“Wir müssen ganz neu verstehen lernen, was Kirche ist”

Seit seiner Weihe am 24. Mai 2014 ist Stefan Oster Bischof von Passau und mit 48 Jahren der jüngste Oberhirte Deutschlands

Pressestelle Bistum PassauBischof Stefan Oster über die Glaubwürdigkeitskrise der Kirche, geistlichen Aufbruch und die Gefahr der Durchschnittlichkeit.

Von Anna Sophia Hofmeister und Markus Reder

Die Tagespost, 29. August 2014

Vielleicht ist er auch der mit dem ungewöhnlichsten Werdegang. Auf der Suche nach tragfähigen Antworten für sein Leben entdeckte der Student und erfolgreiche Hörfunkjournalist Oster seinen Glauben neu – und entschied sich, Salesianer Don Boscos zu werden. Nach dem anschliessenden Studium der Theologie wurde er 2001 zum Priester geweiht. Seiner Habilitation folgte 2009 die Ernennung zum ordentlichen Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der PTH Benediktbeuern.

Oster forschte vor allem im Bereich der Christologie, Ekklesiologie und Mariologie. In Passau empfing er “Die Tagespost” zu einem ausführlichen Gespräch über die Lage der Kirche, seinen Glaubensweg und seine zentralen Anliegen als Bischof.

Herr Bischof Oster, die Deutsche Bischofskonferenz hat vor kurzem die aktuellen statistischen Eckdaten kirchlichen Lebens in Deutschland veröffentlicht. Der Befund ist alarmierend. Hohe Austrittszahlen, deutlicher Rückgang des Gottesdienstbesuchs. Erst der Missbrauchsskandal, dann Limburg: Die Statistik signalisiert, da ist Vertrauen verloren gegangen. Wie lässt sich verlorenes Vertrauen zurückgewinnen?

Die Erfahrung zeigt, dass die meisten, die die Kirche verlassen, eine Entfremdungsgeschichte hinter sich haben. Dann gibt es bestimmte Anlässe, um auszutreten. Neu ist, dass plötzlich auch ältere Menschen in grösseren Zahlen die Kirche verlassen. Laut Statistik gehen auch Menschen jenseits des 50. oder 60. Lebensjahres. Das ist besorgniserregend. Vertrauen zurückgewinnen geht meines Erachtens nur über persönliche Glaubwürdigkeit.

Wann ist man glaubwürdig?

Darüber lässt sich viel diskutieren. Hier im Bistum Passau – wir haben übrigens die geringsten Austrittszahlen – leben wir noch in einem recht volkskirchlichen Milieu. Die Diözese Passau hat mit über 80 Prozent den grössten Katholikenanteil von allen Diözesen in Deutschland. Das hat seine grossen Vorteile. Aber es hat auch den Nachteil, dass Gläubigkeit manchmal auf ein bestimmtes, durchschnittliches Niveau eingeebnet wird. Irgendwie sind wir alle noch gläubig, heisst es dann. Hier gehen doch noch so viele Leute in die Kirche. Wenn dann aber mal einer was besonderes macht, und sagt, wir tun uns jetzt zusammen und versuchen mal, wirklich das Evangelium zu verstehen und danach zu leben, dann ist er schnell verdächtig, weil er ausbricht aus dem, was alle so machen.

Volkskirchlichkeit als Gefahr? Da wird man sich in der Diaspora die Augen reiben.

Ich habe gesagt, dass das Chancen bietet, aber auch eine Gefahr sein kann. Und zwar dann, wenn Gläubigkeit auf einen bestimmten Level der Durchschnittlichkeit eingeebnet wird. Das kostet uns Glaubwürdigkeit. Zumal dann, wenn innere und äussere Kirchenbindung immer weiter auseinandergehen.

Wie meinen Sie das?

In den 1960er Jahren ist etwa die Hälfte der Menschen regelmässig in den Gottesdienst gegangen. In dieser Zeit hatte die Kirche hunderttausend fest angestellte Laien-Mitarbeiter. Heute gehen nach den neuesten Zahlen weniger als elf Prozent regelmässig zum Gottesdienst und dieselbe Kirche hat 700 000 fest angestellte Laien-Mitarbeiter. Die sind aber alles Kinder ihrer Zeit und unserer Gesellschaft, in der der Glaube nach und nach erodiert ist. Das wieder zusammenzubringen, ist die grosse Herausforderung. Die Glaubwürdigkeitsfrage holt uns doch an allen Ecken und Enden ein. Die Schule, die Frage nach dem Religionsunterricht, die Caritas, unsere Bildungseinrichtungen: Überall stellt sich die Frage, lebt und glaubt ihr auch, was ihr sagt, oder ist die Kirche mehr ein Arbeitgeber oder ein Sozialkonzern, wo man halt seinen Job macht.

