Das zerredete Pontifikat
Es hilft alles nichts
Es hilft alles nichts: In einer Woche endet das relativ kurze, aber dennoch grosse Pontifikat von Papst Benedikt XVI., dem deutschen Papst. Wie man ihn im Ausland sah. Voll des Lobes und der Bewunderung. In der Heimat des Papstes war man zurückhaltender. Mehr noch: Man verzerrte und übertönte den genialen Theologen mit kleingeistigen Wortmeldungen. Eine nationale Unfall-Analyse. Von Andreas Püttmann
Die Tagespost, 22. Februar 2013
Von Winston Churchill ist der Satz überliefert, man habe die Deutschen “entweder an der Gurgel oder zu Füssen”. Ganz so extrem erging es “il Papa tedesco” Joseph Ratzinger zwar nicht, doch bekam er gerade in seinem Heimatland zu spüren, wie nah das “Hosianna” und die Geisselung beieinanderliegen können.
Er selbst sprach im März 2009 von “sprungbereiter Feindseligkeit”, die sein Pontifikat spätestens seit der Versöhnungsinitiative gegenüber den Piusbrüdern, beginnend jedoch schon nach der Regensburger Rede 2006 überschattete. So konnte zeitweise der Glanz jener faszinierenden Verbindung von Genie und Güte medial zugedeckt werden, deren die Deutschen sich eigentlich dankbar hätten erfreuen müssen.
Als der seit 500 Jahren erste deutsche Papst auf die Loggia des Petersdoms trat, trafen die hochrangigsten Glückwünsche nicht bei der Bischofskonferenz, sondern im Schloss Bellevue ein: Bundespräsident Horst Köhler berichtete stolz von der Gratulation des polnischen Präsidenten. Schon wenige Jahre später aber fragte ein polnischer Wissenschaftler auf einer internationalen Konferenz seinen deutschen Kollegen: “Was macht Ihr eigentlich mit unserem Papst?” Er meinte nicht Johannes Paul II., den Papst aus Polen. Papst Benedikts Sympathiewerte von anfangs 70 Prozent hatten sich halbiert; in einer Umfrage für den “Spiegel” (Juli 2010): “Wer verkörpert ein Deutschland, wie Sie es sich wünschen?”, wählten aus einer Liste von 23 Prominenten nur 35 Prozent den Pontifex, was Rang 16 bedeutete, nur knapp vor Wolfgang Joop, Mario Barth und Heidi Klum, und hinter Alice Schwarzer (41 Prozent), Stefan Raab (44 Prozent), Günter Grass, Till Schweiger (50 Prozent) und Mezut Özil (52 Prozent), geradezu deklassiert von Christian Wulff (61 Prozent) und Karl-Theodor zu Guttenberg (66 Prozent), Franz Beckenbauer (65 Prozent) und Joachim Löw (82 Prozent), Hape Kerkeling (64 Prozent) und Günther Jauch (84 Prozent). Auch Margot Kässmann, die wenige Monate zuvor schwer alkoholisiert mit einem geheimnisumwitterten Beifahrer eine rote Ampel überfahren hatte, liess den “Mozart der Theologie” deutlich hinter sich (51%).
Doch warum wurde Benedikt XVI. in der deutschen Gesellschaft verkannt, sein Pontifikat jahrelang zerredet zu einer puren Abfolge von “Pleiten, Pech und Pannen”? Als hätte es die tiefsinnigen Enzykliken, die von Christen aller Konfessionen bewunderten Jesus-Bücher, die mit Bravour absolvierten Reisen in so schwierige Länder wie Grossbritannien, Frankreich, die Türkei und den Libanon, die neuen Impulse für den interreligiösen Dialog und philosophische Debatten wie jene über Glaube und Vernunft, Politik und Recht, Religion und Gewalt, die eindrucksvollen Weltjugendtage in Köln, Sydney und Madrid nicht gegeben?
