Schlaflos in Rom
Nacht des Gebets
Mit einer Nacht des Gebets bereiteten sich die Pilgermassen in den Kirchen Roms auf die Heiligsprechung vor.
Von Guido Horst und Stephan Baier
Rom, Die Tagespost, 28. April 2014
Nachdem Polizei und Ordnungskräfte die Zugänge zum Petersplatz geschlossen hatten, wurde dieser am Samstagabend zum Auge des Taifuns: Leere und Stille zwischen den beiden Kolonnadenbögen, während in den Vierteln rings herum der Verkehr zusammenbrach.
Die Via della Conciliazione, die vom Tiber zum Petersdom führt, hatte schon den ganzen Tag als Fussgängerzone für die eintreffenden Pilgergruppen zur Verfügung gestanden. Nun wurde auch die quer dazu verlaufende Strassenachse, der Lungotevere, auf Vatikanhöhe für die Autos gesperrt. Wie Schallwellen breiteten sich die Auswirkungen des Verkehrsinfarkts über die gesamte Innenstadt aus.
Den zahllosen Pilgergruppen – die weiss-roten Fahnen der Polen überwogen und bildeten einen bunten Kontrast zu den zitronengelb gekleideten Freiwilligen des omnipräsenten Zivilschutzes – machte das gar nichts. Meist im Gänsemarsch zogen sie durch das Gewimmel und viele von ihnen steuerten eine der fünfzehn römischen Kirchen an, die das Vikariat der Diözese Rom für die “Notte bianca”, die “weisse Nacht“ des Gebets und der Anbetung als Vorbereitung auf die grosse Heiligsprechung am Vormittag darauf ausgesucht hatte. Die ganze Nacht über sollten diese Kirchen offen bleiben.
Den Anfang machten um achtzehn Uhr die Bergamasken, die zu Tausenden mit dem Bischof von Bergamo, Francesco Beschi, nach Rom gekommen waren, um die Heiligsprechung ihres “Papa Roncalli” zu feiern. Für sie musste die grösste Kirche her, die Papstbasilika San Giovanni in Laterano, die am Rande des historischen Zentrums neben der römischen Stadtmauer liegt und mit Bussen angefahren werden konnte. Schon den ganzen Tag über hatten die beiden bronzenen Flügel des Hauptportals der Lateranbasilika offen gestanden – was man nicht so häufig sieht –, weil ununterbrochen so viele Menschen in die Hauptkirche der Päpste strömten. Die beiden mächtigen und meterhohen Flügeltüren hatte übrigens der Bauherr des Eingangsportals, Alexander VII., als Dauerleihgabe aus der Kurie der römischen Senatoren ausbauen lassen, die heute noch auf dem Forum Romanum steht. Aber auch die Menschenschlange vor der gegenüber der Basilika gelegenen Scala Santa, der heiligen Stiege, über die Jesus im Palast des Pilatus gegangen sein soll, reichte über den gesamten Platz – ebenfalls ein überaus seltener Anblick. Und selbst in der in Sichtweite gelegenen nächsten Hauptkirche Roms, Santa Croce in Gerusalemme mit der Kreuzesreliquie, war vor lauter Andrang der Zugang zum “Titulus”, der Inschrift am Kruzifix Jesu Christi, so gut wie versperrt.
In der Lateranbasilika feierten nicht nur die Bergamasken mit ihrem Bischof einen Gottesdienst, auch viele Jugendliche von überallher lagerten in den Seitenschiffen. Das galt durchgängig an den beiden Haupttagen der Heiligsprechung: Man durfte nicht fragen, wer gekommen war, sondern, wer nicht da war. Denn (fast) die ganze Welt war in Rom vertreten. Die Jugendlichen, die es in die Basilika geschafft hatten, hofften wohl darauf, die “Notte bianca” in der Laterankirche auch zum Übernachten nutzen zu können. Rucksäcke und Campingmatratzen lagerten sinnvollerweise da, wo im Seitenschiff ganz zur Linken der Basilika eine Besuchertoilette fliessendes Wasser und andere “Nothelfer” verspricht.
Bischof Beschi von Bergamo zitierte in seiner Predigt, was an diesem Tag in Roms Kirchen häufiger zu hören war: das geistliche Tagebuch von Angelo Roncalli beziehungsweise Johannes XXIII. Er sprach über die Beharrlichkeit, mit der der heilige Papst von Jugend an darum bemüht war, täglich Gottes Willen zu erfüllen, was ihm dann eine grosse Freude geschenkt habe, die er den anderen Menschen weitergeben konnte. Während der Bischof predigte und der Gottesdienst dann weiterging, herrschte reger Andrang an den Beichtstühlen. So sollte es in allen Kirchen der “Notte bianca” sein. Aber nicht nur in den Kirchen. Die ganze Nacht über bis zum Barmherzigkeitssonntag am nächsten Morgen, die viele Pilger in der Erwartung der Öffnung des Petersplatzes in aller Frühe auf den Strassen und Plätzen Roms verbrachten, wurde das Sakrament der Versöhnung gespendet – vor allem jungen Menschen, nicht nur auf den Strassen, sondern auch auf den Brücken der Ewigen Stadt.