Wie kommt die Kirche raus aus diesem Glaubwürdigkeitsdilemma?

Der Weg in die Zukunft wird sicher kein leichter sein. Wir können nicht sagen, überall, wo wir es nicht schaffen, dass “100-Prozent-Katholiken” arbeiten, machen wir den Laden zu. Das ist völlig unrealistisch. Und vielfach machen natürlich auch Leute, die nicht katholisch oder gläubig sind, tolle Arbeit im Dienst am Menschen. Trotzdem glaube ich, es wird dahin gehen, dass wir einräumen, wir können einerseits nicht mehr alles machen. Aber das, was wir tun, sollen wir vernünftig machen. Und zwar auf der Basis gelebten Glaubens. Das ist ein langer und steiniger Weg. Und es ist nicht zuletzt auch eine Frage der Ausbildung, etwa der Priesterausbildung oder der Religionslehrerausbildung, um nur zwei Beispiele zu nennen. Denn: Glaubwürdig wirken am Ende immer nur Personen.

Wenn der Glaube derart erodiert ist: Müsste dann die Kirche neben all den Offensiven, die gestartet wurden – Transparenzoffensive in Sachen Finanzen, Aufarbeitung des Missbrauchsskandals – nicht noch viel mehr Energie in die Verkündigung stecken, in das, was man Neuevangelisierung nennt?

Ja, sicher. Das wünsche ich mir auch für die Diözese, der ich jetzt vorstehen darf. Aber natürlich ist das nicht leicht. Um den Glauben überzeugend zu verkündigen, braucht es überzeugende Verkündiger. Nehmen wir als Beispiel unsere katholischen Bildungshäuser. Die müssen sich irgendwie im Markt bewegen. Jetzt lassen Sie die mal ein paar katholische Angebote machen und dafür auf ihre anderen Angebote, die gut gehen, verzichten: Sofort haben sie rote Zahlen, weil keiner mehr kommt. Da kommt aber auch deshalb keiner mehr, weil wir nicht mehr so überzeugend drinstehen und sagen: Ich habe wirklich Christus zu verkündigen, den ich persönlich kenne, der das Leben ist, er lebt in mir und ich will, dass jeder das spürt und will das weiterverschenken. Wo sind solche überzeugenden Glaubensverkünder? Ich will natürlich niemanden tadeln. Das hängt vielleicht auch mit dieser Nivellierung von Volkskirche zusammen, dass man sich in unserer Kirche mit einem bestimmten Niveau zufrieden gibt. Wir brauchen aber mehr denn je Menschen, die intensiv und tief in den Glauben der Kirche hineinwachsen und daraus leben, damit sie überzeugend verkündigen können. Da müssen wir ansetzen, aber auch da liegt ein langer Weg vor uns. Im Prinzip geht es um einen beständigen Weg der Bekehrung.

In der Öffentlichkeit wird Kirche aber über Themen wie Zölibat, Frauenpriestertum, Sexualmoral wahrgenommen. Mit ihrer eigentlichen Glaubens-Botschaft dringt die Kirche immer weniger durch.

Ja, wir werden medial wahrgenommen vor allem mit diesen Themen als eine Art Gradmesser. Ich selbst merke jetzt, wie ich schablonisiert werde: Auf welcher Seite ich wohl stehe, das scheint sich an den Antworten zu diesen Themen zu klären. Das heisst aber, Themen, die eigentlich keine zentralen Glaubensfragen sind, entscheiden über den Stand einer Person und das Interesse an ihr.

Und wo stehen Sie?

