“Mehr Offenheit für die Minderheiten”

Patriarch Bartholomaios wünscht sich einen Nachfolger, der bereit ist zum Dialog mit den anderen christlichen Kirchen und mit dem Islam

Foto BaierDie Tagespost, 03. November 2014

Von Stephan Baier

Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I., ist als Nachfolger des Apostels Andreas das Ehrenoberhaupt der weltweiten Orthodoxie. Vor Erdogan betrachtete ihn die türkische Republik lediglich als Seelsorger für die Griechen in Istanbul.

Einst segneten und krönten seine Vorgänger die Kaiser des byzantinischen Reiches, welches auf drei Kontinenten lag und sich ganz in der Tradition des antiken “Imperium Romanum” sah. Später galten sie als die religiösen und gesellschaftlichen Führer nahezu der gesamten christlichen Millet in dem Orient und Okzident umspannenden Reich der osmanischen Sultane.

Heute tritt der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel deutlich bescheidener auf. Er residiert in einem kleinen Ensemble schlichter Gebäude rund um die kleine Sankt-Georgs-Kathedrale in den verwinkelten Gassen des Istanbuler Stadtteils Fener, feiert die Liturgie im Kreis der wenigen verbliebenen Griechen in der grössten türkischen Metropole und begrüsst seine ausländischen Gäste mit einem einfachen Handschlag.

Bartholomaios I., der 269. Nachfolger des erstberufenen Apostels Andreas auf der Kathedra von Konstantinopel, ist eine geistliche Gestalt, kein sozialer oder gar politischer Führer. Doch gerade als geistliche Gestalt ist der bloss äusserlich blasse 74-Jährige beeindruckend: Mit seinen Appellen für die Einheit der Christen, für den Frieden in der Welt oder für den Erhalt der Umwelt als Schöpfung Gottes hat Patriarch Bartholomaios weit über die bunte Gemeinschaft der weltweit rund 300 Millionen orthodoxen Christen hinaus Anerkennung gefunden.

Insbesondere im ökumenischen Dialog hat er immer wieder Initiativen gesetzt. Seit mehr als drei Jahrzehnten gebe es die Tradition, dass das Ökumenische Patriarchat zum Hochfest der Apostel Petrus und Paulus eine Delegation in den Vatikan sendet, während umgekehrt der Papst eine Delegation zum Andreas-Fest nach Konstantinopel entsendet, erzählt er mit monotoner, sonorer Stimme bei unserer Begegnung im Phanar. “Das sind zwei Gelegenheiten im Jahr, um miteinander zu beten und die Ansichten und Erfahrungen sowie Informationen zu den Beziehungen untereinander auszutauschen.“

In diesem Jahr, dem zweiten seines Pontifikates, kommt Papst Franziskus persönlich zum Andreas-Fest, um den Nachfolger des Apostels Andreas, des Petrus-Bruders, zu besuchen. So brüderlich wie Petrus und Andreas gingen deren Nachfolger nicht immer miteinander um. Erst 1965 wurde der im Jahre 1054 zwischen Rom und Konstantinopel verhängte Kirchenbann wieder aufgehoben. 1967 empfing Bartholomaios’ Vorvorgänger, Athenagoras I., Papst Paul VI. im Phanar und besuchte im selben Jahr seinerseits den Vatikan.

Auf eine Frage dieser Zeitung nach seinen Erwartungen an die Begegnungen mit Franziskus am 29. und 30. November bremst Bartholomaios zunächst: “Wenn wir vom ökumenischen Prozess sprechen, dann gehen wir nicht davon aus, dass die volle Kircheneinheit morgen oder übermorgen verwirklicht ist. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass wir seit nahezu einem Jahrtausend getrennt sind.“ Dieser “Graben von zehn Jahrhunderten“ lasse sich nicht in wenigen Jahren überwinden. Erst Patriarch Athenagoras und Papst Johannes XXIII. – der aus seinen Jahren als Apostolischer Delegat in der Türkei bis heute in Istanbul konfessions- und religionsübergreifend einen hervorragenden Ruf geniesst – hätten mit einem Dialog begonnen, in dem man sich als Brüder anstatt als Feinde erkannte. Ja, es habe schon einen “grossen Fortschritt in der Änderung unserer Mentalität“ gegeben. Das Hauptproblem sei heute “die Rolle des päpstlichen Primats“, spielt Bartholomaios auf das Erste Vatikanum und den katholischen Blick auf den Bischof von Rom an. Man dürfe also vom vierten Besuch eines Papstes am Amtssitz des Andreas-Nachfolgers “keine spektakulären Gesten“ erwarten.

