Von Rom nach Köln

Seltene Gnaden

Zu den seltenen Gnaden unserer in historischem Massstab kurz erscheinenden Lebensspanne gehört die Erfahrung, dass jahrzehntelang reproduzierte kollektive Irrtümer und Irrwege plötzlich als solche offenkundig werden, und dass die wenigen, welche den breiten Trampelpfad falscher Klischees und fixer Ideen frühzeitig verliessen oder mutig zu verstellen suchten, endlich eine Art Genugtuung erfahren. Diese ist dann allerdings meist nur innerlich und nicht öffentlich, weil die Verwirrer und Verwirrten der bislang herrschenden Meinung ihre Irrtümer vor anderen und oft auch vor sich selbst mitnichten eingestehen –dafür fehlt es an Demut –, sondern sich wendehälsisch herausreden oder herausschweigen und einfach einstimmen in den neuen common sense. Devise: “Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von gestern”. Leicht finden sich Rationalisierungen, welche die alte und die neue Sicht der Dinge aus der”kognitiven Dissonanz” befreien und irgendwie kompatibel erscheinen lassen.

Ein eindrückliches Beispiel bot vor 15 Jahren das Ende der DDR. Viel war damals von den „Wendehälsen“ im Osten die Rede, während die Schönfärber und Helfershelfer des SED-Regimes im Westen im Windschatten einer Stasifixierten Vergangenheitsbewältigung glimpflich davon kamen. Der massenhafte intellektuelle Verrat an „Einigkeit und Recht und Freiheit“ aller Deutschen blieb weitgehend ungesühnt. SPD-Politiker, welche die Rede von der Wiedervereinigung noch wenige Jahre zuvor als „geistige Umweltverschmutzung“ beschimpft hatten, erklärten flugs: „Nun wächst zusammen was zusammen gehört“, und schon war man vom Verräter an der Deutschen Einheit zu ihrem Protagonisten mutiert. Der Schmusekurs gegenüber Politbüro-Bonzen wurde apologetisch zur systematischen Vorbereitung ihres Sturzes hingebogen. Hamburger Edeljournalisten, welche der DDR Bevölkerung noch kurz vor der Revolution eine „stille Verehrung“ (DIE ZEIT) für Honecker angedichtet hatten und die Mauerschützen- und Haftverbrechen ignorierten, spielten sich plötzlich als Fürsprecher der Bürgerrechtler auf. Gerhard Löwenthal, der das SED-Unrecht in seinem „ZDF-Magazin“ jahrzehntelang publizistisch angeprangert und praktische Hilfe für politische Gefangene geleistet hatte, war wider Erwarten nicht der Held der Stunde. Salonfähiger blieben Gaus, Bahr und Co.

Wojtyla und Ratzinger: Feindbilder der „Konzilsgeist“-Schwärmer

Menschliche Muster dieser „Wende“-Beobachtungen findet man anno 2005 auch in der katholischen Kirchenszene wieder. Jahrzehntelang herrschte hierzulande die Meinung vor, die „deutsche Kirche“ müsse sich von Rom emanzipieren, erst recht, als ein theologisch konservativer Pole den Stuhl Petri bestieg. Das von politischem Wohlwollen gespeiste Ansehen Karol Wojtylas als Inspirator und Schutzpatron der „Solidarnosc“ sank in Deutschland parallel zur Entfaltung seiner moralischen Lehre und kircheninternen Regierungsweise. Für diesen Papst, der angeblich „hinter das Zweite Vatikanische Konzil zurück“ wollte, entschuldigten sich Katholiken beflissen im Gespräch über ihre Kirche, statt sich für ihn einzusetzen. Dagegen wurden Drewermann (der inzwischen für die PDS wirbt) und Küng, ja selbst Uta Ranke-Heinemann von den Medien und im kirchlichen Binnenmilieu hofiert. Das Prädikat „Kirchenkritiker“ geriet zum Sesam-öffne-dich der Medienpräsenz und zum sichersten Weg, einen Stammplatz im sexualgeschwätzigen Talkshow-Zirkus zu ergattern. Marxistisch angehauchte „Befreiungstheologie“, „Kirche von unten“ und allerlei „Reform“- Begehren, die de facto auf eine Protestantisierung der katholischen Kirche hinausliefen, waren „in“. Rom, der „Heilige Vater“ (welche Anmaßung schon der Titel!), die „Amtskirche“ (eine exklusiv deutsche Wortschöpfung), die Kirchendisziplin („römischer Zentralismus“!) und nahezu jeder überlieferte Inhalt des Sechsten Gebots („Körperfeindlichkeit“!) waren „out“, verpönt. Johannes XXIII. wurde als Reform- und Friedenspapst unentwegt als positive Ikone – natürlich gegen Johannes-Paul II. – gepriesen. Übrigens ganz im Gegensatz zur Einschätzung Adenauers, des Ersten unter „unseren Besten“, welcher nach einer Audienz beim Lieblingspapst der zeitgeistsynchronen Anpassungspartei einem Vertrauten respektlos zubrummte: „Der Kerl sieht mich nie wieder“.Schlimmer noch als Wojtyla war sein Ratzinger, welcher als Verräter seiner reformerischen Anfänge zum gefallenen Engel der „Konzilsgeist“-Schwärmer ohne Konzilstextbezug avancierte. Der schon von Johannes XXIII. und Paul VI. hoch geschätzte1 Bayer, dessen bloßer Name schon lautmalerisch die Schärfe und Härte seiner theologischen Kriteriologie zu intonieren schien, die wie eine Mähmaschine durch die bunte Pracht von Unkraut und Weizen unserer Universitäts- und Bildungswerks-Theologie ratterte („ratzerte“) und sogar den unfehlbaren Küng „ratz-fatz“ niederstreckte, wurde nun klischeehaft zum Fortsetzer der Inquisition stilisiert, zum „Panzerkardinal“, zum verstockt reaktionären Doktrinär und bösen Geist des Polen-Regiments.