Ich will zuerst einmal mit Christus bekannt machen und helfen zu verstehen, dass er schon in den Menschen lebt. Wer von Christus berührt ist, wer die Erfahrung gemacht hat, dass er lebt, dass es den Geist Gottes wirklich gibt, und dass er in ihm immer lebendiger werden will, bei dem beginnt etwas Neues. Da fängt der Mensch von innen her an, einen anderen Blick auf all diese Fragen zu bekommen. Wenn wir da nicht hinkommen, dann bleiben wir immer an denselben Fragen – und damit an den Rändern – hängen. Ohne Christus kann aus meiner Sicht kein Mensch vernünftig erklären, warum der Zölibat sinnvoll ist. Deshalb brauchen wir Menschen, in denen Christus lebendig ist. Dann kann man das begreifbar machen. Es muss viele geben, die den anderen so begegnen können, dass diese plötzlich wissen wollen, was sie so von innen her bewegt. Wenn jemand aus dem Herzen der Kirche, aus Christus lebt, dann blickt er anders auf diese Fragen. Weil das Verständnis über das gelebte Beispiel läuft, braucht die Kirche überzeugende Verkünder. Sie braucht gerade heute Heilige!

In der Kirche in Deutschland wird aber mehr über Strukturreformen als über Wege zur Heiligkeit diskutiert…

Heiligkeit kann man nicht “machen”. Es kann sich nur jeder Einzelne bekehren, jeden Tag neu. Die Kristallisationspunkte von kirchlicher Erneuerung waren nie Strukturreformen, das waren immer Personen. Der heilige Ignatius etwa, der irgendwann einmal verstanden und einfach angefangen hat. Oder der heilige Franziskus. Erneuerungsbewegungen kristallisieren sich an Personen, die ergriffen sind von Christus. Die normativen Christen, die gewissermassen für die jeweilige Zeit mitbestimmt haben, wie das Evangelium in die Welt hineingetragen wird, wo etwas vorangeht, das waren immer die heiligen Männer und Frauen, und nicht so sehr die Amtsträger. Wenn aber beides übereinkommt: wunderbar. Die Heiligen hatten dieses Vermittlungsproblem nicht, an dem die Kirche heute oft leidet. Sie haben sehr viel selbstverständlicher aus ihrem Glauben gelebt und leichter phantasievolle Zugänge gefunden. Und sie haben sich vielleicht auch nicht so gefragt, was muss ich jetzt alles machen, damit meine Botschaft ankommt. Sie selbst waren mit ihrem Leben die Botschaft. Warum interessiert man sich für Mutter Teresa? Weil sie so superkatholisch ist? Nein. Sie liebt! Und woraus liebt sie? Aus Christus! Und dann erkennt man plötzlich, was katholisch-sein bedeutet: Mit Christus und seiner Kirche leben – für Gott und die Menschen.

Die meisten Menschen nehmen Kirche heute über die Medien wahr. Sie selbst sind früher Journalist gewesen und kennen daher beide Seiten. Wird Kirche in den Medien fair behandelt? Vor kurzem haben Interviewäusserungen von Ihnen, in denen Sie den priesterlichen Zölibat verteidigt und Frauenpriestertum in der katholischen Kirche aus theologischen Gründen abgelehnt haben, für Unmut und Kritik gesorgt. Schnell wird man so vom sympathischen Hoffnungsträger zum “konservativen Miesepeter”.

Na ja, so schlimm ist es noch nicht. Ich bin aber weit davon entfernt, die Welt an sich und auch die Medienwelt für gerecht zu halten. Mein Glaube sagt mir, die Welt ist nicht durch und durch schlecht, aber trotzdem gefallen, und daher auch ungerecht. Christus ist gekommen, um die Welt zu erlösen und gerechter zu machen. Deswegen erwarte ich nicht automatisch von den Medien eine Behandlung, die wirklich alles sieht, was ich meine, was gesehen werden müsste. Medien sind, wie sie sind. Man kann lernen damit umzugehen, und wir müssen lernen, besser damit umzugehen. Meine Erfahrung ist auch: Wenn man offen ist und ihnen Vertrauen entgegenbringt, dann kommt einigermassen Vertrauen zurück. Ich fühle mich nicht in die Pfanne gehauen. In dem Interview, das ich gegeben habe, bin ich äusserst fair behandelt worden. Natürlich gibt es bisweilen auch kampagnenartigen Charakter in der Berichterstattung.

Zum Beispiel?

