Die Wahrheit des Glaubens finden

Über die Prinzipien theologischer Erkenntnis

Die Tagespost, 25. März 2015

Über die Prinzipien theologischer Erkenntnis –Anmerkungen zur Forderung nach einem Paradigmenwechsel. Von Professor Helmut Hoping

Mit der dogmatischen Konstitution “Dei verbum” (1965) hat das Zweite Vatikanische Konzil ein Dokument über die göttliche Offenbarung verabschiedet, das zu den Schlüsseltexten des Konzils gehört. Ziel des Textes ist es, “den Spuren des Trienter und des Ersten Vatikanischen Konzils folgend, die echte Lehre über die göttliche Offenbarung und ihre Weitergabe vorzulegen”.

Im schärfer werdenden Streit über die katholische Ehelehre hat sich seit Jahresbeginn eine Reihe kirchlicher Würdenträger auf das Terrain der theologischen Erkenntnislehre begeben und einen Paradigmenwechsel gefordert: Es gehe nicht darum, die Wahrheit zu verteidigen, sondern den Menschen zu helfen, sie zu finden.

Der Lehre der Kirche zu widersprechen sei im Einzelfall legitim, da sich Dogmen entwickeln würden. Neben Schrift und Tradition müsse auch die konkrete Realität der Menschen als Quelle theologischer Erkenntnis anerkannt werden. Was ist davon aus Sicht der katholischen Dogmatik zu halten?

Gott kann nur in dem Masse erkannt werden, wie er sich zu erkennen gibt – sei es durch die Schöpfung oder in der Geschichte. Mit der dogmatischen Konstitution “Dei verbum” (1965) hat das Zweite Vatikanische Konzil ein Dokument über die göttliche Offenbarung verabschiedet, das zu den Schlüsseltexten des Konzils gehört. Ziel des Textes ist es, “den Spuren des Trienter und des Ersten Vatikanischen Konzils folgend, die echte Lehre über die göttliche Offenbarung und ihre Weitergabe vorzulegen” (DV 1). Gott hat sich in Jesus Christus, seinem menschgewordenen Sohn, selbst offenbart und das Geheimnis seines Willens kundgetan (DV 2). Da sich die Wahrheit der Offenbarung nur im geistgewirkten Glauben (DV 5) erschliesst, gehören Offenbarung und Glaube untrennbar zusammen. Das Evangelium, das die Propheten verheissen haben und das die Quelle aller Wahrheit ist, wurde durch die Apostel der Kirche zur treuen Weitergabe überliefert. Die heilige Überlieferung und die heilige Schrift beider Testamente vergleicht das Konzil mit einem Spiegel, in dem die Kirche alles, was sie von Gott empfangen hat, auf ihrem Weg durch die Zeit anschaut (DV 7). Schrift und Tradition sind nicht zwei getrennte Quellen der Offenbarung, sondern entspringen zusammen dem einen göttlichen Quell der Offenbarung (DV 10).

“Die Identität mit dem Ursprung kann nur innerhalb der Kontinuität des Glaubens bewahrt werden”

Der Kanon der neutestamentlichen Schriften bildet zusammen mit den Schriften der Bibel Israels die erste Bezeugungsinstanz des Glaubens. Die Schrift ist aber kein Petrefakt (Versteinerung, A.d.R.), sondern ein lebendiges Sprachereignis. Sie erklärt sich nicht selbst, sondern muss immer wieder ausgelegt und angeeignet werden. Und so “setzt die Kirche in ihrer Lehre, ihrem Leben und ihrem Kult fort und übermittelt allen Geschlechtern alles, was sie selber ist, alles, was sie glaubt” (DV 8). Von der apostolischen Überlieferung heisst es in der Konstitution “Dei verbum”, dass sie sich “in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes entwickelt”. Damit ist nicht eine Entwicklung der Offenbarung gemeint, sondern die Entwicklung im Verständnis der “überlieferten Dinge und Worte” (DV 8) – ein Fortschreiten im “Verständnis der Offenbarung” (DV 5).