Das kleine Häuflein bewusst und bekennermutig romtreuer Katholiken wurde im deutsch-katholischen juste milieu, speziell in den Laiengremien und Seelsorgeapparaten der meisten Diözesen systematisch ausgegrenzt, majorisiert und notfalls auch regelrecht gemobbt. Den Leiter der Glaubenskongregation, den ein Bericht – nicht Kommentar – der ARD-„Tagesthemen“ wie selbstverständlich als „ fundamentalistischen Kardinal Joseph Ratzinger“ (Johanna Holzhauer) apostrophieren konnte, öffentlich zu bewundern oder zu verteidigen, disqualifizierte für nahezu alle kirchlichen Ämter – vom ZdK-Sitz bis zu vakanten Bischofsstühlen in Diözesen, wo ein Domkapitel wählte. „Ratzinger“, dessen theologisches Programm „in Deutschland immer fremder, ja angefeindet, – schlimmer noch für einen Intellektuellen – überhaupt nicht verstanden“ wurde, avancierte „bei manchen deutschen Katholiken zum Schimpfwort; wer ihn zu erklären versuchte, wurde gleich mit abgelehnt“2. Und – in der Irrtumsgeschichte nicht zu vergessen! – über die neu begründeten „Weltjugendtage“ mit dem Papst rümpften deutsche BdkJ-Funktionäre samt ihrer geistlichen Leitung nur die Nase.

Erneuerter Respekt vor der „Weltmacht Vatikan“ und dem leidenden Papst

Der Zusammenbruch des Kommunismus von Managua bis Moskau versetzte den etablierten antirömischen Klischees, der deutschen „theological correctness“ einen ersten Schlag, denn der Nimbus der marxistisch inspirierten südamerikanischen „Befreiungstheologie“, deren Aktivisten von deutschen Theologen wie Jürgen Moltmann oder Johann Baptist Metz unterrichtet und unterstützt worden waren, zerbröselte schnell – ein Sieg Joseph Ratzingers: „Die Geschichte hat ihm Recht gegeben“3. Michail Gorbatschow, der damalige „Lieblingsdiktator der Deutschen“ (Josef Isensee), trat öffentlich als Kronzeuge für die historisch-politische Leistung Johannes-Pauls II. auf, und der angeblich so „rechtskonservative“ Papst warnte nun vernehmbarer vor den Gefahren eines entfesselten Kapitalismus. Als schließlich auch noch sein körperliches Leiden und sein tapferer Umgang damit immer sichtbarer wurde, wuchs die Beißhemmung gegenüber der Person des Pontifex und wich einem teilweise heuchlerischen Mitleid, das „dem armen alten Mann“ durch Rücktritt einen „ruhigeren Lebensabend“ wünschte. Tatsächlich ging es dabei mehr um die Chance zur Realisierung der eigenen „Kirchenträume“ und darum, mit der Existenz eines pensionierten Papstes dem Amt des Stellvertreters Christi auf Erden im Interesse der Ökumene etwas von seiner transzendenten Aura zu nehmen. Doch der unbeirrbare Leidensmann auf dem Stuhl Petri verzehrte sich bis zuletzt in seinem Dienst und schenkte der Welt mit seinem frommen und liebevollen Sterben im Amt noch ein unvergessliches Zeugnis menschlicher Würde und tiefgläubiger Imitatio Christi.

Den letzten Schliff hatte dem Imagewandel zuvor noch des Papstes Einspruch gegen den Irak-Krieg gegeben, welcher übrigens die amerikanische Politik, die jeden Anschein eines christlichen „Kreuzzuges“ vermeiden musste, an ihrem heikelsten Schwachpunkt flankierte. Dadurch leistete Johannes Paul II. der US- Strategie den denkbar besten Dienst. So dialektisch dachten die pazifistischen Kriegsgegner allerdings nicht, und im Ergebnis ließ sich der Papst sogar noch in Petra Roths schlichte politisch-moralische Positiv-Kategorien einordnen. Die Haltung zum Irak-Krieg war so sehr zum Lackmus-Test des Gutmenschentums stilisiert worden, dass dies sogar eine abgewirtschaftete Regierung noch vor der Abwahl gerettet hatte. Dass der polnische Papst, ehedem Ronald Reagans Verbündeter beim Niederringen des Kommunismus, nun gegen George Bushs Irak-Feldzug opponierte, rehabilitierte ihn sogar bei jenen, welche das konsequente vatikanische Veto gegen die Verwicklung der Kirche ins hiesige Schlachtfeld der Massenabtreibung wütend als eine Art „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ Deutschlands und seiner Katholiken angeprangert hatten. Doch dies alles schien nun vergeben, wo auch der Papst „für den Frieden“, und erst recht, als er in Frieden entschlafen war.

Das eindrucksvolle Leiden und Sterben des vom sensus fidelium „subito santo“ gesprochenen Johannes-Paul II. war der zweite schwere Schlag für die herrschende antirömische Partei im deutschen Katholizismus. Zur „Weltmacht Vatikan“ (DIE WELT) zu gehören, war plötzlich wieder „in“. Zu wem Millionen pilgern und bis zur völligen Erschöpfung 17 Stunden lang Schlange stehen, vor wessen Leichnam sogar drei (protestantische) Präsidenten der Supermacht USA auf die Knie gehen und islamische Potentaten das Haupt neigen, für den als „Familienoberhaupt“ braucht man sich plötzlich gar nicht mehr zu schämen. „Wir sind wieder wer“ – Teil 1.

Die Woge der Sympathie und Ehrerbietung über Kontinente, Kirchen- und Religionsgrenzen hinweg hätte die notorischen Kritiker im eigenen Haus, die der Volksmund für gewöhnlich „Nestbeschmutzer“ schimpft und Lenin in seiner Revolutionstheorie „nützliche Idioten“4, eigentlich beschämen müssen. Doch für die nötige kritische Selbstbesinnung blieb kaum Zeit, da eine kirchenfremde Journaille sogar die offen oder subtil antirömischen „Reformkatholiken“ plötzlich – dem Papst sei Dank – in ungekannte und unverdiente Medienprominenz katapultierten und zu authentischen Vertretern ihrer Kirche promovierten. Etwas vom Glanz Johannes Pauls II. fiel nun unversehens auch auf einen Hans-Joachim Meyer oder die ungehorsame Rita Waschbüsch („Donum Vitae“), auf Kirchenjournalisten, welche sich als Aschenputtel ihres Berufsstandes bislang eher verschämt oder beflissen kirchenkritisch in Mimikry übten, auf PID-Verfechter Jürgen Rüttgers, welcher nun mitten im Wahlkampf so mutig katholisch wurde, dass er in Friedmanns Falle tappte und das christliche Menschenbild für „überlegen“ erklärte. Alt-68er und frühere Straßenkämpfer kehrten ihre katholischen Wurzeln heraus, linke Salonliteraten bekannten sich zu ihrer Messdiener-Vergangenheit und Spitzenprotestanten wie Bischof Huber und Antje Vollmer verteidigten den Papst sogar gegen innerkatholische Kritikaster wie Geißler und Co. Selbst DER SPIEGEL verneigte sich vor dem „Jahrtausend-Papst auf dem Weg in die Unsterblichkeit“ und DIE ZEIT titelte schlicht, melancholisch und besorgt: „Ohne Ihn“. Kurzum: „Alle Medien wurden jäh katholisch“5.