Erstens: Die wohl wichtigste Ursache lässt sich an der Themenstruktur von Medienbeiträgen – insbesondere Talkshows – über die Kirche sowie an Umfragen ablesen: Der durchschnittliche Deutsche verübelt der katholischen Kirche und dem Papst vor allem die strenge Sexualmoral (obwohl die kaum noch gepredigt wird). Hier ist die Konfrontation mit dem Zeitgeist, bei maximaler emotionaler Betroffenheit, am grössten, schon seit “Pillen-Pauls” Zeiten. Dabei hat Benedikt XVI. der Sexualfixierung sicher weniger Vorschub geleistet als der deutsche Katholizismus. Der Papst betonte von Anfang an, der christliche Glaube sei kein blosses System von Geboten und Verboten und mied in seiner Liebes-Enzyklika “Deus caritas est” alle Klischees einer leibfeindlichen Kirche “krückstockschwingender Sittlichkeitsapostel”, obwohl es “eine bequeme Gelegenheit gewesen wäre, im Zuge der Betrachtungen über die richtige, wahre Liebe die falsche und verkehrte zu geisseln, die Schwulenehe und den Kondomgebrauch zu verurteilen und so weiter. Aber der Papst tat nichts dergleichen. Ein bisschen Kulturkritik an der Kommerzialisierung des Sex, das war schon alles, was geboten wurde. (…) Gar nicht pfäffisch, sondern platonisch-antik preist der Papst die heraus- und emporreissende, ekstatische Wirkung der erotischen Liebe, die zwar der ‘Reinigung’ bedarf, aber tatsächlich einen Weg zum Göttlichen eröffnet” (Jan Ross).
Zweitens: Selbst ein tiefsitzender Dissens in der Sexualmoral würde nicht ausreichen, um die Stimmung gegenüber Person und Amtsführung des Papstes zu verderben, käme nicht ein habituelles Element hinzu: eine Geltungsegozentrik, in welcher die eigenen Einsichten und Interessen zum Massstab für das Ganze erhoben und gegen Kirche und Papst ins Feld geführt werden, statt den Konflikt im Forum der persönlichen Gewissensentscheidung auszutragen. Typisches Beispiel: Ein Bundespräsident a.D. unter Niveau, der die kirchliche Legitimation seiner neuen, (vermeintlich) grossen Liebe bei der offiziellen Begrüssung des Papstes als Staatsgast einklagt. Oder ein Theologe, der wegen mangelnder Akzeptanz seiner Homosexualität binnen kurzer Zeit einmal durch das ganze kirchenpolitische Spektrum wandert: gestern noch ultrakonservativer Inquisitor, heute radikal-liberaler Lehramtskritiker.
Solche Egozentrik wird verschärft durch den Wertewandel weg von den Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu individualistischen Selbstverwirklichungswerten. Auch die Zunahme von Einzelkind-Biographien und Single-Haushalten trägt vielleicht dazu bei, dass die Relativierung der eigenen Interessen und Bedürfnisse durch Einübung von Selbstdistanz immer weniger gelingt. So machen sich auch in der Kirche leicht Anspruchsmentalität und zentrifugale Tendenzen breit. Jede Ortskirche hält sich für den Nabel der Welt und muss dann zwangsläufig mit dem Hirtenamt der Einheit in Konflikt geraten. Den skurrilsten Ausdruck fand diese Selbstüberschätzung in der Agentur-Meldung: “‘Wir sind Kirche’ setzt Papst unter Druck”. Alexander Kissler meinte: “Ähnlich ernsthaft wäre eine Schlagzeile der Art, ‘Gemeinderat von Neutraubling fordert Barack Obama zum Rücktritt auf.'”
Drittens: Gelten die ersten beiden Faktoren im Kern für alle westlich-liberalen Wohlstandsgesellschaften – wobei allerdings einige geräuschloser mit Spannungen zwischen Norm und privater Wirklichkeit umzugehen verstehen –, so ist der dritte Faktor spezifisch deutsches Erbe: Als Ursprungsland der Reformation hat Deutschland – auch das katholische – den antirömischen Affekt nachhaltig verinnerlicht. Alle Welt schwadroniert genüsslich von der “Krise der katholischen Kirche” – wie Aussenamts-Staatssekretär Harald Braun im evangelischen “Chrismon” vom 12. Februar –, doch das Siechtum des ausblutenden, binnen zwei Generationen von 43 auf 23 Millionen geschrumpften deutschen Protestantismus mit sonntags durchschnittlich 45 Gläubigen pro Kirchenschiff regt keine Talkshow an und auf. Die evangelischen Kirchenführer sind so handzahm für die kirchenferne Mehrheitsgesellschaft geworden, dass es kein Motiv gibt, sie zu skandalisieren. Missbrauch in Nordelbien? Unbedeutend! Alkoholfahrt einer EKD-Vorsitzenden? Nach Rücktritt Karrierefortsetzung als moralische Autorität und Luther-Botschafterin.
