Die Suche nach dem Ethos der Europäer
Treten Religion und Politik in eine neue Beziehung?
Die Tagespost, 19. Mai 2014
Eine Tagung zum gesellschaftlichen Streit über Glaubensfreiheit. Von Christoph Böhr
“Der heilige Augustinus hat das Gründungscharisma des Christentums im Hinblick auf Staat und Kirche formuliert: Die “Stadt Gottes” wird in den Herzen der Menschen gebaut und nicht in der Zuständigkeit weltlicher Macht”.
Fast siebzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wird das Verhältnis von Kirche und Staat heute mehr und mehr zu einer Streitfrage. Weite Teile der deutschen Gesellschaft verstehen sich inzwischen als kirchenfern und verlangen nach einer sehr viel deutlicheren Trennung von Religion und Politik. Ist es also an der Zeit, deren Verhältnis neu zu bestimmen?
Der rechtlich abgesicherte Einfluss der Kirchen scheint mit dem Bedürfnis der in dieser Hinsicht zu ihr auf Distanz gehenden Gesellschaft kaum noch vereinbar. Soll Religion sich also ins reine Private zurückziehen – oder muss sie befürchten, gegen ihren Willen dorthin zurückverwiesen zu werden? Entspricht das dem Selbstverständnis des christlichen Glaubens? Und, weiter gefragt: Entspricht eine solche Rückverweisung den Interessen des Staates, wie immer öfter behauptet wird?
Fragen über Fragen. Ihnen widmete sich der 2007 von Hans-Gregor Nissing begründete Philosophische Arbeitskreis “Vernunft und Glaube” auf seiner 7. Jahreskonferenz, die in Zusammenarbeit mit dem “Geistlichen Zentrum der Malteser“ in der Kommende Ehreshoven stattfand. Deren Leiter, Georg von Lengerke, sah in den wechselseitigen Anfragen von Kirche und Gesellschaft eine grosse Chance für Christen, bei allem, was sie in und für die Gesellschaft tun, nicht zu schweigen über das, was immer der erste, unverwechselbare und wichtigste Beweggrund ihres Tuns ist: der Glaube an Gott, der in Caritas und Diakonie zum Ausdruck kommt und gesellschaftlich zur Sprache gebracht wird. Gerade aber in diesem Bekenntnis sehen viele in der Gesellschaft heutzutage eine Provokation, die sie aus dem öffentlichen Raum verbannen möchten. Umso wichtiger ist es, dass die Gesellschaft sich der Prinzipien neu gegenwärtig wird, denen der moderne säkulare Staat in seiner Wahrnehmung der Religion zu folgen hat. Anders gefragt: Wie gehen wir im Anspruch von Säkularität und Laizität mit Religion um?
Kaum jemand ist berufener, zu dieser Frage Stellung zu nehmen, als Martin Rhonheimer, der mit seinem vor zwei Jahren erschienenen Buch über das Verhältnis des Christentums zum säkularen Staat in Geschichte, Gegenwart und Zukunft eine umfassende, viel beachtete Positionsbestimmung vorgenommen hat. Längst ist dieses Buch zu einem Standardwerk geworden. Rhonheimer zeichnete das “Gründungscharisma” des Christentums als die erstmalige, der antiken Welt bis dahin fremde Trennung von Politik und Religion. Damit hat das Christentum eine entscheidende Wegweisung vorgenommen: hin zur Säkularität der Rechts- und Sozialordnung, die keine Sakralität für sich beanspruchen dürfen. Schöpfungsordnung und Heilsordnung werden getrennt: die “Stadt Gottes” wird in den Herzen der Menschen gebaut und nicht in der Zuständigkeit weltlicher Macht, wie gerade Augustinus betont hat. Zwar setzte nach Augustinus, im 6. und 7. Jahrhundert, eine Entwicklung ein, die dann doch auf eine Sakralisierung der weltlichen Gewalt hinauslief, aber schon das Hochmittelalter machte ein halbes Jahrtausend später damit Schluss: Es desakralisierte die weltliche Gewalt erneut und besann sich damit auf das Gründungscharisma des Christentums. Dafür aber brachte es im Gegenzug eine Politisierung der kirchlichen Sakralgewalt ins Spiel und unterwarf die politische Macht einer – dieser Macht vorausgehenden und von ihr unabhängigen – Norm, nämlich der des (Natur-)Rechtes, bis dann, wieder ein paar Jahrhunderte später, im Absolutismus der Primat der Politik gegenüber allen Glaubensfragen begründet wurde – um der innergesellschaftlichen Friedenssicherung willen.