„Eminentissimum e reverendissimum cardinalem“: Das Votum der Weltkirche

Dieser mächtigen Welle der Sympathie und Ehrerbietung konnte sich die antirömische Partei des deutschen Funktionärs- und Kathederkatholizmus nicht entgegenstellen; sie musste versuchen auf ihr zu reiten. Die Aufmerksamkeits- Gratifikation war verlockend. Nur ein kleines Häuflein von hardcore- Antipapisten wie Hasenhüttl, Drewermann und Küng ließen sich wieder mal von Kurzzeit-Kirchenexpert(inn)en wie Sabine Christiansen oder Heiner Bremer zu verbiesterten Statements in Talkshows herumreichen, welche allerdings gegen die wuchtigen Bilder und Worte der Liveübertragungen aus Rom, Polen und aller Welt geradezu grotesk wirkten, anachronistisch bis zum Surrealismus.
Küng glich fast schon einem Fidel Castro im politischen Kosmos: ein Mann, überzeugt von sich selbst, mit gewissen früheren Verdiensten und ergrauenden Getreuen, aber doch offenkundig nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Dagegen traf Kardinal Ratzinger beim Requiem für Johannes-Paul II. einfühlsam und inhaltlich tief und dicht genau die richtige Botschaft und den richtigen Ton. Seine Predigt wurde mehrfach durch Beifall unterbrochen. Kein Zweifel: Hier sprach der kongeniale Partner und legitime Nachfolger eines Verstorbenen, welcher sicher mit Wohlgefallen vom „Fenster seiner himmlischen Wohnung“ aus seinen Ratzinger auf dem Petersplatz die Hirtensorge um die verwaiste Herde übernehmen sah.

Doch durch die profane Brille betrachtet: zu alt dieser 78jährige; dazu ein Deutscher; eher Wissenschaftler als charismatischer Führer; ein profilierter, polarisierender Konservativer – durch all das schied er bei vernünftiger Betrachtung als Pontifex eigentlich aus. Erst recht, nachdem er in den Medien von interessierter Seite zum Favoriten hochgespielt worden war, wohl um seine Chancen zu mindern: Denn wer als Papst ins Konklave ging, kam bekanntlich als Kardinal wieder heraus. Auch Ratzingers Predigt vorm Einzug in die Sixtinische Kapelle schien nicht geeignet, die verschiedenen Strömungen im Kollegium konsensbemüht hinter sich zu sammeln, wie es mancher „Bürgermeister-Typ“ unter den Bischöfen wohl bevorzugt hätte. Nein, hier sprach ganz der alte, berüchtigte Protagonist der Unterscheidung und des Konflikts mit dem Geist der Zeit und mit der Anpasserpartei in der Kirche.

Doch „meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr, sondern so viel der Himmel höher ist als dieErde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken höher als eure Gedanken“ (Jes 55,8). Und so kam es aus deutsch-katholischer, verhandlungsökumenischer, feministischer und sexual-libertärer Sicht zum kirchenpolitischen Supergau: „Annuntio vobis gaudium magnum: Habemus Papam, (Beifall) dominum Josephum (Kunstpause), eminentissimum e reverendissimum cardinalem Ratzinger!“ Die Vertreter der Weltkirche hatten also nicht die Italiener Martini oder Tettamanzi, nicht einen Südamerikaner, sondern – mit eindrucksvoller Mehrheit und Schnelligkeit – den „strengen Glaubenswächter“ zum neuen Stellvertreter Christi auf Erden gewählt. Zu allem Überfluss gewissermaßen auch noch einen von uns – im Sinne der schier unverwüstlichen nationalen Identität. „Wir sind Papst“ (BILD) – also: „Wir sind wieder wer“, Teil 2. Die dritte Widerlegung der „kritischen Katholiken“. Hunderttausende auf dem Petersplatz bis hoch in die Via della Conciliazione jubelten „il Papa tedesco“, der ja längst ein Römer war, begeistert zu, und in den Schrecken seiner deutschen Problemkinder mischte sich hier und da wohl klammheimlich, beim formidablen Bundespräsidenten sogar ausdrücklich „ein wenig Stolz“. Gratulationen aus aller Welt, zuerst vom polnischen Staatspräsidenten, trafen ein. Da half den notorisch Romverdrossenen nur noch: gute Miene zum bösen Spiel machen!

Die argumentativen Verrenkungen widerlegter Wendehälse

Strohhalme, an die man sich klammerte: die unbestreitbare Intelligenz des weltweit gelesenen vielfachen Buchautors und gefragten Vortragsredners, welche eine Rest-Hoffnung auf Korrekturfähigkeit ließ; die reformerische Vergangenheit als Konzilstheologe; das Renommé selbst bei atheistischen Starphilosophen wie Habermas; die Herkunft aus dem Land und die Vertrautheit mit den Kirchen der Reformation – aber da stockte schon der Atem: Hatte nicht Ratzinger die Evangelischen stets nur als „kirchliche Gemeinschaften“ gelten lassen? Einen letzten Ausweg aus der Zwickmühle, nun zugleich gegen und doch irgendwie für diesen Mann sein zu müssen, bot seine Kommunionspendung an Frère Roger. Dass dieser nur noch aus Ordens-Raison offiziell protestantisch und in pectore, zumal beim Eucharistieverständnis, mit Wissen des Kardinals wohl längst katholisch war, durfte man aus Gründen der ökumenischen Korrektheit – und des angebrachten Respekts vor dem religiösen forum internum – ja nicht laut sagen. Nicht einmal aus dem später von Kurienkardinal Kasper zelebrierten katholischen Requiem für Roger Schutz wurde öffentlich der korrekte Schluss gezogen 6.

