Diese Brutalität schnürt den Atem ab

Vorsitzender des Zentralrates Orientalischer Christen in Deutschland

Simon Jacob, Vorsitzender des Zentralrates Orientalischer Christen in Deutschland, sieht das Christentum im Irak kurz vor der “totalen Auslöschung”.

Die Tagespost, 11. August 2014, Von Markus Reder

Die Situation im Irak hat sich dramatisch zugespitzt. Eine halbe Millionen Menschen sind auf der Flucht. Sehen Sie noch eine Überlebenschance für das Christentum im Irak?

In Anbetracht der Tatsache, dass das Christentum, das Jesidentum, uralte Kulturen und Traditionen, die ein Teil unserer Geschichte sind, vor den Augen der Welt kurz vor einer totalen Auslöschung stehen, kann ich Ihnen die Frage mit einem klaren und schmerzlichen “Nein” beantworten.

Was spielt sich in diesem Moment in den Köpfen der orientalischen Christen in Europa und weltweit ab?

Die Ohnmacht, welche die Gemeinden in Europa als Geisel genommen hat, ist unbeschreiblich. Die Tatsache, dass die Welt bis vor einigen Stunden regungslos zugesehen hat, ist unbegreiflich. Die Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass aus einer Religion sich so viel Hass und Wut entfalten kann, gepaart mit einer nie gesehenen Brutalität und Gewaltbereitschaft, die auch noch öffentlich zelebriert wird, ist rational nicht mehr zu erklären und schnürt jedem vernunftbegabten Menschen den Atem ab.

Die Vereinigten Staat kommen den verfolgten Minderheiten mit gezielten Angriffen zu Hilfe. Reicht das? Was erwarten Sie von der internationalen Gemeinschaft, um den Terror zu stoppen?

Reichen militärische Angriffe denn alleine aus? Jetzt, wo es fast zu spät ist? Die ganze Weltgemeinschaft ist gerufen, jetzt endlich zu handeln. Militärisch vorzugehen lindert vielleicht die Symptome, aber stoppt nicht die Krankheit. Man muss die Wurzeln angehen. Zum Beispiel hat man die Finanzströme zu stoppen, die die Extremisten versorgen. Da rührt man schnell an Tabu-Themen. In Saudi-Arabien, Katar, Kuwait und anderswo sitzen ultrareiche Muslime, die mit privaten Geldern diese Extremisten versorgen. Darüber will man nicht reden, obwohl man das weiss. Die USA und die Bundesregierung müssen alles tun, um international politischen Druck auszuüben. Auch wenn es temporär bei uns Arbeitsplätze kostet und die Energiepreise steigen. Der Preis, den die Welt zu bezahlen hätte, und insbesondere Europa, wäre um Einiges höher, wenn der Extremismus weiterhin mit Milliarden in die Welt exportiert wird.

Weite Teile des Irak sind bereits “christenfreie Zonen“. Der grosse internationale Aufschrei gegen die Brutalität, mit der gegen Christen und andere Minderheiten vorgegangen wird, ist lange ausgeblieben. Wie erklären Sie sich das?

Weil Teile der westlichen Welt das Christentum immer noch mit Kolonialisierung, den Kreuzzügen und Unterdrückung gleichsetzen. Gewiss war auch dies Teil des Christentums. Aber dabei vergisst man, und insbesondere in Europa, dass das Christentum auch eine friedensstiftende Wirkung entfaltet hat. Im Besonderen nach dem zweiten Weltkrieg, verankert im Grundgesetz und definiert durch eine Sozialkultur, die vielen Menschen Platz bietet. Die aus der Vergangenheit herausgeleitete Irrlehre, gepaart mit der Sichtweise, dass alles “Islamische” in einer Opferrolle sein muss, aber alles “Christliche” zu ignorieren ist, produzierte im Besonderen innerhalb linker Kreise die Sichtweise, dass das Christentum zu ignorieren ist. Dabei vergessen diese Menschen, dass es das orientalische Christentum noch vor den Kreuzzügen und der Kolonialisierung gab. Eine Tatsache, die leider zu oft zu gerne verschwiegen wird.

Sollte die Bundesrepublik Deutschland mit Blick auf die Eskalation der Lage im Irak bevorzugt christliche Flüchtlinge aufnehmen?

Definitiv ja, weil sich die christlichen Flüchtlinge in einer besonders schwierigen Lage befinden. Sie haben nicht die Möglichkeiten der sunnitischen Muslime, auch anderswo Hilfe zu finden. Es sollte nicht das Ziel sein, christliche Flüchtlinge komplett zu entwurzeln und hierher zu bringen, aber wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt, sollten sie wenigstens hier in Ruhe und Frieden leben können – auch wenn dies nur temporär der Fall wäre. Dies gilt auch für andere Minderheiten, die ebenfalls in Gefahr sind. So zum Beispiel die Jesiden oder Alawiten, die aus Syrien fliehen.