Die Nächte des Gebets in den fünfzehn Kirchen mit unterschiedlichen Liturgien liefen nicht nach einem einheitlichen Muster ab. In San Bartolomeo, der Kirche mit der Reliquie des Apostels Bartholomäus auf der Tiberinsel, blieb der Ansturm weitgehend aus. Helfer der Gemeinschaft Sant’Egidio, der die Kirche anvertraut ist, hatten Kerzen entzündet, ein Priester sass im Beichtstuhl, vereinzelt fanden sich Besucher ein und Gebetbücher lagen für eine Vigilfeier bereit. Doch im Eingang standen zwei Verantwortliche der Gemeinschaft und schauten fragend in Richtung Zentrum der Stadt, wo der zusammengebrochene Verkehr vielleicht dafür gesorgt hatte, viele vom Marsch zur Tiberinsel abzuhalten.
Auch in Santa Maria in Montesanto, der “Kirche der Künstler” auf der Piazza del Popolo, hatten sich im strömenden Regen nur spärlich Gläubige eingefunden. Und dies, obwohl – wie der Pfarrer zu Beginn auch erzählte – der spätere Papst Johannes XXIII. hier im Jahr 1904 seine Priesterweihe empfing. Er habe die “Kraft zur Erneuerung der Kirche” gehabt, sagte der Priester und würdigte zugleich Johannes Paul II. als den Freund der Jugend, der “die Kirche des Herrn auf die Agora unserer Zeit getragen” habe. Zur eucharistischen Anbetung erklangen dann charismatische Gesänge, kurze Meditationen und mitunter allzu persönliche Bekenntnisse. Ein Herr, der eine öffentliche Lebensbeichte begann, wurde von einem der charismatischen Führer sanft gebremst.
Ganz anders die Stimmung ein paar Strassen weiter, auf der sonst von Kunst und Kommerz geprägten Piazza Navona. Die für die Polen vorgesehene Kirche Sant’ Agnese, an deren Fassade noch immer das leicht verblasste Wappen Johannes Pauls II. prangt, platzte aus allen Nähten. Italienische Jugendliche und polnische Pfadfinder regelten gemeinsam den Andrang zur Kirche. Drinnen eine Atmosphäre des Gebets, draussen polnisches Volksfest. Szenen aus dem Leben Johannes Pauls des Grossen auf Videoleinwänden. Dann erklang das Lieblingslied Karol Wojtylas: “Pan kiedys stanal nad brzegiem” (Der Herr stand eines Tages am Ufer) – da gibt es kein Halten mehr: Die Arme schnellen empor, zehntausende Polen singen aus voller Kehle mit.
Applaus brandet auf, als der Krakauer Kardinal Stanislaw Dziwisz angekündigt wird. Der Mann, der mehr als die Hälfte seines Lebens an der Seite Karol Wojtylas verbrachte, wird hier wie ein Star willkommen geheissen. Er wendet sich vor allem an die Jugend aus aller Welt, erwähnt zwar nicht den eigenen 75. Geburtstag, aber den Todestag Johannes Pauls II. vor genau neun Jahren. “Er ist heute mit uns, aber in einer anderen Weise”, sagt Dziwisz. “Er betet für uns alle. Er wird niemanden verlassen, der ihn anruft.” Wie er es tat, so sollten nun seine Landsleute Zeugnis geben. Der Krakauer Kardinal sprach Polnisch. An die wenigen Italiener auf dem Platz verwies Dziwisz in deren Sprache nur kurz auf den Weltjugendtag in Krakau 2016. Der Heilige Johannes Paul II. solle der Patron dieses Weltjugendtages sein. Dann stimmten die Polen eine Litanei Johannes Pauls II. an: “Zeuge der Hoffnung, bitte für uns“, hiess es da immer wieder. Auch als “Hoffnung aller Verlorenen” und “Begleiter der Leidenden”, als “Beschützer des Lebens“ und “unermüdlicher Pilger“ wurde der neue Heilige angerufen.
Das Gelato in der einen Hand, die Freundin an der anderen, schlenderten die Jungen Roms achtlos am antiken Pantheon vorbei, wo an diesem Abend auf eine Seitenwand das Konterfei Johannes’ XXIII. projiziert wurde: “Heiliger Johannes des Konzils” steht dabei. Viele der umliegenden Kirchen waren geschlossen in dieser “Notte bianca”, doch viele von denen, die ihre Pforten öffneten, waren überfüllt von Gläubigen aller Generationen.
Vor der barocken Jesuitenkirche Il Gesu etwa sammelten sich Menschentrauben. Drinnen standen die Jugendlichen Schulter an Schulter, lauschten den Texten der beiden neuen Heiligen. Zum Grabaltar des heiligen Ignatius von Loyola war kein Durchkommen. Wer jenseits des Touristentrubels auf der Piazza di Spagna und in den Einkaufsstrassen Roms, jenseits der Pilgermassen rund um den Vatikan und die geöffneten Kirchen der Innenstadt an diesem Vorabend zum Barmherzigkeitssonntag in Rom Abgeschiedenheit und Ruhe suchte, musste wohl ins antike Rom zwischen Kapitol und Colosseum ausweichen.
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