Das strategische Arsenal zur Auflösung der kognitiven Dissonanz war durchaus vielfältig: Da konnte man zwischen einem Ratzinger eins, zwei und (hoffentlich) drei unterscheiden; den Panzerkardinal nur als Verkörperung seines bisherigen Amtes verstehen, in dem er quasi nicht anders konnte; seinen brillanten Intellekt loben – um seiner Unterscheidung der Geister dann doch nicht zu folgen; ihn nur zum „Übergangspapst“ und damit zur kirchengeschichtlichen quantité négligable erklären; seine persönliche Bescheidenheit anerkennen, um seine Arbeit für die Kirche nicht wertschätzen zu müssen; oder schlicht auf die 100- Tage-Frist verweisen, die jedem in einem neuen Amt zustehe. Damit waren die noch halb schockierten, halb verlegenen Kirchennörgler deutscher Zunge erst einmal aus der argumentativen Bedrouille. Stattdessen einfach davon auszugehen, dass eben doch der Heilige Geist im Konklave geweht habe, hätte bedeutet, jahrzehntelange eigene Fehleinschätzungen eingestehen zu müssen, sich selbst und den anderen. Aber an den Heiligen Geist im Konklave glaubt der gewöhnliche Ratzinger-Gegner wahrscheinlich eh nicht. Das ist ja Teil seines Problems.

Benedikt ante portas: Unkenrufe der „üblichen Verdächtigen“

Kaum waren die ersten hundert Tage des neuen Pontifikats vorbei, stand der Weltjugendtag in Köln an. Um „falsch positiven“ Eindrücken vorzubeugen, stimmte DER SPIEGEL mit einer ausgiebigen Meisner-Beschimpfung („Der Gotteskrieger vom Rhein“) und dann mit einer Bloßstellung der Gläubigen als schrumpfender, zunehmend irrelevanter Minderheit im Lande in gewohnt hämischer Manier auf die erwartete katholische Heerschau ein: Der Papst, „ein 78jähriger Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie, der die letzten 23 Jahre im stillen Gespräch mit jahrhundertealten Dogmen, Enzykliken und Episteln verbracht hat“, komme bei den jungen Leuten „nicht so gut an“; „Wärme ging von ihm nicht aus“; „Seine Mittwochsansprachen auf dem Petersplatz sind theologische Oberseminare, Predigten, an deren Ende man kein Amen, sondern eine Liste der Fußnoten erwartet“. Einen „deutschen Kardinal“ – viel Auswahl besteht nicht – zitierte das linke Leitmedium anonym mit dem Lästerwort: „Wir wussten bis dahin ja nicht, dass er überhaupt die Arme heben konnte.“ – Da scheint es wohl einer der Konklaveteilnehmer nicht so genau zu nehmen mit jener „treuen Begleitung“ und „Hilfe“, die Kardinal Lehmann dem Nachfolger Petri im Grußwort bei der symbolträchtigen Schifffahrt auf dem Rhein und zum Abschied im Kölner Priesterseminar im Hinblick auf Bonifatius versprach, „der gerade die Gemeinschaft mit dem Papst zur obersten Richtschnur seines kirchlichen Handelns machte. Wir wollen ihm dabei gerne folgen“7.

Umso selbstgewisser unkten die SPIEGEL-Redakteure: „Ausgerechnet dieser Papst soll nun die Jugend auf dem Weltjugendtag begeistern, ihren Glauben stärken und sie näher an die Kirche binden. Im Vatikan gilt Deutschland als verlorenes Land. (…) Weit weniger Jugendliche als gedacht reisten in die deutschen Provinzen. In manchen Messen wurde in den Fürbitten schon jener Gemeinden gedacht, die keinen Jugendlichen abbekommen hatten. Die Angst geht um, dass auch Köln eine Pleite werden könnte“ 8. Angeblich schwache Anmeldezahlen, insbesondere aus Polen (das nach der Völkerwanderung zum verstorbenen Pontifex in Rom nur 4.7 Prozent der Teilnehmer stellte), wurden auch in anderen Medien begierig breit getreten. Die Süddeutsche Zeitung erinnerte an die „Zerrüttungsgeschichte zwischen den Deutschen und ihrem Papst“, von dem „man einen Rückfall ins Mittelalter“ befürchtete; „dem Flugzeug, das am kommenden Donnerstag um zwölf Uhr mittags in Köln landen soll, wird ein Pontifex entsteigen, der zurückkehrt ins Land seiner Widersacher“9. Da sei das atheistische Aktionskomitee, das unter dem Motto „Heidenspaß statt Höllenqual“ zur öffentlichen „Enttaufungszeremonie“ einlade, noch das geringste Problem. In der Tat: Am Ende der als Demonstration angemeldeten „Kirchenaustrittsparty“ am Justizzentrum waren ganze 15 Kölner Katholiken ausgetreten – und fünf Protestanten gleich mit. Zwei Rechtspfleger taten Dienst; mehr Einsatz war wegen des „sehr überschaubaren Bedarfs“ – so Amtsgerichtssprecher Mannebeck – nicht erforderlich 10.

Während mancher Kirchengegner hoffte, in Köln werde offenkundig, dass der filigrane Startheologe als Hirte doch nicht in die großen Schuhe seines schauspielerisch begabten, charismatischen Vorgängers passe, orakelte die unvermeidliche Uta Ranke-Heinemann in vollendetem Realitätsverlust beim „Deutschlandradio Kultur“: „Ich halte es für möglich, dass dieser erste deutsche Papst 500 Jahre nach Luther im Lande  Luthers den Zölibat aufhebt. Ratzinger ist einer, der sich belehren lässt – er ist ein Gelehrter. Das unterscheidet ihn total von Johannes Paul II.“. Doch auch diesen allenthalben konzedierten Vorzug Benedikt wusste Eugen Drewermann ins Negative zu wenden: Zwar sei Ratzinger „zweifellos geistig reflektierter. Er wird nicht einfach zu der simplen Sprache neigen, die sein Vorgänger gepflegt hat – aber heraus kommt dabei allemal dasselbe. (…) Der Intellekt ist so viel wie ein guter Hund, den Sie ausschicken können, irgendeinen versteckten Knochen auszubuddeln. Er wird im Grunde hinter jedem Befehl herspringen. Das erklärt beispielsweise die Fügsamkeit gerade der intellektuellen Eliten unter jeder Diktatur“, ätzte der angeblich katholische Theologe in der „taz“ und nannte die Idee eines „Stellvertreters Christi“ auf Erden „monströs für einen wirklich denkenden Menschen“11.

