosoph und Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Wie sein Vorredner begann er beim Zweiten Vatikanischen Konzil – dem ersten wirklichen Weltkonzil in der Kirchengeschichte, wie er hervorhob. Schon häufig habe sich die katholische Kirche im Laufe ihrer Geschichte in der Krise befunden – Joas erinnerte besonders an das Jahr 1968, aber auch an die Missbrauchsfälle, die die Kirche während des Pontifikats von Benedikt XVI. in eine ihrer schwersten Krisen seit der Reformation gestürzt hätten. Nicht immer ganz leicht sei die Zusammenarbeit von Theologen und Soziologen, so Joas. Theologen seien oft sehr kritisch und befürchteten durch eine zu enge Zusammenarbeit mit der Soziologie den Verlust – oder wie Joas formulierte: „die Säkularisierung“ – religiöser Symbole und Werte. Doch seien derlei Zweifel erst ausgeräumt, berge eine Zusammenarbeit beider Wissenschaften die große Chance, den Herausforderungen, die die heutige Welt an die Institution Kirche stellt, gerecht zu werden. „Wir leben heute in einer Welt der Möglichkeiten“, so Joas, und eine dieser Möglichkeiten sei nach wie vor das Christentum. Die Kirche müsse sich ihren universalen Charakter bewahren und dürfe die Fülle an Interessen und unterschiedlichen Lebensentwürfen der heutigen Gesellschaft nicht ausblenden, sondern habe diese vielmehr zu integrieren. Der an der Johannes Paul II.-Universität in Lublin lehrende Soziologe und Medienwissenschaftler Leon Dyczewski kehrte in seinem Vortrag einmal mehr die große Bedeutung der Massenmedien für die Neuevangelisierung hervor. „Wenn du in den Medien nicht vertreten bist, existierst du nicht“, stellte er kurz und knapp fest. Für die Kirche sei es wichtiger denn je, die neuen medialen Kanäle zu nutzen, um die Botschaft Jesu unter den Gläubigen zu verbreiten und das Evangelium in die Welt zu bringen, so Dyczewski.
Ein besonderes Thema hatte der deutsche Autor und FAZ-Redakteur Daniel Deckers: „Being Pope Francis“. Deckers nahm die Tagungsteilnehmer mit auf eine, wie er es nannte, „archäologische Entdeckungstour“ zu der Frage, was es bedeute, Papst Franziskus zu sein. Drei Textpassagen stellte er im Laufe seines Vortrags vor. Den ersten aus dem Jahr 1975. Kurz zuvor war Bergoglio zum Oberen der argentinischen Provinz des Jesuitenordens ernannt worden. Der zweite Text stammte vom Oktober 2001.
Und schließlich einen Ausschnitt aus der Ansprache Papst Franziskus in Brasilien im Juli 2013 während des Weltjugendtags. Allen drei Texten sei eines gemein, so Deckers: Sie bestechen nicht durch große theologisch-wissenschaftliche Ansätze und Lehrmeinungen, sondern folgen vielmehr einem historisch-spirituellen Anliegen. Papst Franziskus sei ganz klar ein Medien-Mann, dem aber in seiner Funktion als Hirte stets zuallererst das Wohl seiner Herde der Gläubigen am Herzen liege. Nicht mit Substantiven, sondern mit vielen Verben sei Franziskus immer auf der Suche nach dem direkten Dialog zu den Gläubigen.
Den Tagungsteil zur „hörenden Kirche“ eröffnete der an der Prager Universität als Soziologe und Philosoph wirkende Priester Tomas Halik. Die Säkularisierung stelle nicht das Ende des Christentums dar, sondern die „Integration des Christentums in die moderne Welt“. Das sei zum einen ein Erfolg, allerdings büße es damit auch Stück seiner Sichtbarkeit ein. In Zukunft werde die Kirche in einem zunehmend pluralistischer werdenden kulturellen Milieu wirken und selber im Inneren durch einen größeren Pluralismus charakterisiert werden. Es sehe so aus, meinte Halik, dass es neue Wege des Christseins geben werde und viele Zeitgenossen „simul fideles et infidelis“, gläubig und ungläubig zugleich seien. Die Kirche müsse die verschiedenen Arten der Nicht-Gläubigen unterscheiden: die Agnostiker, die Atheisten, sowohl die neuen militanten wie auch die Atheisten, die aufgrund des Leids in der Welt nicht glauben könnten, sowie die Suchenden. Neben der klassischen Pastoral und der Missionstätigkeit müssen die Kirche einen „dritten Weg“ beschreiten, nämlich die Suchenden zu begleiten.
Zu den Referenten gehörte auch der 81 Jahre alte Jesuit Juan Carlos Scannone aus Argentinien, der zu den theologischen Lehrern von Jorge Mario Bergoglio an der „Universidad del Salvador“ in Buenos Aires gehörte, während der spätere Papst Franziskus wiederum sein Oberer im Jesuiten-Orden war. Scannone, der nicht in den Tagungssprachen Englisch und Italienisch, sondern auf Spanisch referierte, zitierte sehr viel Walter Kasper und schlug vor, dass die Kirche „die Zeichen der Zeit“ in der Weise des Evangeliums lesen müsse. Das sei eine zutiefst menschliche Vorgehensweise und könne auch von Nichtgläubigen und Angehörigen anderer Religionen geteilt werden. Historische Situationen und Geschehnisse seien dabei wie Texte zu behandeln, die man interpretiert.
Der Katholik Charles Taylor, mittlerweile emeritiert und 84 Jahre alt, kennzeichnete das Leben in der säkularisierten Welt als ein Leben der „unterschiedlichen Zugehörigkeiten“. Früher habe man einer Kirche und einem Staat angehört, und das sei praktisch deckungsgleich gewesen. Heute könne die politische, spirituelle und familiäre Zugehörigkeit ganz unterschiedliche Dimensionen annehmen. Auch die verschiedenen Formen des religiösen Lebens von Liturgie über Initiationsriten bis hin zur Frömmigkeit seien nicht mehr gebündelt, sondern hätten sich im späten zwanzigsten Jahrhundert auseinanderdividiert. Die „Strukturen des Christentums“ seien nicht mehr so evident und sichtbar. Man lebe nicht mehr in einer Zeit, in der die Kultur alle Aspekte des christlichen Lebens reflektiere. Kirchlich geprägte Milieus lösten sich auf. Manche Gläubige würden das begrüßen und ihrem eigenen spirituellen Weg folgen, andere würden den Abschied von der einheitlich christlichen Gesellschaft bedauern. Es sei die große Herausforderung der Kirche, die Anhänger dieser beiden Orientierungen durch die sakramentale Gemeinschaft wieder zu vereinen.
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