Afrika/Nigeria
Dialog im Schatten der Gewalt
Quelle
Christenverfolgung: Kirche in Not
“Religiöse Intoleranz ist eine Zeitbombe”
Im Norden Nigerias ist die christliche Minderheit der Diskriminierung durch Scharia-Recht und den Angriffen von Boko Haram ausgesetzt. Dennoch schmiedet die katholische Kirche erfolgreich eine christlich-islamische Allianz gegen die verhassten Terroristen
Vatican Magazin 3-4/2013, von Stephan Baier
“Bis vor wenigen Jahren waren wir alle wie Brüder und Schwestern“, sagt Ismilla Modibbo Umar, der Sekretär des regionalen Muslimrates in Yola.
Manchmal seien in einer Familie vier Christen und fünf Muslime gewesen. Man habe gemeinsam gegessen und die religiösen Feste gefeiert. Für die Terroristen von Boko Haram, die von sich behaupten, sie würden den nigerianischen Islam von aller Verwestlichung reinigen, hat er kein Verständnis: “Ein echter Christ und ein wahrer Muslim würden niemals Gotteshäuser anzünden!” Aber es gebe nun einmal in jeder Religionsgemeinschaft “echte und falsche Gläubige”. Umar sagt: “Alle Imame und alle christlichen Priester beten für ein Ende der Gewalt!” Ja, wenn er von einem Imam wüsste, dass dieser für Boko Haram predigt, dann würde er ihn “herausfischen und der Polizei übergeben”.
Es ist nicht ungefährlich, was der Sekretär des Muslimrates da sagt, dass er mit katholischen Priestern offen Freundschaft pflegt, dass er mit einem europäischen Journalisten spricht. Wenige Tage zuvor hatte Boko Haram einen Mordanschlag auf den 82-jährigen Emir von Kanu, einen hohen Würdenträger des Islam in Nigeria, verübt. Sieben seiner Begleiter kamen ums Leben, der Emir überlebte.
Der junge Bischof Stephen Dami Mamza wirkt im Herzland des Terrors, im Nordosten Nigerias. Er bestätigt, dass es auch im mehrheitlich muslimischen Norden meist ein gutes Einvernehmen zwischen Christen und Muslimen gebe. Boko Haram attackiere nicht nur Christen: “Sie haben Menschen in Moscheen attackiert, mehrere Imame umgebracht. Boko Haram kämpft gegen alle, die sie kritisieren. Wenn sie die Gelegenheit hätten, würden sie auch den Sultan umbringen. Sie denken, dass die westliche Erziehung böse (haram) ist, deshalb sind sie auch gegen das Christentum. Aber sie töteten mehr Muslime als Christen.”
Auch ohne den täglichen Terror wäre das Leben im Norden Nigerias mehr als kompliziert: Achtzig Prozent der Menschen im einwohnerreichsten Land Afrikas leben unter der Armutsgrenze, während die Reichen und Mächtigen nur die Taschen ihrer Familien und ihrer Clans füllen. Nigeria könnte dank seiner Erdölvorkommen im Wohlstand leben, doch gibt es weder einen funktionierenden Rechtsstaat noch ein Bewusstsein für Gemeinwohl. Jenseits der korrupten Politikerkaste haben die “traditional ruler” das Sagen. Hier herrschen uralte Rivalitäten zwischen den Ethnien des Vielvölkerstaates, zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen, zwischen sesshaften Farmern und über Staatsgrenzen wandernden Viehhirten. Dazu kommt in zwölf der nördlichen, von insgesamt 36 Bundesstaaten das Scharia-Recht, das die Christen diskriminiert.
Den Begriff “Christenverfolgung“ lehnt der Vorsitzende der Nigerianischen Bischofskonferenz, Erzbischof Ignatius Kaigama, in diesem Zusammenhang ab. Die Scharia habe Misstrauen und Hass gesät, leugne das Recht auf freie Religionsausübung und diskriminiere die Christen. Ja, da gebe es manches Problem, doch viel schlimmer sei der Terror von Boko Haram, und der habe nichts mit der Religion zu tun, so Kaigama. Wie viele andere Kirchenvertreter ist auch der Erzbischof von Jos überzeugt, dass Boko Haram als Terrororganisation betrachtet werden müsse: “Je mehr wir von einem religiösen Krieg zwischen Christen und Muslimen sprechen, desto grösser lassen wir das Problem werden.”
Kaigama weiss, wovon er spricht: In seiner Bischofsstadt Jos eskaliert die Gewalt bereits seit zwölf Jahren. Zunächst gingen einheimische Muslime auf ihre christlichen Nachbarn los und fackelten ihre Häuser ab, bis der Bezirk rund um die Kathedrale ohne Christen war. Im Vorjahr schliesslich raste ein Selbstmordattentäter von Boko Haram am Sonntagvormittag in die Menge der Kirchgänger vor der Pfarrei St. Finbarr. Schreckliche Szenen schildert Father Peter, der Pfarrer: Körperteile flogen durch die Luft, Menschen wurden zerfetzt, die Fassaden der Nachbarhäuser barsten. “Seit 2002 hatten wir kein Weihnachtsfest ohne Gewalt”, sagt Emmanuel, der damals seinen Schwiegervater und insgesamt bereits sechs Angehörige verlor. “Da wird die Religion für politische Zwecke missbraucht”, ist der Katholik überzeugt.
