Immer mehr Menschen fliehen aus der Ost-Ukraine

Russlands Unterstützung für die Separatisten ist ein offenes Geheimnis

Erzengel Michael – Schutzpatron der Soldaten

– Teile des Donbas sind im Kriegszustand.

Von Juri Durkot

Die Tagespost, 23. Juni 2014

Lydia, eine junge schlanke Frau um die dreissig, greift ständig zu ihrem Handy. Jede halbe Stunde telefoniert sie mit ihrer Familie in Lugansk, um zu erfahren, was da los ist. Die Situation ist äusserst gefährlich. Immer wieder gibt es dort Schiessereien, die Separatisten versuchen, Menschen als lebendiges Schild zu nutzen. Ihr alter Vater befindet sich dort, und sie selbst fühlt sich nicht mal im ruhigen und sicheren Lemberg in Sicherheit. “Wenn die Terroristen erfahren, dass jemand gegen sie Stimmung macht, können sie sich an Familienmitgliedern rächen.” Vor etwa einem Monat ist sie aus Lugansk geflüchtet, eine Rückkehr kann sie sich nicht vorstellen. Lydia will in Lemberg bleiben und hier Arbeit finden, vielleicht an der Technischen Universität, sie könnte dort Anlagenbau unterrichten.

Mittlerweile gibt es immer mehr Flüchtlinge in der Ukraine. Alleine den Donbas haben nach Schätzungen der Behörden mittlerweile mehr als 30 000 Menschen verlassen. Weil die russische Unterstützung für die Separatisten im Osten mit Waffen ein offenes Geheimnis ist, wächst nun auch in der Ukraine Unmut nicht nur über die russische Führung, sondern auch über Russland insgesamt. Mehr als die Hälfte der Ukrainer sind laut jüngsten Meinungsumfragen überzeugt: Russland wird seine Aggression gegenüber dem Nachbarland fortsetzen und versuchen, neue Gebiete von der Ukraine abzuspalten. Drei von vier Ukrainern glauben, dass Russland eine Gefahr für die Ukraine darstellt.

Die Nerven liegen seit Wochen blank. Nach dem Abschuss des ukrainischen Militärtransportes IL-76 mit 49 Menschen an Bord ist es zu massiven Ausschreitungen vor der russischen Botschaft in Kiew gekommen. Die Maschine wurde am 14. Juni von einer russischen Rakete beim Landeanflug getroffen. Der Versuch des damaligen Aussenministers, die Demonstranten zu beschwichtigen, endete damit, das er zusammen mit den Protestierenden den Refrain angestimmt hat, mit dem die ukrainischen Fussballfans Wladimir Putin zu beleidigen pflegen. Der diplomatische Eklat war perfekt, das Video wurde zum Renner im Internet.

Auch die Erinnerung an den Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni hat in mehreren Städten zu Spannungen und Zusammenstössen geführt. Als in Kiew bekannt wird, dass im Kiewer Höhlenkloster sich die Anhänger der Separatisten und des Moskauer Patriarchats versammelt haben und eine Prozession gegen die europäische Integration planen, werden die Ausgänge sofort von aufgebrachten Menschen blockiert. Die Orthodoxe Kirche des Moskauers Patriarchats in der Ukraine hat neuerdings keinen guten Ruf. Zumindest ein Teil der Kirche soll hinter der Idee der “russischen Welt” stehen, die den Separatisten die geistige Grundlage liefert. Die Polizei kann die Zusammenstösse gerade noch verhindern. Die teilweise vermummten Demonstranten demolieren die Filiale der russischen Sberbank in der Nähe.

In Charkiw kommt es zu Zusammenstössen zwischen den pro-ukrainischen Demonstranten und der Polizei. Die Separatisten organisieren eine kleine Demonstration am Lenin-Denkmal. Die Polizei berichtet, dass auf beiden Seiten 30 Menschen festgenommen wurden. Auf dem Video im Internet ist zu sehen, wie die Menschen an den beschmierten Häusern vorbeilaufen. “Tod den ukrainischen Faschisten” steht drauf, “Charkow ist russisches Land” und “Noworossija” (Neurussland), jener Begriff, den die Separatisten für den Osten und den Süden des Landes verwenden.

