An der Organspende will keiner rütteln
Deutscher Ethikrat legt lang erwartete Stellungnahme zu Hirntod und Organspende vor
– Eine Analyse. Von Stefan Rehder
Die Tagespost, 25. Februar 2015
Bemerkenswerte Kritik, erstaunliche Konsequenzen. So liesse sich das brisante Votum überschreiben, das eine Minderheit des Deutschen Ethikrats für die gestern in Berlin vorgestellte Stellungnahme “Hirntod und Entscheidung zur Organspende” verfasst hat. Denn die Einwände, die sieben Ethikräte dort gegen die vorherrschende Auffassung vorbringen, derzufolge der sogenannte Hirntod ein unzweifelhaftes Todeskriterium sei, leuchten derart ein, dass die Basta-Mentalität, mit der zahlreiche Befürworter der Hirntod-Theorie eine ergebnisoffene, gesellschaftliche Diskussion der Frage, ob der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt werden könne, seit Jahren zu unterdrücken suchen, etwas geradezu Gespenstisches anhaftet. Umso erstaunlicher und im Ergebnis nicht weniger gespenstisch sind jedoch die Schlussfolgerungen, welche die Unterzeichner des Minderheitenvotums aus ihrer Kritik der Hirntod-Theorie ziehen.
Kritik an der Hirntod-Theorie erstmals gremienfähig
Aber der Reihe nach. Die 189 Seiten starke Stellungnahme des Gremiums, das Bundesregierung und Bundestag in bioethischen Fragen beraten soll, stellt zunächst den “Ablauf einer Organspende in Deutschland” dar. Beschrieben und erklärt werden dabei sowohl die Durchführung der Hirntoddiagnostik, als auch die intensivmedizinischen Massnahmen, die im Vorfeld einer möglichen Organentnahme ergriffen werden sowie der Übergang von einer patientenorientierten Therapie zu den sogenannten spendezentrierten Massnahmen, bei denen der Schutz der Organe des Spenders zum Nutzen des späteren Empfängers im Vordergrund steht. Daran an schliesst sich die Vorstellung des “rechtlichen Ordnungsrahmens”, innerhalb dessen in Deutschland lebenswichtige Organe nach der Feststellung des Hirntodes gespendet, ex- und transplantiert werden. Unter der Überschrift “Zur philosophischen Anthropologie des Todes” folgt ein knapper Abriss über die unterschiedlichen, wirkmächtigsten Auffassungen des Todes, angefangen bei Platon und Descartes, über Aristoteles und Thomas von Aquin bis hin zu Kant und Heidegger. Versucht wird sodann aus dieser Auseinandersetzung so etwas wie “verallgemeinerbare Elemente einer Todeskonzeption” zu destillieren. Nach Ansicht des Ethikrats sind dies fünf. So müsse ein brauchbarer Todesbegriff “in die Erfahrungswelt der Menschen” eingebunden sein (Lebensweltkompatibilität), sich auf “biologische Prozesse” wie auch auf “ein Lebewesen als Ganzes” beziehen und endgültig sein. Last but not least müsse die “Erfüllung der Todeskriterien einen hinreichenden Nachweis für das Vorliegen der ein bestimmtes Todesverständnis ausmachenden Merkmale erbringen” (Kohärenz). “Im Hinblick auf das Todesverständnis im Kontext der Organentnahme“ zeige “sich allerdings bei näherer Analyse die begrenzte Reichweite des Konsenses über die prima facie als konsentiert unterstellten Aspekte eines Todesbegriffs.” Dies gelte insbesondere “für den Bezug auf ein Lebewesen als Ganzes“. Denn es sei, so der Rat weiter, “sehr umstritten“, wann “der Organismus als Ganzer und damit der Mensch tot” sei. Das hat man in Deutschland so weder gelesen noch gehört. Denn bislang haben Vertreter der deutschen Ärzteschaft und der Deutschen Stiftung Organtransplantation in der Öffentlichkeit stets den Eindruck erweckt, als seien Zweifel an der Gültigkeit der Hirntod-Theorie in etwa so ernst zunehmen, wie die Behauptung, zwei und zwei seien nicht vier, sondern drei, und Kritiker – darunter selbst Ärzte – in die Nähe eines medizinischen Analphabetentums gerückt.