Heute, so Rhonheimer, sehen wir unter den Vorzeichen des modernen, säkularen und demokratischen Staates in der Religion ein gesellschaftliches Gegenüber des Staates. Der Staat hat die Freiheit der Religion zu schützen, und das heisst auch: Er darf die Religionsdistanz nicht privilegieren. In jeder Hinsicht bleibt er selbst unabhängig und unberührt von Religion. Die Kirchen haben die Aufgabe, sich politisch wirksam zur Geltung zu bringen, indem sie ihre Mitglieder ermuntern und ermutigen, gesellschaftliche Wirkung zu entfalten, nicht aber, indem sie durch amtliche Vorgaben und Verlautbarungen das Handeln des Staates zu beeinflussen suchen. Kritisch bewertete Rhonheimer die deutsche Entwicklung der letzten Jahrzehnte, in denen die christlichen Kirchen gleichsam zum Teil des politischen Systems wurden, besonders dort, wo sie den Sozialstaatsauftrag des Staates erfüllen: “Kirchen sollen nicht integraler Teil des Sozialstaatssystems sein, sondern eine spirituelle Autorität verkörpern und diese mir caritativer Präsenz verbinden.”
Aus einer ganz anderen Sicht näherte sich Reinhard Mehring der Verhältnisbestimmung von Gesellschaft, Staat und Kirche. Ausgehend von Carl Schmitt und dessen Konzeption Politischer Theologie, seinem religiösen Individualismus und seiner Kritik an der religiösen Autorität der christlichen Kirchen schlug Mehring den Bogen zu Ernst-Wolfgang Böckenförde, dem vielleicht einflussreichsten Juristen der deutschen Nachkriegsgesellschaft. In seiner Eigenschaft als Bundesverfassungsrichter hat Böckenförde gegen den auch nach 1945 noch verbreiteten Vorbehalt vieler Katholiken gegenüber der Demokratie angekämpft, der Glaubensfreiheit eine bis heute hierzulande gültige rechtliche Ausgestaltung gegeben und – wie zuvor auch Schmitt – für die Entflechtung der Einfluss-Sphären von Kirche und Staat gekämpft. Böckenförde ist mit seiner Mahnung, dass sich das Ethos einer Gesellschaft auf Dauer nicht von alleine erhalte, bis zum heutigen Tag in aller Munde – und zu Recht: Denn dass die Quellen sprudeln, aus denen das Ethos einer Gesellschaft geschöpft werden kann, ist nicht vom Staat zu bewerkstelligen, da diese Quellen ja gerade ausserhalb des Staates, also aller staatlichen Obhut enthoben, zu suchen und zu finden sind.
Holger Zaborowski widmete sich der Frage, was wir meinen, wenn von Religionsfreiheit gesprochen wird. Seine “Hermeneutik eines Menschenrechtes“ zielte auf die Ausgestaltung der Grundsätze einer konkreten Anwendung von Religionsfreiheit angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen, von denen er vier namentlich nannte: den religiösen und weltanschaulichen Pluralismus, die Ankunft des Islam in Europa, die religiöse Indifferenz vieler Zeitgenossen und schliesslich den religiösen – wie den im gleichen Atemzug zu nennenden anti-religiösen – Fundamentalismus. Angesichts dieser Herausforderungen erkannte Zaborowski drei aus seiner Sicht problematische Zugänge, die neuen Herausforderungen in Fragen der Religionsfreiheit anzugehen: den leitkulturalistischen Traditionalismus, den säkularistischen Universalismus sowie den multikulturalistischen Partikularismus – Antworten, die samt und sonders in die Irre führen, weil sie nur zum Schein eine Lösung des Problems versprechen. Jenseits dieser problematischen Zugänge entfaltete Zaborowski vier Grundsätze einer Hermeneutik der Religionsfreiheit, die ein gesellschaftliches Gelingen bei der Einlösung dieses Grundrechtes versprechen können: Die Gesellschaft muss lernen, die Spannung, die sich zwischen der Universalität dieses Menschenrechtes und der Partikularität seiner Umsetzung aufbaut, auszuhalten: eine Aufgabe des nie abzuschliessenden Dialogs, den, so die Forderung Zaborowskis, in einer “Hermeneutik des Wohlwollens“ zu führen notwendig sei, also in der Bereitschaft zu wechselseitiger Anerkennung und Achtung als eine Möglichkeit der Überbrückung auch tiefgreifender Unterschiede – getragen vom wechselseitigen Bemühen um gegenseitiges Verstehen.