In den frühen christlichen Glaubensformeln, die Eingang in die neutestamentlichen Schriften gefunden haben, und den Taufbekenntnissen sahen die Kirchenväter die zentrale Glaubensregel (regula fidei). Auf den ersten vier ökumenischen Konzilien erhielt der Glaube an Gott den Vater, seinen menschgewordenen Sohn und den Heiligen Geist seine grundlegende dogmatische Lehrgestalt. Das Dogma der Kirche ist nicht etwas, das zum Bekenntnis von aussen hinzugetreten ist, es wurzelt vielmehr im Bekenntnis. Nach Vinzenz von Lérins (5. Jh.) besteht der katholische Glaube in dem, “was überall, was immer, was von allen geglaubt wurde”. Der Glaube der Kirche umfasst den Glauben der ganz Kirche in synchroner und diachroner Identität. Thomas von Aquin (1225–1274) nennt als Prinzipien theologischer Erkenntnis die Glaubensartikel, die Heilige Schrift, die Konzilien und die Autorität des römischen Bischofs. Die menschliche Vernunft hilft, den Glauben wissenschaftlich zu durchdringen.

Als Begründer der Theologischen Erkenntnislehre gilt Melchior Cano (1509–1560). Er listet insgesamt zehn Fundorte für die theologische Argumentation auf (loci theologici). Bei den ersten sieben Fundorten handelt es sich um Bezeugungsinstanzen des Glaubens. Cano nennt sie Fundorte im eigentlichen Sinne (loci proprii). Es sind dies die auctoritas der Heiligen Schrift, der mündliche Überlieferung Christi und der Apostel, sodann die auctoritas des Glaubens der Gesamtkirche, der allgemeinen Konzilien und der römischen Kirche, schliesslich die auctoritas der heiligen Lehrer der Alten Kirche und der Theologen (bei der Autorität der Theologen handelt es sich nicht um einzelne Theologen oder einer nationalen Gruppe von Theologen, sondern um die übereinstimmende Lehre der Theologen; die Liturgie der Kirche ist Ausdrucks des Glaubens der Gesamtkirche). Neben den Fundorten, die Glaubensinhalte vermitteln, nennt Cano drei weitere Fundorte: die natürliche Vernunft, die Philosophie und die Geschichte. Er bezeichnet sie als fremde Fundorte (loci alieni), da sie keine direkten Quellen theologischer Erkenntnis sind, wohl aber Argumente für die wissenschaftliche Darstellung und Erörterung der christlichen Glaubenslehre liefern.

Die Identität mit dem Ursprung kann nur innerhalb der Kontinuität des Glaubens bewahrt werden. In der Überlieferung realisiert sich nach John Henry Newman (1801–1890) der Glaube als geschichtliche Wirklichkeit. Wenn die Offenbarung Gottes in seinem menschgewordenen Sohn mit dem Anspruch auf unbedingte Gültigkeit auftritt, muss dies auch für die zentralen Offenbarungswahrheiten gelten. Das Dogma der Kirche ist Ausdruck der inkarnatorischen Struktur des Glaubens. Dogma ist all das, “was im geschriebenen oder überlieferten Wort der Kirche Gottes enthalten ist und von der Kirche in feierlichem Entscheid oder durch gewöhnliche und allgemeine Lehrverkündigung als von Gott geoffenbart zu glauben vorgelegt wird” (DH 3011). Dogma im engeren Sinne ist eine Lehre der Kirche, die als definitive Wahrheit des Glaubens vom kirchliche Lehramt vorgelegt wird, so dass ihre Leugnung als Häresie zu bewerten ist (vgl. CIC can. 750f).

Dogmen fallen nicht vom Himmel, sie haben eine geschichtliche Genese. In diesem Sinne spricht man von Dogmenentwicklung. Doch es gehört zur Natur dogmatischer Lehraussagen, dass sie definitiv gelten und nicht unter Revisionsvorbehalt stehen. Die dogmatische Konstitution “Dei filius” des Ersten Vatikanischen Konzils (1870) fordert, dass der Sinn dogmatischer Lehraussagen so beizubehalten ist, wie ihn die Kirche erklärt hat (DH 3020). So ist eine Christologie, die beansprucht, orthodox zu sein, an die Entscheidung des Konzils von Nizäa (325) zur Göttlichkeit des menschgewordenen Sohnes Gottes gebunden. Es ist nicht möglich, auf einen Zustand vor der Definition zurückzugehen.