Welche Jugend dem Papst zujubelte

Doch dann brachte schon des Papstes Ankunft in Deutschland den hämischen Heiden und der antirömischen Kirchenpartei die nächste Niederlage bei. Unser – schon fast obligatorisch protestantisches – Staatsoberhaupt und ein agnostischer Kanzler nebst katholischer Gattin im Dirndl bereiteten dem Landsmann einen ebenso hochachtungsvollen und herzlichen Empfang wie die Bevölkerung und ihre Hunderttausende jugendlichen Gäste, unter denen allein die über 101.000 Italiener ein Viertel der angemeldeten Teilnehmer stellten, die französischen Nachbarn 9.5, die Nordamerikaner 9 und die Spanier 8.5 Prozent. Pilger aus insgesamt 197 Ländern waren vertreten: eine eindrucksvolle Demonstration der Katholizität der Kirche, einer „Globalisierung“ im Geiste Gottes, der Sammlung um den Pontifex Maximus als universalen Hirten. Kilometerlang harrten Menschenmassen an beiden Rheinufern Kölns stundenlang aus, um schließlich einem kleinen weißen Punkt auf dem nahenden Schiff laut und Fahnen schwenkend zuzujubeln, viele hüft- oder gar brusthoch im Wasser stehend, ermuntert durch ein wahres Papst- Wetterwunder: den ersten schönen Sommertag seit Wochen. Ein zweites sollte am Wochenende folgen, als auf dem Marienfeld trotz schlechter Vorhersagen und tief blauer Regenwolken während der Vigil, in der Nacht und am Sonntag kein einziger Tropfen fiel. Ansonsten wäre die an den „Rückzug der Truppen Napoleons“ erinnernde, eine Million starke „Heerschar aus allen Ländern und in allen Sprachen der Welt“12 wohl im Schlamm der entlegenen Industriebrache versunken.

Die Unbill des nach der brennenden Sonne niedergehenden Regens und des feucht-kalten Bodens unter dem Massenschlaflager, der mancherorts fehlenden Essensrationen, der verstopften Bahnhöfe und verpassten Gelegenheiten, einen Blick auf den Papst zu erheischen – all dies dämpft die Stimmung kaum und lässt die Faszination des Glaubens nur noch deutlicher hervortreten. „Wenn Jesus an einem Kreuz sterben kann, können wir auch ein paar Stunden in der Hitze sitzen“, verblüfft Marlene Lauer aus Baltimore (USA) ihren Interviewer13. „Eineinhalb Tage kein Essen, dann zwei Stunden singend zu einem Stadion laufen, in das wir nicht mehr hinein kommen, keine Leinwand auf der Wiese und dann wieder singend zurück – das bringt einen schon zum Nachdenken, was hier eigentlich los ist“, bekennt Tobias aus Speyer, der „eigentlich nur hier (ist), weil ein paar katholische Freunde einfach nicht locker ließen“14. Die Friedlichkeit und Fröhlichkeit dieser Jugend, ihr Feiern ganz ohne Alkohol und Drogen – selbst Zigaretten sah man kaum –, ohne Konsum und Krawall, beeindruckt Journalisten, Taxifahrer, Geschäftsleute und Ordnungshüter. „Im Vergleich zu Karneval und Fußball ist das heute ein Traumjob“, schwärmt ein Polizist am Absperrgitter der Poller Wiesen15. Die Kriminalitätsrate in den rheinischen Metropolen wird lange nicht so niedrig gewesen sein wie in diesen Tagen, als sich die Bevölkerungszahl Kölns zeitweise fast verdoppelte. Und die Zahl der Beichten seit Jahrzehnten nicht so hoch: Tausende von Pilgern bekennen in diesen Tagen ihre Sünden, darunter besonders viele Polen und Südamerikaner. Für die habe das Bußsakrament „eine ganz andere emotionale Ebene“, erklärt der Leiter des Zentrums der Versöhnung in den Messehallen; „das ist eine andere Frömmigkeit“16 – warum nicht einfach „eine größere“? Schließlich ist die Beichte doch wohl „Standard“ frommen Lebenswandels und nicht regionalkirchliches Sondergut, also eine Art Glaubens-Folklore.

Jetzt kann man authentisch erleben, was Wissenschaftlern längst bekannt ist17, aber erst durch Infratest-Umfragen anlässlich des Weltjugendtags einer breiteren Medienöffentlichkeit vorgestellt wurde: wie stark „sich das Wertesystem von Gläubigen und Nichtgläubigen unterscheidet“18. „Besonders wichtig“ empfundene Lebensziele derer, „die auf den Glauben sehr großen Wert legen“ sind „Kinder haben“ (72 Prozent gegenüber 46% derer, „die auf den Glauben überhaupt keinen Wert legen“!), „Heim und Gemütlichkeit“ (71:47), „Umweltbewusstsein“ (70:54), „Disziplin“ (59:47), „Heimatverbundenheit“ (48:30) und „Nationalbewusstsein“ (40:20)19. Eine aktuelle Allensbacher Repräsentativbefragung über das, was jungen Deutschen „im Leben wichtig ist“, ergab: 14-29jährige, welche sich als „religiös“ bekennen, nennen signifikant häufiger als „nicht religiöse“ eine „gute, vielseitige Bildung“ (72 zu 55 Prozent), „immer Neues lernen“ (69:54), „soziale Gerechtigkeit“ (69:52), „Menschen helfen, die in Not geraten“ (69:46), „Kinder haben“ (61:42), „Kreativ sein“ (47:35), „Verantwortung für andere übernehmen“ (43:26), „Auseinandersetzung mit der Sinnfrage“ (45:19), „Naturerfahrungen“ (38:22), „aktive Teilnahme am politischen Leben“ (14:7)20. Wem Menschen mit einem so positiv abstechenden Werteprofil folgen, wer ihnen heilig(er Vater) ist, der muss schon eine große Botschaft verkünden und ein würdiger Bote sein.

Sexualgeschwätzige Medien konstruieren eine Pseudo-Wirklichkeit

Obwohl Papst Benedikt kein Wort über die Sexualmoral verlor und sich vor dem Weltjugendtag in einem viel zitierten Interview von der verbreiteten Idee distanzierte, „Christentum sei eine Menge von Geboten und Verboten, Gesetzen, die man einhalten muss (…) und insofern etwas Mühseliges und Belastendes“, stürzten sich einige Medien wieder begierig auf ein Thema, das bei dem großen Glaubensfest gar keines war. Penetrante Reporter befragten junge Katholikinnen weniger, warum sie an Gott glaubten, als darüber, wieso sie „vor der Ehe auf Sex verzichten wollen. Spätestens hier stößt ihre Unbekümmertheit auf Skepsis oder Unverständnis bei den Fragenden. Schnell werden ihnen Etiketten angeheftet. Da warnen Kommentatoren vor religiösen Hardlinern, Sektierern und Fundamentalisten“22. RTL-Aktuell füllte am Freitag trotz des reichhaltigen Papst-Programms (Gespräch beim Bundespräsidenten, Synagogenbesuch, Seminaristentreffen) die Hälfte seines knappen Berichts mit Interviews zu Kondomen und Sex – und sendete natürlich ausschließlich Antworten, welche die katholische Lehre ablehnten. Entsprechend ging Bundesjugendministerin Renate Schmidt (SPD) bei einer Diskussion mit Jugendlichen von der „Junge Zeiten“-Redaktion des „Kölner Stadt- Anzeiger“ selbstverständlich „mal davon aus, dass auch Sie alle nicht unbedingt mit dem Frauenbild der Kirche einverstanden sind oder mit den Aussagen zur Geburtenkontrolle“23.