Nehmen wir nur den Missbrauchskandal in der Kirche. Da fährt dann plötzlich eine Dynamik los und alle hauen pauschal auf die Priester ein. Andererseits bin ich überzeugt: Wir als Kirche – und das beziehe ich auch auf meine Ordensgemeinschaft – hätten die Kraft zur Selbstreinigung nicht aus uns selbst aufgebracht. Wir haben den Druck der Medien gebraucht. Ich bin diesem Druck in bestimmter Hinsicht dankbar, so schmerzhaft er auch war. Ein anderes Beispiel ist Limburg: Ich kann bis heute nicht genau beurteilen, was da war und will auch nicht urteilen. Auf jeden Fall war die mediale Explosion – das Thema ist ja international gelaufen – völlig unverhältnismässig zu dem, was konkret passiert ist. Das hatte zwischenzeitig kampagnenmässigen Charakter. Aber auch da gilt: So funktionieren Medien im 21. Jahrhundert. Sie sind wie sie sind.

Mit Ihrer Ernennung zum Bischof hat man euphorische Aufbruchsstimmung verbunden. “Aufbruch” in der Kirche bedeutet für die Öffentlichkeit meist Anpassung an den Zeitgeist. Wenn Sie von “Aufbruch” sprechen, was meinen Sie da?

Ich meine einen geistlichen Aufbruch. Auch heute können Menschen erfahren, dass es einen Heiligen Geist gibt und er in ihrer Kirche wirkt. Ich hoffe, dass es uns gelingt, miteinander etwas zu erleben, das Menschen sagen lässt: “Ich bin einfach gerne gläubig, weil ich den Sinn meines Lebens darin gefunden habe.” Im volkskirchlichen Milieu geht dies häufig verloren. Da geht man in die Kirche, weil es halt dazugehört. Wenn man aber das Evangelium liest, und dann darin steht, dass wer sein Leben gewinnen will, es verlieren wird, und wer es verliert, es gewinnen wird – und sich ernsthaft darüber Gedanken macht, gewinnt das Evangelium eine neue Brisanz. Ich will in diese Mitte führen. Aufbruch heisst: In die Tiefe gehen und dort die Wirklichkeit erfahren, um die es im Glauben geht. Wo das geschieht, ereignet sich lebendige Begegnung mit Christus, da geschieht Bekehrung.

Bekehrung haben Sie in Ihrem Leben auch persönlich erlebt.

Bekehrung ist biblisch. Paulus sagt: Wer in Christus ist, ist eine neue Schöpfung. Das ist eine zentrale Erfahrung. Er ist dem Herrn begegnet und sein Leben ist völlig umgekrempelt worden. Auf einmal hat er einen neuen Sinn, eine neue Perspektive, aus der er lebt. Und zwar aus einer Tiefe, aus einer Wirklichkeit, die viel mehr ist als die sichtbare Welt. Was bedeutet die Taufe? Sie bedeutet eigentlich genau das: in diese Wirklichkeit hineingenommen zu werden und aus ihr heraus zu leben. Wir müssen unser ganzes Leben lang lernen, aus der Taufe zu leben. Ich glaube, dass es keine genuin christliche Erfahrung gibt, die nicht mit Bekehrung zu tun hat. Wie sich das im Einzelnen darstellt, ist ein andere Frage: Der eine fällt vom Pferd. Der andere macht eine langsame, prozesshafte Entwicklung durch.

Wie war das bei Ihnen? Sind Sie “vom Pferd gefallen” oder war es eher ein Prozess?

Ich habe damals in einer Beziehung gelebt und im Laufe dieser Beziehung ist in mir beispielsweise das Verständnis dafür gewachsen, warum der Zölibat einen Sinn haben könnte. Warum ein Leben in der Ehelosigkeit, geistlich gesprochen, sinnvoll ist. Im Nachhinein ist das für mich ein Indikator: Ich habe einen geistlichen Prozess durchgemacht – der auch mit meinem geistlichen Lehrer Ferdinand Ulrich zu tun hatte, durch den ich viel gelernt habe. Durch diese Begegnung hat sich mir nach und nach eine Welt erschlossen. Das andere waren punktuelle Momente, in denen ich manchmal wie vom Donner gerührt war.

Der Philosoph Ferdinand Ulrich hat für Sie eine grosse Rolle gespielt, sowohl wissenschaftlich als auch menschlich. Warum ist Ferdinand Ulrich für Sie so wichtig und was kann man von ihm gerade für die heutige kirchliche Situation lernen?