Mit einer bevorzugten Aufnahme von Christen würden muslimische Flüchtlinge benachteiligt, meinen viele im politischen Deutschland.

Dem kann ich überhaupt nicht zustimmen. Ich bin in der Flüchtlingsarbeit ausserordentlich aktiv. Der Grossteil der Flüchtlinge, die aus dem Nahen Osten nach Deutschland kommen, sind Muslime. Es sind die christlichen Flüchtlinge, etwa aus dem Irak oder Syrien, die benachteiligt sind. Sie haben in der Region nicht die Möglichkeiten, die muslimischen Flüchtlingen offenstehen. Die einzigen, die sie schützen können, sind nun mal die Länder des Westens. Ich habe noch nichts davon gehört, dass Saudi-Arabien gerne Christen aufnehmen möchte, auch nicht andere Länder in der Region. Die Feindseligkeit gegenüber den Christen in der Region ist hoch. Mich wundert doch sehr, dass man in Deutschland noch immer nicht das “Gesamtbild Nahost” verinnerlicht hat. Stattdessen wird mit merkwürdigen und falschen Vorstellungen argumentiert.

Der melkitische Patriarch Laham III. hat gesagt, wir brauchen niemanden, der uns aufnimmt, sondern jemanden, der uns hilft, in unserem Land zu bleiben. Stimmen Sie dem zu?

Der Patriarch, der bei uns Mitglied im Kuratorium ist, hat vollkommen Recht. Es bringt wenig, wenn wir Menschen nach Deutschland holen. Das ist zwar wichtig und richtig, weil die Not der Flüchtlinge gross ist. Noch wichtiger ist aber, dafür zu sorgen, dass sie in ihrer Heimat überleben und leben können. Deshalb müssen im Irak Schutzzonen eingerichtet werden für die Bedrängten und Verfolgten und besonders für den Rest der christlichen Bevölkerung. Alles andere ist meines Erachtens Utopie. Solange die christliche Bevölkerung nicht die Möglichkeit hat, sich selbst zu schützen, innerhalb der eigenen Grenzen, der eigenen Strukturen, werden sie das Land verlassen und nicht mehr zurückkommen. Dass kann keiner wollen – und das will auch die muslimische Gesellschaft nicht.

Nach verschiedenen Medienberichten werden christliche Flüchtlinge aus Syrien in deutschen Flüchtlingsheimen von Islamisten, die hier ebenfalls Asyl suchen, beschimpft, bedroht, geschlagen. Was wissen Sie über solche Vorgänge konkret?

Wir können über einige Vorgänge berichten, die zum Beispiel in Bayern stattgefunden haben. Man kann die Vorgänge in verschiedene Abstufungen unterteilen: Es beginnt mit Mobbing, erstreckt sich über Bedrohungen von Familien oder Familienmitgliedern bis hin zu Schlägen. Wir haben von anderen Gemeinden in Deutschland gehört, dass es dort ähnliche Fälle gab. Aber darüber wird geschwiegen. Man möchte lieber keine Berichterstattung. Es wurde uns auch über Fälle berichtet, in denen moderate Muslime, die hier Asyl suchen, bedrängt und unter Druck gesetzt wurden.

Geht es um Einzelfälle?

Davon gehen wir aus. Geht man diesen Fällen allerdings nach, wächst doch die Sorge. Teils sind die Vorgänge dramatisch. Es wäre naiv zu glauben, dass die Konflikte aus den Bürgerkriegsregionen nach dem Überschreiten der deutschen Grenze plötzlich abgelegt werden. Deutschland wird sich auf importierte Konflikte einstellen müssen.

Welche Reaktionen erwarten Sie von politischer Seite?

Wir erwarten, dass das offensiv angegangen wird. Da darf man keine Decke des Schweigens darüberlegen. Wir müssen solche Vorgänge öffentlich machen und daraus Konsequenzen ziehen. Lässt sich wirklich nicht vorher feststellen, ob jemand, der nach Europa, nach Deutschland kommt, eine bestimmte Gesinnung mitbringt, die mit Demokratie und unseren Werten nichts zu tun hat? Ich stelle das Asylrecht nicht in Frage. Aber dass es in Flüchtlingsheimen derartige Probleme gibt, muss man schon ernst nehmen. Die Gefahr ist offen zu benennen, ohne deshalb gleich in eine rechte, islamophobe Ecke gedrängt zu werden. Es geht um Menschen, die hier Zuflucht vor Verfolgung suchen und nun erneut begründet Angst haben müssen. Dieser Tatsache muss man ins Auge sehen.

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