Ein altkluger Schnellredner der bis dato kaum in Erscheinung getretenen Kinderabteilung von „Wir sind Kirche“, der zweifellos nicht einmal unter den deutschen Pilgern eine relative Mehrheit der deutschen Pilger repräsentierte, wurde von Sender zu Sender als Stimme der „kritischen“ katholischen Jugend weiter gereicht, während seine Gesinnungsgenossen vor Ort eifrig Kondome verteilten. In Pater Hans Langendörfer bei einer Phoenix-Diskussionsrunde fand er allerdings seinen Meister. Der moderate, bekanntermaßen ebenso ausgeglichene wie ausgleichende Sekretär der Bischofskonferenz machte hier sehr bestimmt und unumwunden klar, dass man auch beim Thema Glaube und Kirche nicht ganz ohne theologische Sachkompetenz daherreden könne. Für den Deutschlandfunk-Kommentator ist das kirchenkritische Sexualgeschwätz längst ein „Fetischkult, ein im Geiste ziemlich schlichter dazu. (…) Als ob jemand, der die Treue nicht achtet, wenigstens vor der Lust brav ans Kondom denkt – ach Gott, es ist auch eine Primitivität in dem, was sich Kritik an der Kirche nennt, dass es einen jammert“24.

Doch auch mancher Kirchenzeitungsredakteur konnte das „Thema Nr. 1“ nicht lassen. So meinte der Chefredakteur der Münsteraner Kirchenzeitung in einem Kommentar zum Weltjugendtag zunächst unterscheiden zu müssen, die Jugend sei „offen für das, was Joseph Ratzinger heute als Papst sagt, statt missmutig seine Präfektenzeit zu bekritteln“25 – als wenn es ausgemachte Sache sei, dass Ratzinger in seinem früheren Dienst nur oder hauptsächlich Missmut bei den jungen Katholiken erweckt haben könne, die ihn nun bejubelten. Hier schloss der Redakteur wohl ebenso leichtfertig von sich selbst auf andere wie in seiner anschließenden Invektive gegen die „fast naive Vorstellung mancher Kirchenoberer, diese zeitweise geradezu beseelt wirkenden jungen Menschen erwarteten keine durchgreifenden Änderungen von ihrer Kirche. ‚Die wollen das klar andere Profil’ lautet der fromme Selbstbetrug, bei dem Überholtes mit Überhöhtem verwechselt wird. Doch alles hat seine Zeit: eine Zeit für Kölsch und Narrenkappe bei der Gabenprozession und eine Zeit für eine Sexualmoral, die (…) Verfehlungen nicht nach Art einer Verkehrssünderkartei staffelt“26.

Hätte der Chefredakteur die Schriftauslegung des Sonntagsevangeliums in derselben Zeitungsausgabe begriffen und verinnerlicht, dann wäre ihm der Pferdefuß seines Denkens vielleicht bewusst geworden: In Mt 16,21-27 wolle Jesus seinen Jüngern „die Unmöglichkeit eines nur bürgerlichen Lebens aus dem Kopf treiben“ und sie zu einem Leben „im Licht des ganz und gar unnormalen Planes Gottes“ ermutigen – also gegen das populäre „sein Leben selbst zu verwirklichen suchen“, erklärte der Hausexeget von „Kirche und Leben“. Und was soll sonst dabei herauskommen, als zum Beispiel der Verzicht auf eine sexuelle „Selbstverwirklichung“ im Verständnishorizont unserer „Normalität“? „Die Botschaft“ auf Seite 2 der Kirchenzeitung sprach also genau für jenes „klar andere Profil“, welches der Chefredakteur auf Seite 1 nebulös als fixe Idee „mancher Kirchenoberer“ und „frommen Selbstbetrug“ denunzierte. Passend zu der subtilen Bevormundung der gar nicht romgrämlich-reformsüchtigen katholischen Weltjugend insinuierte der „Aufmacher“ von Bischof Lettmanns Hausblatt dann auch noch, dass Benedikt XVI. Nachhilfe in Glaubensfreude brauche: „Der Weltjugendtag bezeugt die ermutigende Kraft des Evangeliums und die völkerverbindende Stärke der Christus-Nachfolge (Dachzeile). Junge Glaubensfreude steckt den Papst an (Titel)“. In einer Überschrift zu diesen Kölner Tagen erst im achtzehnten Wort auf den Papst zu kommen, ist eine im gesamten deutschen Blätterwald zweifellos einzigartige Leistung. Wie sehr der Papst tatsächlich im Mittelpunkt des großen Glaubensfestes stand und der Funke eher von ihm auf die Menschen übersprang als umgekehrt, das konnte nur sehr voreingenommenen Beobachtern in einem wirklichen „Selbstbetrug“ entgehen.

„Be-ne-detto“: Charmant, bescheiden, bestimmt

Was die Völker der Welt, die 1 Million Teilnehmer rund 250 Millionen Fernsehzuschauer des Weltjugendtages von Benedikt XVI. sahen und hörten, entsprach weder dem Klischee des reinen „Theoretikers“ oder eingefleischten „Glaubenswächters“ noch dem des „anderen Ratzinger“, des von der Stimmung „Angesteckten“ oder der „Pop-Ikone“ (Renate Schmidt). Der Papst blieb sich 26 Ebd. vielmehr treu und ganz „bei sich“, doch zugleich freundlich zugewandt und aufmerksam zuhörend, liebenswürdig wie er für Kenner schon immer war und eher sparsam in seinen Gesten. Er begrüßte ausdrücklich die Nichtgläubigen, aber kritisierte eine „merkwürdige Gottvergessenheit“ der Gesellschaft, unterschied unbeirrt von Empfindlichkeiten zwischen der Kirche und den (protestantischen) „kirchlichen Gemeinschaften“, nannte den in Deutschland fast schon verfemten Kardinal Meisner demonstrativ seinen „Freund“, ermahnte zur regelmäßigen Teilnahme an der sonntäglichen Messfeier und betonte die Lehre von der „realen Gegenwart des Erlösers der Welt“ in der Eucharistie; er stellte den Weg der persönlichen Leidenschaften dem Weg gegenüber, den der Stern von Bethlehem weist – „eine Alternative von paulinischer Schärfe“ – und warnte, Religion dürfe „kein Markenprodukt“ werden. Die weltliche Presse verstand und titelte: „Der Papst gibt keinen Rabatt“ – und charakterisierte ihn als „charmant, bescheiden, bestimmt“27.