Franziskus besucht den Phanar in der Tradition seiner Vorgänger Paul VI., Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die ebenfalls hierher kamen und dem politisch machtlosen Patriarchen von Konstantinopel kirchlich wie menschlich auf Augenhöhe entgegentraten. “Rom sieht in Konstantinopel den wichtigsten Ansprechpartner in den Beziehungen zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche. Tatsächlich ist es das Ökumenische Patriarchat, das den Dialog zwischen Rom und den übrigen christlichen Kirchen seitens der Orthodoxie koordiniert“, sagt Bartholomaios.

Er erinnert daran, dass er dem ökumenischen Dialog wieder Dynamik gab, als dieser jüngst für mehrere Jahre ruhte. Und er zeigt sich betont geduldig angesichts des “nicht sehr erfolgreichen“ jüngsten Ökumene-Treffens in der jordanischen Hauptstadt Amman: Vielleicht werde der dort letztlich nicht beschlossene Text ja nächstes oder übernächstes Jahr verabschiedet.

Gleichzeitig gibt Bartholomaios offen zu, dass es “manchmal auch innerorthodoxe Schwierigkeiten“ gebe. Tatsächlich wird auch hier seine Rolle als Ehrenoberhaupt der weltweiten Orthodoxie nicht immer vollumfänglich respektiert. Offiziell unterstehen alle orthodoxen Christen, die nicht der Jurisdiktion einer autokephalen oder autonomen orthodoxen Kirche zugeordnet sind, unmittelbar dem Ökumenischen Patriarchat. Unter den autokephalen Kirchen von Russland, Serbien, Rumänien, Bulgarien, Georgien, Griechenland, Zypern, Polen und Albanien sowie den anerkannten autonomen Kirchen von Finnland und Estland beansprucht Konstantinopel nur einen Ehrenvorsitz, die Rolle als Erster unter Gleichen. Die pan-orthodoxe Synode, die Bartholomaios für das Frühjahr 2016 vorbereitet, wird zeigen, wie breit der Konsens unter den orthodoxen Kirchen tatsächlich ist.

Umstritten ist hier nicht zuletzt die Einstellung zur Ökumene. Und auch daraus macht der Patriarch, der sich um seine eigene Nachfolge sorgt, kein Geheimnis. So argumentiert er im Gespräch sein Drängen auf eine eigene Priesterausbildungsstätte vor allem damit, dass die Dialogbereitschaft gegenüber den anderen Konfessionen und Religionen für die anderen orthodoxen Priesterausbildungszentren nicht selbstverständlich ist: “Ich frage mich, wo wir einen Nachfolger finden können. Sicher gibt es viele Bewerber, aber wir brauchen jemanden, der einen offenen Geist hat, der bereit ist für den Dialog mit den anderen christlichen Konfessionen, und auch mit dem Islam.“ Unter seiner Führung habe das Ökumenische Patriarchat Dialogveranstaltungen mit Juden und Muslimen initiiert. “All die Metropoliten, die für die Nachfolge in Frage kommen, müssen den offenen Geist des Ökumenischen Patriarchates haben. Dafür brauchen wir diese theologische Schule, um die junge Generation gut vorzubereiten – gut ausgebildet und bereit zum Dialog und zur Kooperation.“ Gerade weil diese Offenheit nicht allerorten gegeben ist, drängt Bartholomaios auf die Wiedereröffnung des seit 1971 geschlossenen Priesterseminars von Chalki.