Bei meiner ersten Begegnung mit ihm war ich ein junger Student Anfang 20. Das war schwierig. Ulrich hat in Seminaren manchmal drei Stunden am Stück gesprochen. Wir sassen drin und haben uns nur gewundert, wie es das gibt, dass einer so redet. Verstanden habe ich zunächst fast nichts. Nach und nach habe ich gemerkt: Der hat mehr zu sagen als andere. Das ist auch viel mehr als nur Philosophie. Ulrich philosophierte so, dass man hintergründig immer mehr merkte, der glaubt an Gott, der ist Christ. Das kam aber nur indirekt, er war ja an der Universität nicht Theologe, sondern Philosoph. Da habe ich aber gelernt, dass man das ganze menschliche Leben und alle Fragen der Menschen aus einer Tiefe so bedenken kann, dass Gott immer irgendwie schon dabei ist, als die bewegende Mitte von allem, ohne dass er ausdrücklich benannt sein muss. Ulrich kann Menschen, auch anderen Philosophen, gleichsam ins Herz schauen und manchmal besser als sie selbst verstehen, was sie eigentlich bewegt. Er tut dies aber als Diener, nie als Beherrscher von Gedanken. Ich habe dabei auch gelernt, dass Christus tatsächlich auch das Denken befreit, hell macht und mit Wahrheit erfüllt. Das lebt Ulrich im besten Sinn des Wortes “radikal“, er geht an die Wurzel. Und es ist keine “Methode“, sondern einfach wirklich eine christliche durchlichtete Art zu denken.

Sie verbindet eine Art geistliche Vater-Sohn-Beziehung?

Bei ihm verstehe ich im Nachhinein tatsächlich, was geistliche Vaterschaft bedeutet. Das ist eine Weise von Beziehung, die sehr prägend sein kann – und für mich auch war und ist. Das Interessante ist, dass er fast nie direktiv war. Er hat meist nur gesagt: “Schauen’s mal da hin.” Und durch den einen oder anderen Hinweis verstehst Du plötzlich entscheidende Dinge neu. Diese Weise der begleitenden Weggemeinschaft ist väterlich, brüderlich, freundschaftlich. Und sie lehrt einen, dass es wirklich ein tiefes Ineinander von menschlichem und geistlichem Leben gibt; ja, dass wahrhaft menschliches Leben notwendig geistlich geprägtes Leben in konkreter Beziehung ist und sein muss.

Ist es das, was die Kirche heute von Ulrich lernen kann? Hans Urs von Balthasar etwa hat Ulrich intensiv rezipiert und seine Philosophie sehr geschätzt.

Ja, Hans Urs von Balthasar, sein Freund, sagte einmal, Ulrich habe den Dualismus zwischen Theologie und Philosophie vielleicht gelungener als jemals bisher überwunden – und zwar ohne den Unterschied der beiden Disziplinen zu verwischen!

Interessant ist aber, dass Sie sagen, dass wir das erst wieder neu lernen müssen. Denn schon im Evangelium wird uns die Frage vorgelegt: Woran sollen die Jünger Jesu erkannt werden? Daran, dass sie einander so lieben, wie der Herr sie geliebt hat. Und was ist das anderes als beziehungsfähig sein? Ich habe euch Freunde genannt, ihr seid meine Freunde, ihr seid nicht meine Knechte. Ich will, dass ihr in Freundschaft zu mir lebt, sagt der Herr, und aus diesem Grund befähigt werdet, für Menschen Freunde zu werden.

Wie ist diese Beziehungsfähigkeit, von der Sie sprechen, abhandengekommen?