In Kiew steigt die Mutter mit zwei Kindern in den Zug nach Simferopol ein. Vor einigen Tagen hat sie die Kleinstadt Anthrazit im Donbas verlassen. “Dort haben wir uns ständig versteckt, immer wieder waren die Schüsse zu hören. Die Versorgung ist teilweise zusammengebrochen.” Sie sei nicht für Russland und gegen die Separatisten, aber zu Hause konnte sie es nicht mehr aushalten. “Im Westen haben die Menschen noch ihre kleinen Parzellen und könnten in so einer Situation vielleicht überleben. Bei uns gibt es nur Asphalt. Wenn die Fabriken schliessen oder wenn wir keine Löhne bekommen, haben wir nichts mehr zu essen.” Auf der Krim will sie sich zunächst umschauen. Ob die Halbinsel nun russisch oder ukrainisch ist, ist ihr eigentlich egal. Sie will irgendwo ihre Ruhe haben und den Krieg vergessen.

Die Internet-Zeitung “Ukrainska Prawda” hat Bilder aus Mariupol veröffentlicht. Die Stadt am Asowschen Meer mit einer halben Million Einwohnern gehört zu den grössten Stahlproduzenten des Landes. Drei Hüttenwerke sind hier stationiert, die Umweltprobleme sind gewaltig. Das Stadtbild wird von giftig-rostigen Schornsteinen geprägt. Am Himmel über einer Fabrik steigt gelber Qualm auf. Die Stadt wurde vor etwa zehn Tagen von Separatisten befreit und versucht allmählich zu neuem Leben zu kommen. Im Zentrum sieht man keine Georgs-Bänder und keine Flaggen der “Donezker Volksrepublik” mehr, berichtet die Zeitung. Das völlig ausgebrannte Gebäude des Polizeireviers sieht gespenstisch aus. Am Eingang haben die Menschen Blumen und Kränze für die Toten niedergelegt. Auch das Gebäude der Stadtverwaltung hat gebrannt, es wurde zweimal von Separatisten eingenommen. Dort versammeln sich immer noch die prorussischen Omas und Opas. Der lokale Aktivist Jurij Ternawskij sagt im Gespräch mit “Ukrainska Prawda”, dies seien die Reste der Kommunisten.

Über die Zukunft der Kommunisten in der Ukraine wird heftig diskutiert. Die Staatsanwaltschaft hat einen Antrag auf Verbot der Kommunistischen Partei beim Justizministerium gestellt. Den Kommunisten wird die Unterstützung des Separatismus vorgeworfen. Ihre Fraktion im Parlament befindet sich wohl im Auflösungsprozess. Bei den Präsidentschaftswahlen hat ihr Kandidat gerade mal 1,5 Prozent Prozent bekommen – ein Debakel. Bei Neuwahlen würden sie es wohl zum ersten Mal nicht ins Parlament schaffen.

Ob und wann die vorgezogenen Wahlen für das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, stattfinden, bleibt unklar. Politisch wäre es wohl ein wichtiger Schritt – das heutige Parlament spiegelt die politische Situation im Lande und die Stimmung in der Bevölkerung schon lange nicht mehr wider. Viele Abgeordnete sind durch Zusammenarbeit mit dem alten Regime diskreditiert, die anderen haben das Mandat genutzt, um Geschäfte zu machen. Das wollen die Menschen in der Ukraine nicht mehr akzeptieren. Einigen Abgeordneten der Partei der Regionen wird die Unterstützung des Separatismus vorgeworfen, einem wurde sogar das Mandat entzogen. Letzt- endlich trägt dieses Parlament die Verantwortung für die Eskalation im Januar. Damals hat die präsidententreue Parlamentsmehrheit Gesetze verabschiedet, die die Demonstrationen und Meinungsfreiheit massiv einschränken und das Land in eine Diktatur verwandeln sollten.

Doch es gibt auch mächtige Gegner der Wahlen, vor allem im Parlament selbst. Die grösste Frage lautet: Wie kann man Neuwahlen organisieren, wenn sich Teile des Donbas im Kriegszustand befinden und die Menschen dort keine Möglichkeit haben, zur Wahl zu gehen?

Jurij Ternawskij hofft indes, dass seine Heimatstadt Mariupol zum neuen Zentrum des Donbas werden kann. Zumindest Teile der Regionalverwaltung funktionieren heute von Mariupol aus. Sie mussten das von Separatisten grösstenteils kontrollierte Donezk verlassen. Aber auch die ruhigeren Gebiete im Donbas, wie Mariupol, sind noch sehr weit von der Normalität entfernt. Je länger der Krieg dort dauert, desto schwieriger wird es sein, zum normalen Leben zurückzukehren.

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