Benedikt spricht immer wieder ehrerbietig von seinem großen Vorgänger, dessen Namensnennung die Jugendlichen stets beklatschten. Er selbst heischt keinen Beifall, lässt im Gegenteil „in seinen Ansprachen kaum Pausen, die durch Jubel gefüllt werden könnten. Schon gar nicht macht er Anstalten, Sprechchöre zu dirigieren, wie es Johannes Paul II. bisweilen gemacht hat. Er hält den Rummel einfach lächelnd aus“28. Die FAZ bringt den wesentlichen Eindruck auf den Punkt: „Seine Schüchternheit, sein Mangel an Geschmeidigkeit waren der sichtbare Ausdruck einer reservatio mentalis gegenüber dem Trubel, den als Event auszurufen nirgends unterlassen wurde, und trugen dazu bei, dass der Eindruck großer persönlicher Würde haften blieb. (…) Persönlich widerstand er der Versuchung, die allenthalben aufgestellte Behauptung seines Charismas einzulösen. Es wurden keine Kinderstirnen geküsst, und es wurde auch nicht geschunkelt zu diesen manchmal ganz grauenhaften Popklängen am Wochenende auf dem Altarhügel. Der theologische Substanzverlust, der damit aus seiner Sicht einhergegangen wäre, dürfte für ihn die größte Gefahr darstellen und nötigte ihn zu jener Reserviertheit, an die eine auf Überschwang und Ekstase versessene Öffentlichkeit nicht mehr gewöhnt ist. Aber gerade dieses Bei-sich-Bleiben erzielte Wirkung und trug wohl auch dazu bei, dass die enormen Massen bei der Vigil am Samstagabend auf dem Marienfeld und der Sonntagsmesse ebendort so still und andächtig wurden, sobald es darauf ankam“. Vielleicht habe gerade in diesem Habitus des Pontifex „das ökumenische Signal“ gelegen, „das Zeichen, dass etwas Protestantisches zum Katholischen gehört“.

Und so antworteten Jugendliche nach der Vigil auf die Frage, ob sie nicht enttäuscht seien: „Nein, dieser Papst ist anders: Johannes Paul hat die Jugend angezogen. Papst Benedikt bearbeitet uns jetzt in der Tiefe“30. Zu diesem Zweck „verabreichte der Papst die reine Essenz des Glaubens, ohne auf dessen Zumutungen, die in der Konsequenz der Lebensführung liegen, konkreter einzugehen. Auch enthielt er sich jeglichen Hinweises auf Politisch- Humanitäres“31. Zu recht, denn wo die vertikale Dimension des Glaubens, Gotteserkenntnis und Gottesliebe stimmt, da stellt sich die horizontale mit ihren Werken der Barmherzigkeit und dem Antrieb zur Gestaltung eines menschenwürdigen Gemeinwesens im Normalfall ganz natürlich ein.

Die Strahlkraft der „Amtskirche“

Werden die romnörglerischen deutschen Kirchenträumer die richtigen Schlüsse ziehen aus dem „dreifachen katholischen Sturzbach“ (Gabriele Kuby), der mit Papstbegräbnis, Papstwahl und Papstbesuch 2005 über die Medien auf die anthropologische Dürre unserer Gesellschaft niederging und die Welt staunen machte? Der kluge Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, erklärte sich fasziniert von der Beobachtung, dass bei vielen jungen Menschen ausgerechnet die eher konservativen Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. eine so hohe Popularität genössen, obwohl sie deren Positionen (oft) nicht (alle) teilten. Offenbar suchten diese Menschen Vorbilder, mit denen sie sich auseinander setzen und an denen sie sich auch reiben könnten. Wäre die Weltkirche in den letzten Jahrzehnten den Ratschlägen und Gravamina der antirömischen deutschen Kirchenpartei gefolgt, dann ähnelte der Katholizismus inzwischen genau jenem Protestantismus, der in Deutschland fast doppelt so viele Kirchenmitglieder durch Austritt verlor und heute mit kaum verhohlener Bewunderung auf die Anziehungskraft der „Papstkirche blickt.

Vor allem katholische Christen äußern wieder zunehmend, die Kirche passe gut in die heutige Zeit: Auf einer Skala von 0 („passt überhaupt nicht“) bis 10 („passt sehr gut“) stieg der Mittelwert der westdeutschen Protestanten seit 1992 wieder an (von 4.5 auf 5.6), jener der Katholiken erst seit 1999, dafür aber rasanter (von 4.8 auf 6.3) – und erreichte damit wieder das Niveau von vor dreißig Jahren32. Das große Ansehen und die Aufmerksamkeit, welche die Päpste der römisch-katholischen Kirche in der Welt verschafft haben, sollte zu denken geben. Der überragende Theologe Joseph Ratzinger faszinierte in Köln „nicht als Benedikt XVI., sondern als Papst. Es ist gar nicht die Person, es ist nicht der sterbliche Nachfolger Petri, es ist eben doch die Institution, es sind die tiefen Wurzeln durch jetzt schon Jahrtausende, es ist die felsenfeste Kirche, die so viele junge Menschen fasziniert, die auch Zukunft verheißt in einer Zeit, in der Politik, staatliche und gesellschaftliche Institutionen keinen Halt geben, weil sie selber haltlos geworden sind“33. Es ist die anthropologisch tief verankerte und zugleich zutiefst christliche Sehnsucht nach dem guten Hirten, welche die Menschen in der Krise Europas auf das Papsttum blicken lässt.