Die apostolische Überlieferung ist nicht nur dem Lehramt, sondern der ganzen Kirche zur Weitergabe anvertraut. “Damit aber das Evangelium in der Kirche stets unversehrt und lebendig bewahrt werde, haben die Apostel als ihre Nachfolger Bischöfe zurückgelassen, wobei sie ihnen ‘ihren eigenen Platz des Lehramtes übergaben'” (DV 7). Zu den Bitten im ältesten Hochgebet der katholischen Kirche gehört daher das Gebet für alle Hirten, “die Sorge tragen für den rechten, katholischen und apostolischen Glauben” (Römischer Kanon). Nur dem kirchlichen Lehramt kommt es zu, das überlieferte Wort Gottes letztverbindlich auszulegen (DV 10). Die Hirten der Kirche, einschliesslich des Papstes, verfügen dabei nicht über eine göttliche Inspiration. Es ist ihnen nur eine negative Assistenz des Heiligen Geistes verheissen, der sie vor Irrtümern bei Lehrdefinitionen bewahrt.

Der Glaubenssinn (sensus fidei) wird von der Gemeinschaft der Gläubigen aller Zeiten getragen. Der Glaubenssinn, man spricht auch vom Sinn der Gläubigen (sensus fidelium), hat eine diachrone wie synchrone Dimension. Er kann daher nicht gegen den überlieferten authentischen Glauben der Kirche stehen. Im Notfall ist es der sensus fidelium, der den Glauben der Kirche durchträgt, wie in der Zeit nach dem Konzil von Nizäa, als zahlreiche Bischöfe und ihre Nachfolger weiterhin dem Arianismus anhingen. Der Sinn der Gläubigen kann auch als Konsens von Seiten des Lehramtes erfragt werden, wie bei den Definitionen der Unbefleckten Empfängnis Mariens (1854) und der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel (1950). Bei der Befragung ging es damals nicht um eine Abstimmung über den katholischen Marienglauben, sondern um die Opportunität der Definitionen.

“Theologen wie Bischöfe haben die Aufgabe, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten”

Die grundlegende Struktur der Glaubenshermeneutik ist einer Ellipse vergleichbar, deren Scheitelpunkte Glaube und Vernunft bilden. Das mittelalterliche Theologieprogramm hat die Glaubenshermeneutik auf die Formel fides quaerens intellectum gebracht: der Glaube, der nach Einsicht sucht. Wenn es um die Frage nach dem verbindlichen Glauben der Kirche geht, sind alle Bezeugungsinstanzen des Glaubens zu berücksichtigen, nicht nur die Schrift oder nur Teile daraus (DV 21–26). Es ist die Aufgabe der Theologen, die geoffenbarte Wahrheit Gottes tiefer zu erfassen und für unsere Zeit zu erschliessen (GS 62). Wie der Bischof in seiner Lehrverkündigung, so ist auch der Theologe auf die überlieferte Wahrheit der Offenbarung verpflichtet (DV 24).

Bei der Erfüllung ihrer Sendung haben Theologen wie Bischöfe die Aufgabe, “nach den Zeichen der Zeit (signa temporum) zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten” (GS 4). Die Zeichen der Zeit sind Teil unserer Wirklichkeit, die jedem, ob er glaubt oder nicht, zugänglich ist. Die Wirklichkeit, in der wir leben, ist keine direkte theologische Erkenntnisquelle. Zwar soll “alles wahrhaft Menschliche” im Herzen der Jünger Christi “seinen Widerhall” finden (GS 1). Doch gilt es in der Pluralität der Zeichen “zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder des Ratschlusses Gottes sind” (GS 11). Dabei sind alle Bezeugungsinstanzen des Glaubens zu berücksichtigen. Die Stimme unserer Zeit (vox temporis) darf nicht einfach mit der Stimme Gottes identifiziert werden.