Das zweite Drittel der Stellungnahme steht ganz im Licht des Streits um die Plausibilität, welche die Behauptung, ein hirntoddiagnostizierter Patient könne zutreffend für tot erklärt werden, beanspruchen könne. Den widerstreitenden Voten vorangestellt findet sich eine Auflistung all dessen, worin die Befürworter und Gegner der Hirntod-Theorie im Deutschen Ethikrat übereinstimmen. Und das ist gar nicht wenig. So wendet sich das ganze Gremium etwa gegen eine “ausschliesslich mentalistische” Betrachtungsweise des Todesgeschehens. Der “unumkehrbare Verlust der Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Denk-, und Entscheidungsfähigkeit“ sei zwar eine “notwendige“, aber keine “hinreichende Bedingung“, um den Tod eines Menschen feststellen zu können. Auch widerspreche eine ausschliesslich mentalistische Begründung des Todes einem ethisch und verfassungsrechtlich akzeptablen Menschenbild: “Indem die Grenze zwischen Leben und Tod ausschliesslich davon abhängig gemacht wird, ob für den betroffenen Menschen gegenwärtig oder zukünftig noch ein subjektives Erleben möglich ist, wird zugleich darüber entschieden, ob ihm elementare Rechte wie Lebens- und Würdeschutz zukommen.“ Anhänger einer ausschliesslich mentalistischen Begründung des Todes müssten konsequenterweise dann auch “anenzephale Neugeborene und möglicherweise auch apallische Patienten” für tot erklären.
Schwarz auf weiss hält der gesamte Rat ausserdem fest: “Unklar und neurowissenschaftlich wie auch philosophisch umstritten ist zudem, was mindestens gegeben sein muss, damit man von ‘Bewusstsein‘ sprechen kann und wie dieses gegebenenfalls empirisch festzustellen ist.” Auch auf ein solches Eingeständnis hat man von quasi-offizieller Seite bislang vergeblich gewartet.
Erstaunlicher Konsens, begrüssenswerter Dissens
Erstaunen darf hingegen, dass der Ethikrat gleichwohl geschlossen die Auffassung vertritt, dass die Hirntoddiagnostik “eine zuverlässige Aussage über den irreversiblen Ausfall aller Hirnfunktionen” erlaube. Auch wenn die in Deutschland vorgeschriebene Hirntoddiagnostik weiter reicht als viele der in anderen Ländern gebräuchlichen Sets, so ist auch das in Deutschland verwandte diagnostische Besteck nach Ansicht von Kritikern nicht über jeden Zweifel erhaben. Es gehört zu den Schwächen der an Stärken durchaus reichen Stellungnahme, dass sie sich mit dieser Kritik an keiner Stelle auseinandersetzt. Dies umso mehr, als der “unumkehrbare Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen” de facto gar nicht direkt feststellbar ist, sondern vielmehr erschlossen wird. Bei genauerer Betrachtung wird dabei aus dem Fehlen physiologischer Aktivität zum Zeitpunkt der Untersuchung auf die Endgültigkeit eines Ausfalls sämtlicher Hirnfunktionen geschlossen.
Folgerichtig ist hingegen, dass auch die Ethikräte, die einen diagnostizierten Hirntod für kein sicheres Todeszeichen halten und daher nicht bereit sind, diesen mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen, in diesem eine Zäsur erblicken. Denn geht man davon aus, dass sich der irreversible Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen mittels der hierzulande vorgeschriebenen Hirntoddiagnostik zweifelfrei nachweisen lässt, dann muss die Rückkehr eines Patienten, der zuvor als hirntot diagnostiziert wurde, in ein bewusstes Leben nach bisheriger wissenschaftlicher Erkenntnis als ausgeschlossen gelten. Eine “Auferstehung von den Hirntoten” wäre dann nur durch eine fehlerhafte Diagnose oder aber göttliche Intervention denkbar.