Dass unsere Gesellschaft angesichts eines eher aggressiver gewordenen Tons in der Debatte dieser Fragen den eingeforderten Umgang mit der Entfaltung eines zeitgenössischen Verständnisses von Religionsfreiheit noch einüben muss, liegt auf der Hand. Umso wichtiger ist die Suche nach konsensualen gesellschaftlichen Übereinstimmungen. Einen konkreten Vorschlag für einen solchen Konsens machte abschliessend Bernd Irlenborn in seinen Ausführungen über die Bedeutung des christlichen Glaubens im vereinigten Europa. Ausgehend von der Feststellung, dass im heutigen Europa unterschiedliche Leitbilder wirksam sind und die Bedeutung des Christentums eher zu verblassen scheint, fragte Irlenborn: Gibt es – jenseits aller unterschiedlichen Leitbilder – ein Ethos der Europäer, eine verbindende Gemeinsamkeit jenseits aller trennenden Unterschiede? In Erinnerung an den Impuls, der zu den ersten Überlegungen einer Zusammenarbeit der Europäer Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts und, kurze Zeit später, zu den ersten institutionellen Verankerungen dieser angestrebten Zusammenarbeit führte, prägte Irlenborn den Begriff eines “teleologischen Friedensprogramms“ – eines vorbehaltlosen Friedens, der mehr sein muss als ein temporärer Waffenstillstand – als dem Kern des europäischen Ethos. Dieser Kern aber sei geschichtlich wie sachlich vom christlichen Glauben nicht zu trennen, ja, verkörpere diesen Glauben geradezu, ohne dabei einer säkularen Rekonstruktion eben dieser Ziel- und Leitidee im Wege zu stehen. Europa sei, wenn man diesem Gedanken folgt, ein staatlicher Verbund im Interesse des Weltfriedens, getragen vom christlichen Telos der Idee des vorbehaltlosen Friedens. Im Alten wie im Neuen Testament finde sich diese Vision als humane und kulturelle Leitidee. Teleologisch sei diese Friedensvorstellung, weil sie über alle situativen Friedensschlüsse hinausgehe. Irlenborns Plädoyer fiel erfreulich unmissverständlich und nachdrücklich aus: Aus christlicher Sicht gibt es ein starkes Interesse an der europäischen Integration – um des Friedens willen.
Die von Nissing moderierte, gut besuchte Tagung zielte mit ihrer Fragestellung in die Mitte der heutigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über das Beziehungsverhältnis von Religion und Politik. Umso erfreulicher, dass sie nicht nur beachtliche Aufmerksamkeit fand, sondern vier Vorträge bot, die allesamt nicht nur den Streitstand resümierten, sondern darüber hinaus auch neue, eigenständige Impulse für die Entfaltung der Glaubensfreiheit in unserer Gegenwart boten. Als Mitveranstalter half das “Geistliche Zentrum der Malteser“ in unnachahmlich unterstützender Weise, den Rahmen für diese Auseinandersetzung aufzuspannen.
Der von Hanns-Gregor Nissing im Jahr 2007 gegründete Philosophische Arbeitskreis “Vernunft und Glaube“ ist ein Zusammenschluss von Philosophen aus Deutschland und dem benachbarten Ausland, der sich in regelmässigen Abständen trifft, um miteinander und mit einem interessierten Publikum Fragen zu erörtern, die im Spannungsfeld von Vernunft und Glaube angesiedelt sind.
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