Waffen für Gross-Kurdistan?

Steinmeier warnt vor der Destabilisierung der Region und dem Zerfall des Irak

SchutzmantelmadonnaDie Tagespost, 03. September 2014

Von Stephan Baier

Nicht nur die kurdische Peschmerga, auch schiitische Hizbollah-Brigaden kämpfen im Irak gegen den “Islamischen Staat”. Sollte man auch ihnen Waffen liefern?

Wieder hat die Terrororganisation “Islamischer Staat” (IS) die Welt mit einem Hinrichtungsvideo geschockt. Und noch immer hat niemand ihrem Morden Einhalt gebieten können. Vor diesem Hintergrund demonstrativer Grausamkeiten begab sich Deutschland am Montag auf Neuland: Waffen nicht nur in ein Krisen- und Kriegsgebiet zu liefern, sondern dort gezielt an eine Nichtregierungsorganisation beziehungsweise nicht-staatliche Truppe.

Das birgt die Gefahr, einen “Staat im Staate” zu fördern – wie ihn im Libanon einst die PLO und später die Hizbollah bildete. Weil aber die Zentralregierung in Bagdad kaum funktioniert und die irakische Armee kein Gegengewicht zu der sich ausdehnenden Terrorarmee IS bildet, setzt auch die deutsche Bundesregierung auf die kurdischen Autonomiegebiete als stabilisierenden Faktor und auf die kurdische Peschmerga als militärisches Gegengewicht zu IS.

Dafür spricht nicht nur, dass die autonomen Kurdengebiete im Norden des Irak schon bisher die stabilste Zone bildeten, die – bereits vor der Eroberung von Mossul – den von Chaos und Gewalt bedrohten arabischen Christen des Zweistromlandes sichere Zuflucht boten. Dafür spricht vor allem, dass der Westen auf eine schlagkräftige und motivierte Truppe vor Ort setzen muss, wenn er IS stoppen will, ohne sich mit massiven Bodentruppen jahrelang selbst an die Front zu begeben. Die deutsche Kanzlerin hat sich weder leicht noch freudig entschlossen, den kurdischen Kampfverbänden Panzerabwehrwaffen, Raketen und Maschinengewehre zu liefern. Es geht um Nothilfe, weil Berlin dem Genozid an Christen, Jesiden, Schiiten und anderen Minderheiten in dem von IS kontrollierten Gebiet nicht tatenlos zusehen will. Seit dem Genozid an den Armeniern 1915 sahen sich westliche Regierungen immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, von einem versuchten Völkermord gewusst, aber nicht (wie im Fall von Ruanda) oder sehr spät (in Bosnien und im Kosovo) eingegriffen zu haben.

Angela Merkel wies im Bundestag aber auch darauf hin, dass ein totalitärer Terror-Staat im Irak nicht nur eine andauernde Gefahr für die Region darstellt, sondern zur Brutstätte globalen Terrors werden kann: “Wenn sich Terroristen ein Gebiet unterjochen, um dort einen Rückzugsort für sich und andere Fanatiker zu schaffen, dann wächst auch für uns die Gefahr.” Genau damit drohten die IS-Terroristen jetzt bereits in einem aktuellen Video: Sie sind bereit, ihren Terror weit über die arabische Welt hinaus auszudehnen, kündigten an den russischen Präsidenten Wladimir Putin gewandt etwa an, “Tschetschenien und den Kaukasus zu befreien”.

Genau dieses zu Wochenbeginn im Internet veröffentlichte Terroristenvideo wirft aber auch ein Licht auf die Risiken und Nebenwirkungen der beabsichtigten Waffenlieferungen. IS-Kämpfer präsentieren darin stolz Waffen deutscher und russischer Produktion, die sie in Syrien erbeutet haben wollen: alte russische Kampfjets und deutsche Panzerabwehrraketen etwa. “Das sind russische Flugzeuge, die du an Baschar verkauft hast”, so die IS an Putin, der zuletzt im Juni Kampfjets an das Assad-Regime geliefert hatte. Angesichts des Chaos im Irak kann niemand ganz ausschliessen, dass jene Waffen, die Deutschland zur Eindämmung der IS an die Peschmerga liefert, am Ende durch Kampfhandlungen in die Hände der IS geraten. Oder in jene der PKK, die nicht nur von der Türkei, sondern auch von den USA und der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuft wird.