Dass auch im wiedervereinigten Deutschland inzwischen etwas mehr Katholiken als Protestanten leben, ist für die gefühlten Kräfteverhältnisse unerheblich. In einem “Deutschland, protestantisch Vaterland” (Michael Inacker) sind nicht zufällig 9 der 10 wichtigsten CDU-Bundespolitiker – Kabinettsmitglieder, Fraktionschef, Generalsekretär – evangelisch, trotz grosser katholischer Mehrheit unter Parteimitgliedern und Abgeordneten. Im umgekehrten Fall gäbe es darüber mit Sicherheit eine öffentliche Kontroverse. Aber Katholiken kann es gar nicht wenig genug geben.
In diesem Klima können evangelische Kirchenfunktionäre wie Thies Gundlach die katholische Kirche leicht als “angeschlagenen Boxer” karikieren und sich der stärkeren “intellektuellen und positionellen Präsenz” der eigenen Konfession rühmen. Der ökumenische Spielverderber wird trotzdem immer nur die katholische Kirche sein. Allein sie hat zu “liefern”, und ein Papst, der sich – wie in Erfurt – dagegen sträubt und evangelische Aufkündigungen des erreichten ethischen Konsenses dezent kritisiert, wird von Präses Schneider der “Brüskierung” bezichtigt und mit Punktabzug in der öffentlichen Meinung sanktioniert. Dabei sind evangelische Brüskierungen der katholischen Kirche, etwa durch Frau Kässmann, die lautstark “nichts” von Benedikt XVI. erwartete, Arnd Brummers antikatholische Chrismon-Tiraden vor dem Papstbesuch, die Selbstausrufung zur “Konfession der Freiheit” oder die “Feier” der Kirchenspaltung vor 500 Jahren an der Tagesordnung.
Viertens: Mit dem konfessionellen Moment verbindet sich das der Entchristlichung. Die Kirchen schrumpften jüngst unter die 60 Prozent-Marke; in den jüngeren Alterskohorten sind sie bereits minoritär. Der Gottesdienstbesuch aller Kirchenmitglieder liegt unter 10 Prozent. Eine “Schweigespirale” wendet sich gegen das Christlich-Kirchliche, der Bekennermut selbst von Bischöfen verflüchtigt sich, und zwar nicht mehr der sprichwörtliche vor Fürstenthronen, sondern vor TV-Kameras. Es ist fast immer derselbe Weihbischof, der sich noch in die Talkshows traut – um dort zum Beispiel beflissen zu verkünden, dass auch er sich ja verheiratete Priester wünscht. In einem mehrheitlich areligiösen Deutschland kann ein wahrer “Stellvertreter Christi”, der seinen Auftrag noch ernst nimmt, “komme es gelegen oder ungelegen”, schlechterdings nicht mehr reüssieren. Einen transzendenzverdünnten Kulturprotestantismus mit zeitgeistsynchronisierter Moral mag so ein Land als Zivilreligion noch dulden, einen römischen Katholizismus mit strenger Norm und Form nicht mehr.
Fünftens: Dies gilt umso mehr, als sich kaum noch jemand die Mühe macht, sich geistig mit einer Sache ausserhalb seiner eigenen Belange länger auseinanderzusetzen als die zwei Minuten eines TV-Nachrichtenbeitrags oder die wenigen Sätze lang, die man in einer Talkshow zusammenhängend sprechen darf, bevor man von Claudia Roth, Rosa von Praunheim, Heiner Geissler oder dem Vertreter der “Humanistischen Union” unterbrochen wird. Ein Gelehrten-Papst, selbst wenn er so begnadet ist mit einer verständlichen Sprache wie Joseph Ratzinger und sich bereitwillig auch auf die Interviewform einlässt wie er, bedarf der Bereitschaft, sich auf seine Schriften, Predigten und Ansprachen wirklich lernbereit einzulassen. Wie viele Deutsche, die sich ein Urteil über ihn zutrauen, haben “Spe salvi”, “Jesus von Nazareth” oder die Reden der letzten Deutschlandreise gelesen? Längst leben wir geistig in einer Häppchen-Kultur, in der sich gebildete Menschen kaum noch entfalten können – ausser in einigen akademischen Residuen, und auch dort immer weniger, von weiten Teilen der katholischen Erwachsenenbildung ganz zu schweigen. Selbst ein Inhaber der Regensburger Joseph-Ratzinger-Gastprofessur, ZdK-Mitglied Hans Joas, setzte jüngst in einer Jesuitenzeitschrift die empirisch ignorante These in die Welt, es sei gar kein Moralverfall erkennbar, und wenn doch, hänge er bestimmt nicht mit der Säkularisierung zusammen. Anders gesagt: Es geht auch ohne uns ganz gut, “Salz der Erde” hin, “Licht der Welt” her. Wer solches Personal vor Ort hat, der kann noch so oft von Rom nach Deutschland reisen und noch so viele Bücher dort verkaufen, seine geistige Wirkung wird aufs Erste recht begrenzt bleiben.