Noch spannender als die Gemeinsamkeiten sind freilich die Unterschiede, welche das Mehrheits- und das Minderheitenvotum der Stellungnahme aufweisen. Während das Mehrheitsvotum geradezu klassisch argumentiert und in dem Gehirn das zentrale “Integrations-, Regulations- und Koordinationsorgan“ erblickt, welches “für den gesamten Organismus“ die “notwendige Integrationsleistung“ erbringe, “ohne die er nicht als leib-seelische Ganzheit existieren” könne, betrachtet das Minderheitenvotum das Gehirn nicht als “unersetzliche Integrations- und Koordinierungsstelle des Organismus”. Ein Organismus werde vielmehr durch ein “komplexes Zusammenspiel von Organsystemen” charakterisiert, die “dem Selbsterhalt des Ganzen” dienten. Auch der Umstand, dass die Einheit des Organismus nur mithilfe intensivmedizinischer Massnahmen wie künstlicher Beatmung ermöglicht werde, sei nicht entscheidend dafür, ob dieser “als tot oder lebendig” betrachtet werden müsse. “Auch nach dem Absterben des Gehirns” könne ein Organismus unter der Voraussetzung entsprechender intensivmedizinischer Massnahmen “noch über vielfältige Funktionen” verfügen, die “nicht nur ‘partiell‘, sondern für den Organismus als Ganzen integrierend wirken”. Das Beatmungsgerät könne “nur rein mechanisch mit einem gewissen Druck sauerstoffreiche Luft in die Lungen einblasen und so die Leistung der Atemmuskulatur, die sonst über das Erzeugen von Unterdruck für das Einströmen von Luft sorgt, ersetzen.” Dies bliebe jedoch ohne Wirkung, “wenn der Sauerstoff nicht von Zellen im Blut zu den Geweben überall im Körper weitertransportiert würde und eine Sauerstoffaufnahme und -weiterverarbeitung in den Körperzellen stattfände”. Ähnliches gelte auch für die Ernährung. So stellten Magensonde oder parenterale Ernährung nur “Nährstoffe” im Darm und im Blut zur Verfügung. “Alle weiteren Prozesse der Erschliessung der Nahrungsbestandteile, des Transports in die Zellen, der Verwendung für den Aufbau von Zellsubstanz und für den Energiestoffwechsel” seien “zentrale Prozesse eines lebenden Organismus, die ohne äusseres Bewirken vonstatten gehen.”
Dies gelte auch “bei gleichzeitigem Vorliegen von Schwangerschaft und Hirntod“. Zwar sei es “korrekt“, dass eine solche Schwangerschaft “nur durch medizinische Intervention von aussen“ aufrechterhalten werden könne, doch basiere das Wachstum des Kindes auf einer Interaktion des kindlichen Organismus mit dem der Schwangeren. Ihre jeweiligen Funktionen basierten auf einem “komplexen Miteinander gegenseitiger Regulation beispielsweise immunologischer und hormoneller Art“, für welche die “Fähigkeit des beatmeten mütterlichen Organismus zu integrierender Selbstregulation“ eine wesentliche Voraussetzung sei. So weit so bedenkenswert.
Minderheit plädiert für die Aufgabe der Dead-Donor-Rule
Erstaunlicherweise zieht das Minderheitenvotum daraus jedoch nicht den Schluss, dass Hirntoten keine Organe entnommen werden dürften, sondern spricht sich vielmehr für die Aufgabe der “Dead-Donor-Rule” aus, derzufolge nur Toten lebenswichtige Organe entnommen werden dürfen. Argumentiert wird: Weil nach einem diagnostizierten irreversiblen Ausfall aller Hirnfunktionen eine Rückkehr in ein bewusstes Leben ausgeschlossen werden könne, entfalle “mit der Feststellung des Hirntodes die Pflicht (und das Recht) des Arztes, therapeutisch ausgerichtete Massnahmen zu ergreifen.” Medizinische Eingriffe, die keinen therapeutischen Zweck mehr haben, werden als Körperverletzungen betrachtet und sind daher zu unterlassen. Umso merkwürdiger ist, dass das Minderheitenvotum die Auffassung vertritt: Die Entscheidung des Patienten, “sein Leben nicht nur durch die Beendigung lebenserhaltender Massnahmen, sondern mit einem Akt der Organspende zu beenden, kann und sollte respektiert werden.” Die Mehrheit des Rats hält dem entgegen: “Eine Tötung bleibt auch dann eine Tötung, wenn der Eintritt des Todes zuvor hinausgezögert wurde. Ein Lebender darf unter keinen Umständen, auch nicht als Sterbender, getötet werden”. Daran ändere “weder das moralisch achtenswerte Motiv der Lebensrettung noch eine etwaige Einwilligung des Spenders etwas”.
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