Seit 2002, also seit Recep Tayyip Erdogans AKP in der Türkei regiert, kommen aus Ankara immer wieder positive Signale, doch bis heute konnte das stillgelegte Seminar auf einer der Istanbul vorgelagerten Prinzeninseln, Heybeliada (auf griechisch Chalki), nicht wieder in Betrieb genommen werden. “Das Ökumenische Patriarchat, das den ersten Rang in der Weltorthodoxie einnimmt, ist seit mehr als 40 Jahren der Möglichkeit beraubt, seinen Klerus auszubilden. Wir brauchen diese Schule absolut!“

Patriarch Bartholomaios ist jetzt allerdings doppelt optimistisch, denn erstens kam ihm die AKP-Regierung schon in vielen anderen Fragen entgegen, und zweitens erhofft er sich von den EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei letztlich die volle Religionsfreiheit. Tatsächlich habe die Europäische Union mehrfach die Rückgabe und Wiedereröffnung des Priesterseminars von Chalki angemahnt, aber die Regierung in Ankara habe darauf verwiesen, dass es bis heute auch keine Moschee in der griechischen Hauptstadt Athen gebe.

“Ich bin für eine Moschee in Athen, aber dagegen, diese Fragen zu verbinden, weil die Menschenrechte und die Religionsfreiheit nicht auf Reziprozität beruhen können“, bekennt Patriarch Bartholomaios freimütig. Die Eröffnung einer Moschee in Athen sei vom griechischen Parlament bereits beschlossen worden, und er hoffe ehrlich, “dass sie in naher Zukunft gebaut und eröffnet werden kann“, doch dürfe die Wiedereröffnung des griechisch-orthodoxen Priesterseminars nahe Istanbul davon nicht abhängig gemacht werden. Wörtlich sagt der Patriarch: “Wir bitten um unsere vollen Rechte, ohne dabei zu Opfern der griechisch-türkischen Beziehungen zu werden.”

Doch genau dies wurde das Ökumenische Patriarchat im zurückliegenden Jahrhundert immer wieder: Bis zur Eroberung Konstantinopels durch Sultan Mehmet II. 1453 war die Orthodoxie hier Staatsreligion; Kaiser und Patriarch fühlten sich gemeinsam verantwortlich für die Einheit des Glaubens wie des Reiches. In den gut viereinhalb Jahrhunderten osmanischer Herrschaft, in denen der Sultan sich auch als Kalif – als religiöser Führer der Muslime – definierte, hatte der Patriarch als Führer der orthodoxen Millet (von der die Armenier, die 1461 einen eigenen Patriarchen bekamen, ausgenommen waren) eine hohe gesellschaftliche Stellung. Für die religiösen und sozialen Belange der orthodoxen Christen war er der erste Ansprechpartner.

Als jedoch am Ende des Ersten Weltkriegs das Osmanische Reich zusammensackte und Griechenland in einem Anfall nationalistischen Überschwangs versuchte, die mythenumwobene alte Grösse des byzantinischen Imperiums (“megali idea“) wiederherzustellen, da wurde das Patriarchat zum Opfer des nationalistischen Zusammenpralls.

Griechische Truppen marschierten in Anatolien auf – Atatürks Soldaten trieben sie ins Mittelmeer zurück. Zu den Folgen dieser traumatischen Ereignisse zählen nicht bloss die Vertreibung von rund 1,5 Millionen Griechen aus Kleinasien und etwa 500 000 Muslimen aus Griechenland, sowie die bis heute spürbaren Animositäten zwischen Ankara und Athen, sondern auch die Entmachtung, ja Demütigung des Patriarchates. Die gesellschaftliche Bedeutung des Ökumenischen Patriarchates war damit Geschichte, die Masse seiner Gläubigen lebte fortan im feindlichen Nachbarstaat Griechenland. Die türkische Republik ignorierte nun die weltweite Rolle des Patriarchen, betrachtete ihn lediglich als Seelsorger der letzten verbliebenen Griechen in Istanbul und auf den Prinzeninseln.

Mehr noch: Weil nur ein türkischer Staatsbürger dieses kirchliche Amt annehmen darf, gleichzeitig jedoch mit dem Verbot der Priesterausbildung in Chalki ein orthodoxer Priesternachwuchs türkischer Staatsbürgerschaft und patriarchaler Prägung verhindert wurde, drohte dem Ökumenischen Patriarchat bis vor wenigen Jahren ein rasches Ende. Noch im Vorfeld des Besuchs von Papst Benedikt XVI. 2006 bestätigten Mitarbeiter des Patriarchats gegenüber dieser Zeitung verhalten, dass es Überlegungen gebe, den Patriarchen-Sitz nötigenfalls an einen anderen Ort zu verlegen.