Wir leben in einer Gesellschaft, die sehr viel hat, die sich gut einrichten und arrangieren kann, die Beziehungen “macht” und auch künstlich herstellt. Aber man unterscheidet fast nicht mehr, ist meine Beziehung zum anderen besitzergreifend oder ist sie frei gebend? Wer wäre in seiner natürlichen Liebesfähigkeit nicht besitzergreifend im Sinn von “Ich will dich für mich” und nicht im Sinn von “ich will, dass du bist”. Aber christlich gesprochen sollte meine Liebesfähigkeit immer mehr dahin wachsen, den anderen um seinetwillen zu bejahen, zu lieben. Und womöglich spüren wir in unserer Zeit und Gesellschaft die Notwendigkeit dazu viel zu wenig. Vielleicht wollen wir das auch nicht sehen, weil wir verblendet sind. Andererseits gibt es dennoch unzählige Beziehungsdramen, zerbrochene Familien, zerbrochene Herzen, die ganze Sexualisierung, fürchterliche Perversionen gerade mitten im Herzen unserer mitmenschlichen Beziehungen. Wenn ich also gefragt werde, was eigentlich die Folge der Sünde, genauer der Erbsünde ist, dieser so schwer zu vermittelnden Kategorie, dann ist es eben vor allem dies: Dass ich in meiner Liebesfähigkeit gebrochen bin. Und von Sünde befreit zu werden, bedeutet dann umgekehrt: liebesfähiger werden, glaubender, hoffender. Das ist es, was Erlösung schon hier und heute bewirkt. Aber wer glaubt denn heute noch, dass er wirklich schon im Hier und Heute erlöst werden muss oder tatsächlich erlöst werden kann? Und wenn doch, wüsste er von was? Wann haben Sie zuletzt eine vernünftige Predigt darüber gehört, was eigentlich Sünde ist, und was die Auswirkungen von Sünde wären, von denen wir erlöst werden müssten? Und welche Wirkung diese Erlösung schon im Hier und Jetzt hat?

Es muss wieder mehr über Sünde und Erlösung gesprochen werden?

Die Frage ist doch die: Ist der Glaube nur so eine Art religiöser Zuckerguss über mein Leben, das ich ansonsten davon ziemlich unberührt verbringe. Oder bedeutet Glaube – wie Paulus das sieht – mehr und mehr und schliesslich ganz und gar in Christus zu stehen. So sehr, dass sich dadurch alles andere ändert und alles andere gar nicht mehr so wichtig ist. Dass es nicht mehr so wichtig ist, ob dich andere Menschen mögen, ob Tod oder Teufel kommt, ob Eis und Kälte kommt, ob du schiffbrüchig bist, geschlagen oder gesteinigt wirst – wie Paulus. Wer in Christus steht, kann ganz weit rausgehen. Der Glaube an Christus ist kein Zuckerguss über mein Leben, er bedeutet eine “kopernikanische Wende”: Von jetzt an lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir! Aber dieses nicht mehr ich lebe, heisst nicht, dass Paulus verschwindet, sondern dass er viel tiefer er selbst wird, als er jemals er selber war. Der Glaube verliert seine lebensverändernde Kraft, wenn wir nur an der Oberfläche bleiben. Deshalb ist es wichtig, wieder in die Tiefe zu gehen und ja, auch über Sünde und Erlösung zu sprechen. Von daher erschliesst sich christliches Leben.

Als Salesianer haben Sie viel Erfahrung mit Jugendlichen sammeln können und bei Diskussionen auch viel Widerspruch erlebt. Wie nehmen Sie diese Erfahrung jetzt mit hinein in Ihre Arbeit?

Ich glaube, die Leute nehmen wahr, dass ich ernsthaft an Gesprächen interessiert bin. Und ich möchte auch nicht mit fertigen Lösungen kommen. Ich habe als Hauptanliegen im Herzen, dass wir alle Christus besser kennenlernen, zu ihm kommen, mit ihm gehen. Jeder Mensch hat seinen eigenen Weg mit dem Herrn. Ich möchte, dass wir in der Diözese Passau gemeinsam überlegen, wie wir da vorankommen. Und zwar auch mit Blick auf die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Kirche, von der wir vorhin gesprochen haben. Was heisst das für Schule, Bildung, Caritas, kirchliche Einrichtungen? Darüber müssen wir reden. Ich bin jetzt bei zehn Firmungen gewesen. Bei Firmungen springt einen dieses Missverhältnis eklatant ins Auge. Wir verkündigen da: Du bist jetzt der mündige Christ, also geh raus und verkündige Jesus. Und spätestens zwei Stunden nach der Firmung ist bei vielen der Jesus vergessen, und kommt vielleicht auch so schnell nicht wieder vor. Das ist doch eine Mogelpackung. Da müssen wir etwas unternehmen! Nicht, dass alles schlecht wäre, ich will auch gar nicht die vielen Firmhelfer und Pfarrer tadeln, die sich da so intensiv engagieren. Aber wir müssten doch zumindest experimentell einmal neue Wege wagen und fragen: Wo zeigt sich eine Spur, lass uns darüber reden, meine Erfahrungen und deine zusammenlegen, vielleicht eröffnet sich uns gemeinsam ein Weg, den wir gehen können. Ich bin überzeugt, dass das, was in Gottes Reich wächst, in geheimnisvoller Weise immer schon da ist. Wir müssen nur sensibel werden dafür.

