Barrieren im Kopf müssen weichen

Inklusion statt Selektion

Arnold JanssenArnold Janssen

– Lebenshilfe mit Arnold-Janssen-Preis ausgezeichnet – Fachtagung über den fairen Umgang mit Behinderten. Von Stefan Rehder

Goch, DT, 13. November 2013

Inklusion, die Verschiedenheit als normal betrachtet, und daher die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen menschlichen Lebens voranzutreiben sucht, ist derzeit in aller Munde. Doch die Wirklichkeit ist viel zu oft noch eine ganz andere. Da wird – mal gedankenlos, mal absichtsvoll – exkludiert, dass sich die Balken, welche die Absichtserklärungen tragen, biegen. Angefangen beim Eintritt in die Gesellschaft, der vielen Menschen mit Behinderungen bereits am Lebensanfang rücksichtslos verwehrt wird, bis hin zum Ausschluss von Bildungseinrichtungen und dem ersten Arbeitsmarkt.

Grund genug für die “Arnold Janssen Solidaritätsstiftung”, die “5. Internationale Gocher Gespräche”, eine Fachtagung, die regelmässig Beiträge zur Lösung existenzieller Zukunftsfragen leisten will, in diesem Jahr unter das Motto: “Inklusion statt Selektion – Gemeinsam für das Leben” zu stellen und den mit ihr verbundenen Arnold-Janssen-Preis an die “Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung” zu vergeben.

Die Laudatio auf den Preisträger hielt niemand Geringeres als der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe. Der CDU-Politiker, selbst Vater eines behinderten Kindes, machte denn auch in der Aula des Collegium Augustinianum Gaesdonck, einem katholischen Gymnasium und Internat, das schon der Gründer der Steyler Missionare, Arnold Janssen (1837–1909) besucht hatte, aus seinem Herzen keine Mördergrube. Nachdem er das vielfältige Engagement der Lebenshilfe für die Belange geistig behinderter Menschen seit deren Gründung 1958 in Marburg ausführlich beschrieben und gewürdigt hatte, ging er auch auf einige gesellschaftliche Auseinandersetzungen ein.

Dass etwa die Giordano-Bruno-Stiftung, einem Think Tank deutscher Atheisten, den australischen Philosophen Peter Singer, der Menschen mit geistiger Behinderung das Recht auf Leben streitig macht, mit einem Ethikpreis bedacht habe, sei ein Skandal. “Wir wollen doch nur, was alle wollen. Wir wollen leben”, habe einmal ein Behinderter zu ihm gesagt, berichtet Hüppe. Wer das Lebensrecht von Menschen mit Behinderungen in Frage stelle, verwirke jeden Anspruch auf Toleranz, so der CDU-Politiker. “Wir lassen nicht mit uns darüber diskutieren, ob das Leben unserer Kinder lebenswert ist”, sagte Hüppe unter dem donnernden Applaus der Zuhörer.

Die Vorsitzende der Lebenshilfe Ulla Schmidt (SPD), die den mit 5 000 Euro dotierten Arnold-Janssen-Preis stellvertretend für die gesamte Bundesvereinigung entgegennahm, kritisierte in ihrer kurzen Erwiderung ebenfalls die offenkundige Grenzenlosigkeit gesellschaftlicher Diskussion. “Heute führen wir Debatten, die so tun, als habe uns der medizinische Fortschritt gesunde Kinder beschert, als gäbe es ein Recht auf ein perfektes Kind”, so die frühere Bundesgesundheitsministerin. Das Preisgeld, das von Bürgern der niederrheinischen Stadt Goch gestiftet worden war, werde die Lebenshilfe für die Verwirklichung eines Filmprojekts einsetzen, das man gemeinsam mit der Universität Heidelberg plane, verriet Schmidt. “Wir wollen, dass sich nicht nur die Rahmenbedingungen verändern, wir wollen auch, dass sich in den Köpfen unserer Gesellschaft etwas tut”, begründete die neue Bundestagsvizepräsidentin die Wahl der Lebenshilfe. Dass hier eine ganze Menge unerledigter Aufgaben wartet, hatte sich bereits tags zuvor in den Fachreferaten der Experten gezeigt. Dort hatte etwa der Kinderarzt und Genforscher Holm Schneider darauf verwiesen, dass sich die Schwere des Verlaufs einer Erbkrankheit durch einen Gentest überhaupt nicht vorhersagen lasse. Am Beispiel mehrerer seiner Patienten machte der Leiter der Molekularen Pädiatrie am Universitätsklinikum Erlangen deutlich, dass auch Leid von den Betroffenen sehr unterschiedlich empfunden werde. Der Arzt, der Zugfahrten nutzt, um Kinderbücher zu schreiben, in denen behinderte Kinder “Mehrfachschwerstnormalen” (Hüppe) bei der Lösung ihrer Probleme zur Hand gehen, nutzte seinen Vortrag, der unter dem Titel “Gen-Check am Lebensbeginn? Zu Risiken und Nebenwirkungen moderner Pränatalmedizin” denn auch für glasklare Kritik an der Politik. Man könne, sagte Schneider mit Blick auf die Zulassung des sogenannten PränaTests, “fast von einem Jagdrecht auf Kinder mit Down-Syndrom sprechen”. In der Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) erblickte der Vater von fünf Kindern eine “Verletzung der bisherigen Massstäbe des Lebens- und Gesundheitsschutzes”. Der neu eingeführte Ultraschall in der 20. Schwangerschaftswoche, auf den jede Schwangere seit kurzem einen gesetzlichen Anspruch hat, werde, verriet Schneider, unter Medizinern auch “Fehlbildungsultraschall” genannt. “Keiner von uns käme durch das Raster, das uns die Genetiker heute anbieten“, zeigte sich der Kinderarzt zum Abschluss überzeugt.

Gisela Höhne, Theaterwissenschaftlerin, Regisseurin und künstlerische Leiterin am Theater RambaZamba Berlin, an dem Menschen mit geistiger Behinderung gemeinsam mit anderen arbeiten, stellte in ihrem Beitrag die Leistungen heraus, zu denen Menschen mit Behinderungen fähig sind. Die von ihr präsentierten Filmausschnitte und Bilder von Aufführungen machten deutlich, dass sich die am Theater RambaZamba beschäftigten Schauspieler vor niemandem zu verstecken brauchen. Hier agiert keine Laienspieltruppe, sondern Profis, die eine genauso professionelle Arbeit abliefern wie ihre nicht behinderten Kollegen auf anderen Bühnen.

Gemeinsam war den Referenten der von Gitta List, Chefredakteurin des Bonner Stadtmagazins “Schnüss” moderierten Fachtagung, zu denen auch der Sozialpädagoge Wolfgang Lamers von der Berliner Humboldt-Universität und die Bundesgeschäftsführerin der Lebenshilfe, Jeanne Nicklas-Faust zählten, dass sie einen Blick auf Menschen mit Behinderungen haben, der zunächst ihre Stärken statt ihre Defizite in den Blick nimmt. Exklusion, so scheint es, ist eine Sache, die sich wesentlich im Kopf abspielt. Mit barrierefreiem Denken wäre folglich schon viel gewonnen.

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