Ein Meer aus Blut und Tränen

“2003 die Büchse der Pandora geöffnet”


Die Tagespost, 13. Juni 2014, Von Stephan Baier
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Flüchtlingshilfe der Caritas angelaufen

Man kann dem irakischen Ministerpräsidenten Nouri al-Maliki ja viel vorwerfen, aber ihm den offenbar unaufhaltsamen Zerfall seines Staates anzulasten, hiesse seine Mittel und Möglichkeiten grob zu überschätzen. Die Idee, der Schiit hätte in einer Art “grossen Koalition” mit Kurden und Sunniten die Integrität des Irak retten können, verkennt die ideologische, historische und konfessionelle Gefechtslage in der Region. Die Hauptschuldigen für Chaos und Krieg im Irak wie in Syrien sitzen weder in Bagdad noch in Damaskus.

Ohne die säkularen Diktaturen von Saddam Hussein und Baschar al-Assad zu verharmlosen: Washington hat beider Sturz betrieben und damit 2003 die Büchse der Pandora geöffnet, aus der nun alle Übel entweichen. Teheran und Moskau haben leider Recht, wenn sie die westliche (insbesondere amerikanische) Nahost-Politik für den Vormarsch der sunnitischen Terroristen im Irak und in Syrien verantwortlich machen: Nur weil Washington die säkularen Diktaturen in Bagdad und Damaskus gestürzt beziehungsweise in die Defensive gedrängt hat, haben die sunnitischen Fanatiker eine Chance auf Errichtung religiöser Tyranneien bekommen. Bewegungen wie ISIS und Al-Nusra wollen nicht in grosse Koalitionen eingebunden oder mit Kompromissen abgespeist werden. Sie wollen eine Neuordnung des Orient, ohne Rücksicht auf bestehende Grenzen, auf Menschen- und Minderheitenrechte, auf andere Religionen und Konfessionen. Gegen Saddam zog der Westen in den Krieg, gegen Assad schürte er Krieg: in beiden Fällen ohne ein realistisches Kriegsziel, ohne Alternative. Die Terroristen von ISIS und Al-Nusra jedoch sehen eine Alternative: eine sunnitische Tyrannei von Bagdad bis Beirut.

Der Vormarsch der ISIS droht nicht nur den Kunststaat Irak zu sprengen, sondern gefährdet die Staatenordnung, die Briten und Franzosen am Ende des Ersten Weltkriegs dem Orient gaben. Damals zogen London und Paris willkürliche Grenzen in Nahost, um einen geeinten arabischen Nationalstaat zu verhindern. Heute jedoch droht weit Schlimmeres. Der Irak könnte in drei Teile zerfallen: Kurdistan im Norden wäre eine permanente Provokation für die Türkei; die Mitte würde zur sunnitischen Tyrannei und zum Terrorexporteur; der schiitische Südosten könnte nur von Teherans Gnaden überleben. Ähnlich droht Syrien in eine kurdische, eine von Riad abhängige sunnitische und eine von Teheran abhängende alawitische Zone zu zerbröseln. Damit wäre der uralte schiitisch-sunnitische Antagonismus nicht gelöst, sondern nur die Bühne geschaffen für viele Jahrzehnte des schiitisch-sunnitischen Ringens um die Macht im Orient. Diesen Kampf tragen die Regionalmächte Saudi-Arabien und Iran auf dem Rücken des Nahen Ostens und seiner Bewohner aus. Bei den Mobilmachungen gegen Saddam Hussein und Assad hat Amerika keine Rücksicht darauf genommen, dass die arabischen Christen in den muslimischen Mehrheitsgesellschaften des Orient unter säkularen Diktatoren mit Mühe überleben – unter religiösen Fanatikern aber zum Freiwild werden. Washington hat zudem nicht bedacht, dass die sunnitischen Terrorgruppen, die der Büchse der Pandora entwichen, sich weder um die Ideale noch um die Interessen des Westens scheren. Sie haben ihre eigene Agenda – und diese ertränkt den Orient jetzt in einem Meer aus Blut und Tränen.

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