Jugendarbeit ist eine Schlüsselfrage für die Kirche. Die Glaubensweitergabe durch Eltern ist heute meist weggebrochen. Wie muss katholische Jugendarbeit darauf reagieren? Mehr Katechese und Spiritualität?

Das sind Stichworte, die stimmen. Aber es funktioniert nicht einfach nach Rezept. Wir müssen Räume erschliessen, in denen miteinander die Erfahrung gemacht wird, es gibt Gott und er hat etwas mit meinem konkreten Leben zu tun. Wichtig dabei ist unser Vertrauen, dass das Entscheidende der Heilige Geist macht und wir uns ihm zur Verfügung stellen müssen. Der Geist Gottes ist immerzu am Werk. Wir müssen lernen, gemeinsam hineinzufinden in das Wirken des Geistes. Entscheidend ist bei alledem aus meiner Sicht auch: Wir müssen ganz neu verstehen lernen, was Kirche ist.

Wie meinen Sie das?

Kirche wird heute stark auf eine soziologische Grösse reduziert. Da ist eine Ansammlung von Menschen, die fragen sich, wie leben wir gemeinsam unseren Glauben und wie organisieren wir das? Der eine sagt dann, machen wir es doch so und der andere sagt, machen wir es besser anders. Der eine sagt: mehr Politik, der andere: mehr beten. Das ist nicht die Kirche. Die Kirche ist eine Grösse, die uns Gott geschenkt hat, ein Ort, der zuerst personal ist. Die Kirche ist zuerst marianisch, sie ist personaler Ankunftsort Gottes in der Welt. Wenn wir glauben, dass Gott in der Welt schon da ist, wenn wir verstehen, dass uns die Kirche geschenkt ist und wir als Getaufte immer schon in ihr leben dürfen, dann fangen wir vielleicht an, dankbar zu werden und schimpfen nicht dauernd auf den Papst, den Pfarrer, den Bischof oder irgendwelche Leute, die irgendwas verkehrt machen. Die Kirche ist in sich die heilige Kirche, die in der Muttergottes und den heiligen Männern und Frauen die Versammlung ist, in der Gott wohnt; gleichzeitig ist sie die Kirche der Sünder, denn sie ist für uns alle da, die wir immer wieder neu Bekehrung notwendig haben.

Was ändert sich durch dieses Verständnis von Kirche?

Wenn man sagen kann: “Freunde, ich darf in der Kirche sein, das ist der Ort, wo ich erlöst und befreit bin; da begegne ich Jesus”. Das ist eine völlig andere Perspektive als: “Ich verlass den Laden jetzt, weil der oder der so ein Idiot ist”. Schauen Sie mal die Evangelien an, was die Jünger immer mal wieder für Idioten waren: diese tollen Apostel. Jesus erzieht sie dauernd: Wie lange muss ich euch denn noch aushalten, fragt er bisweilen? Und schon als er dem Kreuzestod entgegengeht, da streiten diese Typen, wer der Chef sein darf. Und sie schicken ihre Mama vor, die sagt, meine Söhne müssen links und rechts von dir hocken dürfen. Tolle Jünger! Wir sehen also auch an ihnen: Kirche ist die Kirche der Sünder. Und Gott hat sie uns geschenkt, damit wir Menschen werden, die darin tiefer, freier, lebendiger, liebender, glaubender werden. Das ist Kirche. Kirche ist etwas, was uns voraus ist und nicht etwas, was wir dauernd manipulieren können. Ich glaube, die Frage nach der Kirche ist in der Verkündigung sogar noch drängender als die Frage nach Jesus.

Warum das denn?

Weil sich das richtige Jesus-Verständnis nur über die Kirche erschliesst. Sagen wir’s andersherum: Jesus ist irgendwie sympathisch und jeder denkt sich so seinen Jesus. Aber die Erfahrung zu machen, ich begegne ihm leibhaftig nur in der Kirche, die ist wichtig. Um konkret da hineinzufinden, wo ich ihm begegne, dazu muss ich verstehen lernen, wer oder was Kirche ist. Jesus lebt in der Kirche, hier begegne ich ihm. Das ist ein ganz zentraler Punkt.