Davon ist jetzt allerdings keine Rede mehr, seit Erdogan allen griechisch-orthodoxen Metropoliten anbot, die türkische Staatsbürgerschaft anzunehmen, ohne auf ihre bisherige verzichten zu müssen. 15 griechisch-orthodoxe Metropoliten nahmen dieses Angebot an und sicherten damit die Möglichkeit einer geordneten Bartholomaios-Nachfolge. “Das ist sehr wichtig für die Zukunft des Ökumenischen Patriarchates“, bestätigt Bartholomaios.

Tatsächlich ist es eine Überlebensfrage, denn aus der höchstens noch 2 000 Köpfe zählenden, stetig schrumpfenden Schar seiner Gläubigen in Istanbul kann sich das Patriarchat nicht erhalten, geschweige denn erneuern. Entgegenkommen zeigte die AKP-Regierung auch in anderer Hinsicht: Bartholomaios berichtet davon, dass Erdogan ihm und den Armeniern die Möglichkeit gab, frühere Kirchen und Heiligtümer der Christenheit in Anatolien zu besuchen und dort die Liturgie zu feiern.

Aus Bartolomaios’ Umgebung ist zu erfahren, dass Regierungsstellen mittlerweile den “Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel“ auch in offiziellen Schreiben mit seinem vollen – von der aktuellen Verfassung nicht gedeckten – Titel adressieren, was noch vor wenigen Jahren mit harten Strafen geahndet worden war. Bei den Beratungen zur neuen Verfassung wurde Bartholomaios gar eingeladen, offiziell die Standpunkte und Interessen der christlichen Minderheiten vorzutragen – fast wie in osmanischer Zeit.

Kein Wunder, dass der leidgeprüfte Patriarch von Konstantinopel aufatmet und meint: “Wir fühlen uns heute sehr viel besser als noch vor einigen Jahren!“ Seitens der Regierung und des Staatspräsidenten gebe es “sehr viel mehr Offenheit für die Menschenrechte und für die Religionsfreiheit der Minderheiten“. Ein Urteil, das die lokalen Häupter der orthdoxen Syrer, der Armenier, der Katholiken wie auch die Vertreter der Ordensgemeinschaften vollumfänglich bestätigen.

Auch wenn noch um viele Bürgerrechte und Möglichkeiten gerungen werden muss, auch wenn die konfessionell aufgesplitteten wenigen Christen in der Türkei – wie Patriarch Bartholomaios vor acht Jahren gegenüber der “Tagespost“ formulierte – noch immer “Bürger zweiter Klasse“ sind: Das Überleben des Ökumenischen Patriarchats an seinem traditionsreichen Sitz ist jedenfalls gesichert und die Zukunftsaussichten sind erstmals seit Jahrzehnten wieder von Zuversicht geprägt.

Einem tatkräftigen und verantwortungsbewussten Hirten wie Bartholomaios gibt das vor allem die Gelegenheit, auf die Not der anderen zu blicken. So sorgt er sich heute um den Frieden im Nahen Osten, um die verfolgten Christen in Syrien und im Irak, “in diesem Teil der Welt, wo die Christenheit in der Vergangenheit geblüht hat“. Er habe den Papst bereits gefragt, “was wir gemeinsam tun können, um zu helfen“. Gemeinsam würde er mit Franziskus auch gerne beim 500-Jahr-Jubiläum der Lutheraner in Deutschland auftreten. Er selbst habe die Einladung der evangelischen Kirche bereits angenommen: “Ich sagte ihnen, dass ich kommen werde, unter anderem um ihnen zu helfen, zu versöhnen, was vor 500 Jahren geschah, und um einige Irrtümer zu korrigieren.”

Letztlich blickt Bartholomaios nicht zurück, sondern nach vorne: So soll eine pan-orthodoxe Synode 2016 zeigen, “dass die orthodoxe Kirche nicht nur Tradition hat, nicht bloss ein Kirchen-Museum ist, sondern dass sie eine lebendige Kirche ist.“ Unter den “dynamischen“ Metropoliten des Patriarchates lobt er besonders jene, die auch die jeweiligen Landessprachen in die Liturgie einführen, denn man müsse doch – wie er sagt – allen dienen, “die an unserer Liturgie und Tradition interessiert sind”.

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