Sechstens: Selbst diejenigen, die sich als die grössten Bewunderer Benedikts auf Erden wähnen und schon frühzeitig herausposaunten, er werde “Deutschland verändern”, bieten deshalb noch lange keine Gewähr, ihm wirklich hilfreich gewesen zu sein. Wer heute ohnehin “schwer vermittelbare” Botschaften auch noch in plumper Sprache, rigoristischer Zuspitzung oder selbstgefälligem Habitus vertritt, wie dies mancher Paradekatholik im Brustton des Papstkenners pflegte, der könnte Benedikt XVI. am Ende mehr diskreditiert als auf seine Einsichten neugierig gemacht haben. Vermutlich haben manche Auftritte von “Papstverstehern” die vom Pontifex bei Skeptikern einen Spalt weit geöffneten Türen wieder krachend zugestossen. Jedenfalls sollten sich alle deutschen Katholiken selbstkritisch fragen, welchen Beitrag sie zur mangelhaften Resonanz eines insgesamt grossen, bewegenden Pontifikats in Deutschland geleistet haben könnten. Doch auch ohne die “hausgemachten” Ursachen gibt es, wie gezeigt, genug strukturelle Schwierigkeiten und Widerstände, auf die Benedikt XVI. in seiner Heimat stossen musste und durch die der Sturm um das “Schifflein Petri” gleichsam vorprogrammiert war. Am wenigsten sind es Defizite Josef Ratzingers selbst, die seine Mission behinderten. Dass er in der Achtung höher dasteht als seine Kirche – schon vor der Rücktrittsankündigung, die die Stimmung wendete –, und dass die Zustimmung der deutschen Katholiken zur “Rolle des Papstes” von 34 Prozent 2002 auf 49 Prozent 2009 stark gestiegen ist, weist auf einen Benedikt-Bonus hin, der den deutschen Katholiken in Zukunft fehlen wird.
Der zierliche, betagte Bayer hat sich angesichts der Mühlsteine antikatholischer Ressentiments und antirömischen Affekts in den letzten acht Jahren wie ein Herkules für Glaube und Kirche ins Zeug gelegt. Er hat apriorische Belastungen durch den Zauber seines Zeugnisses ein gutes Stück weit ausgeglichen – und vor allem ein Vorurteil aus der Welt geschafft: Dass Katholischsein nur etwas für geistig Beschränkte, miesepetrige Sittenwächter sei. “Habt keine Angst vor Christus! Er nimmt nichts, und er gibt alles. Wer sich ihm gibt, der erhält alles hundertfach zurück”, hat er in seiner ersten grossen Predigt den jungen Leuten zugerufen. Mit seiner begnadeten, klugen und einladenden Rede von Gott und mit dem gütig lächelnden Gesicht eines Christus-Zeugen wird Benedikt XVI. in die Geschichte der Kirche eingehen.
Über den “grauen Nörgelton” (Heinz Joachim Fischer) grosser Teile des katholischen Deutschlands aber könnten künftige Generationen sagen: “Doch die Seinen nahmen ihn nicht auf.” So tat Erzbischof Zollitsch in seiner Würdigung des scheidenden Pontifex gut daran, “um Verzeihung” zu bitten “für alle Fehler, die vielleicht aus dem Raum der Kirche in Deutschland ihm gegenüber begangen wurden”; der Papst habe “in der Nachfolge Christi auch Anfeindung und Unrecht getragen”.
Dass dabei auch seine Seele versehrt worden sein dürfte, was wiederum zum Schwinden seiner körperlichen Kräfte beigetragen haben wird, ist eine bittere Ahnung.
Sie sollte in der Fastenzeit Anlass zu Reue und Busse geben.
‘Alles ist sehr menschlich’
Leere Bänke – Neue Wege
Von Rom nach Köln
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