Ähnliches spielte sich am Weihnachtsabend 2011 in Madalla, nahe der Hauptstadt Abuja ab. Auch hier detonierte eine Autobombe ganz nahe der St. Theresa-Kirche, riss 44 Menschen in den Tod. Erschütterndes wissen die Hinterbliebenen zu erzählen, Schreckliches die schwerverletzten Opfer des Anschlags. Doch immer wieder ist von Verzeihen die Rede, und davon, wie der Glaube dabei hilft, weiterzuleben. Zwischen der Kirche und den Gräbern der Terror-Opfer liegt die kirchliche Schule. Mädchen und Burschen in violetter Schuluniform spielen im Schutz der Pfarrei sorglos und fröhlich Volleyball.
Zurück in der Hauptstadt Abuja: Der katholische Priester George Ehusani, einst Generalsekretär der Nigerianischen Bischofskonferenz und nun Gründer der “Leadership Foundation”, und der Sprecher des “Islamic Education Trust”, Muhammad Nuruddeen Lemu, diskutieren im grössten Privat-Fernsehen des Landes über Gott, das Böse und das Leid. Sie kennen einander bereits gut, haben vor Millionenpublikum in Fernsehen und Radio über die unterschiedlichsten Aspekte des Glaubens und des Zusammenlebens verschiedener Religionen gesprochen. Zwei fromme Vertreter ihrer Religion, die schlagfertig aus Bibel und Koran zitieren, die einander mögen – und das Gemeinsame suchen, nicht den Widerspruch. “Wir wollen voneinander lernen”, sagt Lemu anschliessend. Es brauche Zeit, um das Misstrauen in der Gesellschaft zu überwinden.
Lemu und Ehusani sind überzeugt, dass Boko Haram nichts mit Religion zu tun hat. “Man hat daraus eine religiöse Frage gemacht, denn es ist viel leichter, Unterstützung zu bekommen, wenn man etwas als religiöses Problem darstellt”, sagt Lemu. Das aber sei ein Missbrauch der Religion, denn tatsächlich gehe es um politische, rechtliche und soziale Fragen. Und offenbar auch um psychologische, denn Lemu hat festgestellt, dass Gewalt überall dort eskaliert, wo eine ethnische oder religiöse Minderheit erfolgreicher ist und besser lebt als die Mehrheitsbevölkerung. Abdul-Hakeem Ajijola, ein muslimischer Intellektueller, der die Diskussionssendungen moderiert, meint im Gespräch, dass die neuen, ungebildeten “Facebook-Imame”, die im Internet ihre skurrilen Ideen verbreiten, das eigentliche Problem seien. Niemand könne sie kontrollieren oder korrigieren.
Tatsächlich geben sich die offiziellen Repräsentanten des Islam in Nigeria durchaus dialogbereit. Erzbischof Kaigama war mit dem verstorbenen Emir von Wase eng befreundet. Zur Eröffnung seines “Zentrums für Dialog, Versöhnung und Frieden” Ende Januar kamen Christen wie Muslime in grosser Zahl. Hoch im Nordosten des Landes residiert der Sultan von Sokoto, die höchste moralische Autorität des Islam in Westafrika. Obwohl die Kirche dort klein und schwach, der Islam dagegen dominant und mächtig ist, ist der katholische Bischof Matthew Hassan Kukah mit dem Sultan richtig befreundet. Während muslimische Bittsteller zu Füssen des einflussreichen Sultans auf dem Boden sitzen, wird Bischof Kukah mit einer Umarmung begrüsst und darf auf Augenhöhe Platz nehmen. “Wir glauben alle an Gott, aber jeder verehrt ihn auf seine Weise – wo ist da das Problem?”, fragt Sultan Muhammad Saad Abubakar III. lächelnd. Es gebe, so verrät er seinen christlichen Gästen, “viel mehr intra-religiöse als inter-religiöse Probleme”. Etwa mit jener Gruppe, die von anderen “Boko Haram” genannt wird, die als Bewegung islamischer Fundamentalisten begann und im Terror endete. “Das sind Verbrecher!”, sagt auch der Sultan.
Anders als die zahllosen christlichen Sekten, die allerorts aus dem Boden Nigerias wachsen, und anders als die Evangelikalen, hat die katholische Kirche im bevölkerungsreichsten Land Afrikas einen klaren Kurs des Dialogs und der Zusammenarbeit mit dem Islam eingeschlagen. Eine Herkulesaufgabe angesichts des Fanatismus und des Hasses, die aus den Kampfzonen der Kulturen – aus dem fernen Irak wie aus dem nahen Mali – nach Nigeria schwappen. Eine gewaltige Herausforderung auch angesichts der uralten gesellschaftlichen, ethnischen und leider auch religiös kolorierten Ressentiments, die sich immer wieder Bahn brechen. Zugleich aber auch eine Überlebensfrage in diesem religiös so pulsierenden Land, in dem sich – regional höchst ungleich verteilt – jeweils die Hälfte der Einwohner zum Christentum und zum Islam bekennt.
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