„Die Aura angespannter, mitunter distanzierter Zurückhaltung vor großem Publikum hat Benedikt auch in Köln nicht abgelegt, nicht ablegen können. Dass die Massen ihm dennoch zujubelten, dürfte ihn um so mehr gefreut haben. Denn die Begeisterung, die sich ausbreitete, wo immer er zu sehen war, galt in erster Linie dem Amt, das der Deutsche verkörpert: dass da einer ist, der die Einheit der über die gesamt Welt verstreuten Kirche, vielleicht sogar des Menschengeschlechts nicht nur symbolisiert, sondern auch aktualisiert“34. Der Papst machte durch seinen Stil deutlich: „Nicht die Person soll das Amt überformen, sondern das Amt die Person in Dienst nehmen“35. Dass die „Amtskirche“ unter „kritischen“ deutschen Katholiken schon lange ein pejorativer Kampfbegriff ist, zeigt insofern nur deren Realitätsverlust auf. Vielleicht kann die Begegnung mit der weltkirchlichen Wirklichkeit in Rom und Köln ihnen zu einem Stück mehr Bodenhaftung verhelfen – auf dem Felsen Petri. Zu fürchten steht allerdings, dass bei den meisten die alte deutsche Maxime siegen wird: „Wenn meine Ideen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen: Pech für die Wirklichkeit.“

Dr. phil. Andreas Püttmann aus Dinslaken ist Politikwissenschaftler und freier Publizist.

  • 1 Als Kardinal Frings nach einem Vortrag in Italien im Vorfeld des Konzils von Johannes XXIII. in den Vatikan gerufen und begeistert dafür gelobt wurde, ganz das ausgedrückt zu haben, was der Papst mit dem Konzil wolle, habe der Kölner Erzbischof geantwortet, er werde das Lob weiterreichen an den, der ihm die Rede geschrieben habe: Joseph Ratzinger, seinen theologischen Berater; insofern sei Benedikt XVI. „ein echter Konzilspapst“, meint Martin Lohmann: Der deutsche Konzilspapst. Benedikt XVI. ist weder progressiv noch konservativ, sondern katholisch, in: Münchner Merkur vom 19.8.05.
  • 2 Heinz-Joachim Fischer: Von Ratzinger zu Benedetto. Eine neue Generation ergreift Besitz von der Kirche, in: FAZ vom 25.8.05.
  • 3 Alexander Kissler: Der fremde Papst. Schlau aber hoffnungslos katholisch. Joseph Ratzinger und Deutschland. Eine zerrüttete Beziehung?, in: Süddeutsche Zeitung/Online-Ausgabe, 15.8.05.
  • 4 Fischer: Von Ratzinger zu Benedetto, a.a.O.
  • 5 Josef Isensee bei der Podiumsdiskussion „Zwischen Weltverantwortung und Transzendenzverlust“ des Kongresses „Freude am Glauben“ im Juni 2005 in Regensburg.
  • 6 Außer durch den Leserbriefschreiber Prälat Dr. iur. can. Peter Hilger in der FAZ vom 6.9.05 („Katholisch geworden“) unter Hinweis auf can. 205 CIC und LG 14. Dazu auch schon mein Artikel: Taizé auf dem Weg nach Rom?, in: Rheinischer Merkur vom 13.12.1991.
  • 7 Pressemitteilungen der Deutschen Bischofskonferenz: Grußwort von Karl Kardinal Lehmann am 21.8.2005 im Erzbischöflichen Priesterseminar, 3f.
  • 8 „Das Kreuz mit den Deutschen“ und „Glauben als Patchwork“, in: Der Spiegel 33/2005, 136-151.
  • 9 Kissler, Der fremde Papst, a.a.O..
  • 10 „Ketzer“ kamen, um zu gehen, in: Kölner Stadtanzeiger vom 19.8.05.
  • 11 „So entsteht nur ein faules Christentum“. Interview in der „tageszeitung“ vom 13./14.8.05.
  • 12 Daniel Deckers: Der Papst bleibt sich treu, in: FAZ vom 22.8.05.
  • 13 Kölner Stadtanzeiger vom 19.8.05.
  • 14 Zit. n. Gabriele Kuby: „Be-ne-detto!“ Schnell hörte der Pontifex die Fragen hinter der Begeisterung. Seine Antworten überzeugten, in: Rheinischer Merkur vom 25.8.05, 23.
  • 15 Jan Wördenweber: Menschenpyramide von Superpilgern, in: Kölner Rundschau vom 19.8.05.
  • 16 Nina Trentmann: Aussöhnen mit eigenen Fehlern, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 19.8.05.
  • 17 Siehe etwa Andreas Püttmann: Was der Staat an seinen Christen hat, in: Zeitschrift für politische Bildung/Eichholzbrief 4/1997, 65-74; ders.: Leben Christen anders? Befunde der empirischen Sozialforschung, Köln 1998.
  • 18 „Wer nicht glaubt, wird auch selig“ lautete die unpassende Überschrift des SPIEGEL 33/2005 über der Datenpräsentation.
  • 19 Der Spiegel 33/2005, 142 (Daten: TNS Infratest, Februar 2005).
  • 20 Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse AWA 2005. Bei zwei Items haben die nicht religiösen jungen Deutschen die Nase vorn: bei „hohes Einkommen“ (mit 49:37 Prozent) und bei „Spaß haben, das Leben genießen“ (76:67).
  • 21 Das Interview für Radio Vatikan dokumentierte KNA am 16.8.05.
  • 22 Franz Sommerfeld: Die Entdeckung des Glaubens. Gastkommentar im Deutschlandfunk, 19.8.05.
  • 23 Astrid Wirtz: Den Papst im Blick, weniger die Kirche, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 19.8.2005.
  • 24 Hubert Maessen: Papst Benedikt XVI. und der 20. Weltjugendtag in Köln, in: DLF („Themen der Woche“) vom 20.8.2005.
  • 25 Hans-Josef Joest: Das Beispiel der Jugendlichen, in: Kirche und Leben vom 28.8.05.
  • Ebd.
  • 27 Raimund Neuss: Der Papst gibt keinen Rabatt. Die ersten Auftritte von Benedikt XVI. in Köln: Charmant, bescheiden, bestimmt, in: Kölner Rundschau vom 19.8.05, 3.
  • 28 Ebd.
  • 29 Edo Reents: Ratzingers Lager. Der Papst und die Jugend in Köln, in: FAZ vom 22.8.05.
  • 30 Kuby, „Be-ne-detto“, a.a.O.
  • 31 Reents, Ratzingers Lager, a.a.O.
  • 32 Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse AWA 2005.
  • 33 Maessen, Papst Benedikt XVI., a.a.O.
  • 34 Daniel Deckers: Das Katholische sichtbar gemacht, in: FAZ vom 22.8.05.
  • 35 Ders., Der Papst bleibt sich treu“, a.a.O..

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