Die Familie gilt als erster Lernort von Kirche. Aber die Lebenswirklichkeit sieht heute meist anders aus. Papst Franziskus treibt das offensichtlich um. Er hat eine Bischofssynode zu Ehe und Familie einberufen. In Deutschland konzentriert sich die Diskussion bislang vor allem auf das Thema Kommunionempfang für wiederverheiratet Geschiedene. Bedeutet diese Engführung ein Problem, geraten damit viele andere wichtige Aspekte aus dem Blick?

Ehe und Familie sind grosse, ganz wichtige Themen. Dass die deutsche Diskussion weltkirchlich ein so grosses Problem sein könnte, glaube ich nicht. Dazu ist die Kirche in Deutschland innerhalb der Weltkirche nicht wichtig genug. Das ist ein Problem, das sich in Deutschland konzentriert, vielleicht auch noch in anderen westlichen Ländern. Aber es ist weltweit nicht das Hauptproblem. Ich fürchte daher aber schon, dass die Enttäuschungen in Deutschland gross sein werden. Im Anschluss an diesen Fragebogen und in Folge des Dialogprozesses, den die Bischöfe eingegangen sind, gibt es riesige Erwartungen. Und wir werden in dieser einen Frage nach meiner Einschätzung keine entscheidende Weichenstellung kriegen. Das wird nicht gehen. Und dann werden viele sagen, schau her, ich hab’s ja schon immer gewusst, der Franziskus bringt auch keine Reform her.

Sie sind seit gut zwei Monaten im Amt…

Ja, und jeder Tag ist eine neue Herausforderung. Ich bin kein Mann des Apparats und lerne jetzt jeden Tag auch den Apparat kennen. Ich hatte bis vor kurzem nicht einmal ein eigenes Giro-Konto und sitze jetzt dem Diözesan-Steuerausschuss vor, der einen dreistelligen Millionenhaushalt verwaltet. Ich lerne das alles erst.

Mit welcher Begleiterscheinung des Bischofs-Daseins hatten Sie denn überhaupt nicht gerechnet?

Mit dem “Bischof-Schauen”. Auf einmal kommen Leute auf mich zu, weil sie mich kurz anschauen wollen. Das befremdet mich. Aber was mich ernsthafter beschäftigt, ist die Frage, wie ich ohne meine Gemeinschaft leben kann, oder wie ich mein geistliches Leben so kontinuierlich auf die Reihe bekomme, dass ich nicht von der Substanz zehre, sondern daraus wirklich Kraft schöpfe. Ich merke auch, dass ich viele Kontakte nicht mehr so pflegen kann wie früher. Das geht leider nicht mehr: Ich gehöre jetzt in bestimmter Hinsicht jemand anderem, in Christus eben dieser Diözese. Das muss man lernen.

“Victoria veritatis caritas” (“Der Sieg der Wahrheit ist die Liebe”) lautet Ihr bischöflicher Wahlspruch. Warum ist Ihnen dieser Satz, der auf den Kirchenvater Augustinus zurückgeht, so wichtig?

Das hängt mit vielen Aspekten zusammen, über die wir gesprochen haben. Ich habe es bei meiner Weihe – ein bisschen karikierend – so formuliert: Die einen meinen, wir müssen uns vor allem um die Menschen kümmern und diakonisch tätig sein. Im Verhältnis dazu seien die Dogmen, die Liturgie, das Kirchenrecht, das Rosenkranzgebet marginal. Sie kümmern sich nicht um die Frage, was wahr ist, sondern meinen, einfach machen zu können. Und dann gibt es die, die meinen – ich karikiere weiter – sie hätten die Wahrheit mit Löffeln gefressen und es gehe vor allem darum, Kirchenrecht, Dogmatik und Liturgie korrekt anzuwenden. Dabei vergessen sie leicht, dass das alles dem dient, dass man liebesfähiger wird, dass man weiter herausgehen, besser Gott und den Menschen dienen kann. Wenn mich mein Beten nicht wirklich liebesfähiger macht im Blick auf Gott und den Menschen, dann ist an meinem Beten etwas faul. Deswegen verstehe ich das rechte Verhältnis von Wahrheit und Liebe nur, wenn ich auf Christus schaue: Er sagt von sich, dass er die Wahrheit ist, aber er ist diese Wahrheit als Hingabe, als Liebe. Deshalb ist das Kreuz unser Siegeszeichen:

Der Sieg der Wahrheit ist die Liebe.

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