Dies ist auch bei den Fragen von Ehe, Familie und Sexualität zu beachten. Das Zweite Vatikanische Konzil hat in seine Pastoralkonstitution ein Bekenntnis zur “Förderung der Würde der Ehe und der Familie” abgelegt (GS 48–52). Die entscheidenden Leitworte des Konzils zu Ehe und Familie gehören zu seinem bleibenden Vermächtnis. Das erste Leitwort ist die “Heiligkeit von Ehe und Familie”. Mann und Frau sind mehr als das Produkt der Evolution. Die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen gehört zu seiner Wesensbestimmung und entspricht dem göttlichen Schöpfungsplan: “Gott schuf also den Menschen als sein Abbild: als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch” (Gen 1,27f). Der Titel eines vom Vorsitzenden der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Buches macht daraus gendergerecht “Als Frau und Mann schuf er sie”. Von Jesus ist eine Reihe von Aussagen zur Zweigeschlechtlichkeit des Menschen und der Ehe überliefert: “Am Anfang der Schöpfung aber hat Gott sie als Mann und Frau geschaffen” (Mt 10,6); “und die zwei werden ein Fleisch sein [vgl. Gen 2,24]. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen” (Mk 10,8f). “Wer seine Frau aus der Ehe entlässt und eine andere heiratet, begeht ihr gegenüber Ehebruch. Auch eine Frau begeht Ehebruch, wenn sie ihren Mann aus der Ehe entlässt und einen anderen heiratet” (Mk 10,11f; vgl. Lk 16,18). Paulus bekräftigt das Gebot des Herrn in 1 Kor 7,10f, erlaubt aber die Scheidung von einem ungläubigen Partner, der mit dem Christ gewordenen Partner nicht mehr zusammenleben will (1 Kor 7, 15). Unklar ist der Sinn der Unzuchtsklausel in Mt 5,32 und 19,9.

Keine Institution hat die Ehe zwischen Mann und Frau so unbeirrt verteidigt wie die katholische Kirche. Immer deutlicher hat sie die Natur der christlichen Ehe erkannt. Schliesslich definierte sie auf dem Konzil von Trient die Sakramentalität und Unauflöslichkeit der Ehe als geoffenbarte Wahrheit des Glaubens (DH 1797–1800; 1801; 1807). Die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, die in der Ehelehre mit dem Bundesgedanken aber einen neuen Akzent gesetzt hat, bekräftigte die Sakramentalität und Unauflöslichkeit der Ehe. Die Ehe zwischen Mann und Frau sieht die Konstitution vor allem durch die “Seuche der Scheidung” (GS 47: lues divortii) gefährdet. Gegenüber der Zeit des Konzils hat sich die Krise von Ehe und Familie deutlich zugespitzt. Heute haben wir es nicht nur mit Ehebruch und Scheidung zu tun, sondern mit Ehen ohne Trauschein, vermehrten Zweitehen und polyamorösen Verhältnissen. Für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften wird das Recht auf Ehe gefordert, einschliesslich des Rechts auf volle Adoption und Nutzung der Reproduktionsmedizin. Die katholische Kirche steht vor der Herkulesaufgabe, das christliche Evangelium von Ehe und Familie in der heutigen Gesellschaft und Pastoral unverkürzt zu verkünden. Die konkrete Realität der Menschen muss im Licht des Evangeliums gedeutet werden und darf nicht im Sinne der normativen Kraft des Faktischen der Massstab für den Glauben sein.

Manche Bischöfe und Kardinäle meinen, die Ehelehre müsse sich der Realität der Menschen anpassen, indem man Analogien zwischen der sakramentalen Ehe und anderen Lebensgemeinschaften anerkennt. “Gradualität” lautet die Zauberformel. Doch das eine ist die Gradualität des Weges zur sakramentalen Ehe, das andere eine Gradualität des Gesetzes. Ein solche hatte schon der heilige Johannes Paul II. in seiner Homilie zur Familiensynode von 1988 zurückgewiesen. Das göttliche Gesetz der Unauflöslichkeit der Ehe ist kein Ideal, das es in Zukunft zu erreichen gilt. Das Jawort, welches sich Mann und Frau bei der kirchlichen Feier der Trauung geben, ist mehr als der “Wunsch nach Unverbrüchlichkeit und Ausschliesslichkeit ihrer Liebe” (Neues Gotteslob Nr. 604,1) – als ob mit dem möglichen Sterben der Liebe auch das sakramentale Eheband sterben würde.

Aufgrund des göttlichen Gesetzes der Unauflöslichkeit der Ehe kann es neben einer bestehenden sakramentalen Ehe keine kirchliche anerkannte Ehe geben. Da mit einer Änderung der kirchlichen Ehelehre nicht zu rechnen ist, kündigen einzelne kirchliche Würdenträger an, je nach Kulturkreis die Pastoral von der Lehre abzukoppeln. Doch dies hätte eine Archivierung der Lehre zur Folge, während die Pastoral eigene Wege geht. So wird man Menschen das Evangelium von der christlichen Ehe nicht nahebringen können. Wer Menschen helfen will, die Wahrheit zu finden, darf sie nicht verbergen, sondern muss mutig für sie einstehen und dort verteidigen, wo sie auf Ablehnung stösst.

Der Autor ist Professor für Dogmatik und Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br

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