Die 1978 gegründete nationalistisch-marxistische “Arbeiterpartei Kurdistans” PKK befindet sich seit 1982 in einem Partisanenkrieg mit der Türkei, der bereits rund 40 000 Menschen das Leben gekostet hat. Ableger der türkischen PKK operieren in Syrien, im Irak und im Iran, weil sich das Siedlungsgebiet der Kurden auf diese Länder erstreckt. Der kurdisch geführte Nord-Irak diente der PKK vielfach als Rückzugsraum.

Niemand will eine Dauerkrise der Türkei

Heute kämpfen die irakischen und syrischen PKK-Ableger gegen die IS, etwa bei Kirkuk gemeinsam mit den Peschmerga oder hoch im Norden um die Schaffung eines Fluchtkorridors für die Jesiden. Doch gerade dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Waffen, die in diese Region geliefert werden, in die Hände der PKK fallen können. Ein Erstarken der PKK könnte aber die Türkei in Schwierigkeiten bringen: einerseits weil dadurch innerhalb der PKK die Rückkehr zum Terrorismus attraktiv erscheinen könnte, andererseits weil alle zarten Versuche des neuen türkischen Präsidenten Erdogan und seines Ministerpräsidenten Davutoglu, die Kurdenfrage friedlich zu lösen, torpediert werden könnten.

Doch auch jenseits der PKK führen die von Deutschland beschlossenen Waffenlieferungen jedenfalls zu einer Stärkung des irakischen Kurdistan, also jener Autonomiegebiete, die zum Nukleus der nationalen Selbstverwirklichung der Kurden werden könnten. Genau das aber will die deutsche Bundesregierung auf gar keinen Fall. Aussenminister Frank-Walter Steinmeier machte bei einem Kurzbesuch im Irak Mitte August deutlich, dass er weiter auf die Stabilisierung und die Einheit des Irak setzt: “Ein unabhängiger Staat der Kurden würde die Region weiter destabilisieren und neue Spannungen hervorrufen, möglicherweise auch mit Nachbarstaaten des Irak.“ Steinmeier dachte dabei wohl weniger an das ohnehin in Blut und Chaos versinkende Syrien, wo (im Norden) rund zwei Millionen Kurden leben, sondern an den Iran mit rund acht Millionen Kurden (im Nordwesten) und vor allem an den NATO-Partner Türkei. Hier stellt die kurdische Volksgruppe etwa 18 Millionen Menschen, die nicht nur in einem relativ geschlossenen Siedlungsgebiet im Südosten leben. Ein souveräner Kurdenstaat im Nord-Irak könnte für die mehrheitlich in der Türkei lebenden Kurden zu dem werden, was einst Piemont für die Einigung Italiens war.

Den NATO-Staat Türkei, der trotz aller innenpolitischen Wechselfälle über Jahrzehnte ein verlässlicher Partner des Westens in der krisengeschüttelten Region war und auch heute ein Faktor regionaler Stabilität ist, will keine europäische oder amerikanische Regierung destabilisieren oder in eine Dauerkrise rutschen sehen. Angesichts der beschlossenen deutschen Waffenlieferungen hat Steinmeier deshalb zu bedenken gegeben, dass die Kurden diese Waffen für ihren eigenen Staat einsetzen könnten.

Im Interview mit der “Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ lehnte der Aussenminister einen unabhängigen Kurdenstaat im Nordirak neuerlich ab. Interessanterweise weniger mit Blick auf die Probleme, die ein solcher Staat der Türkei machen würde, sondern mit Blick auf die Zentrifugalkräfte im Irak selbst: Es sei zu befürchten, “dass ein selbstständiges Kurdistan im Nordirak weitere Abspaltungen im Irak zur Folge hätte, etwa im Süden in und um Basra“. Die Folgen wären, so Steinmeier, “neue Kämpfe um neue Grenzen und staatliche Territorien“, ja die “Unregierbarkeit ganzer Grossregionen“. Diese Analyse ist hellsichtig und beweist neuerlich, dass – wie der Orientkenner Peter Scholl-Latour damals warnte – der von US-Präsident George Bush 2003 entfesselte Irak-Krieg eine Büchse der Pandora öffnete, aus der seitdem viele Übel strömen.

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